Große farbige Abbildungen bieten einen ansprechenden Einstieg. Unter dem Motto „Musik ist Vielfalt“ sieht man viele junge Musikerinnen und Musiker, die ihre Instrumente in der Hand halten; es ist das Bundesjugendorchester mit seinem Ehrendirigenten Simon Rattle. Das nächste Bild zeigt unter dem Motto „Musik hat Zukunft“ die Kleinsten vom MDR-Kinderchor bei einem Auftritt. Weitere Farbfotos beleuchten unter den Überschriften „Musik begleitet ein Leben lang“, „Musik berührt die Sinne“, „Musik eröffnet Neues“, „Musik bringt kulturellen Austausch“ und „Musik bewegt Menschen“ verschiedene vitale Funktionen der Tonkunst in unserem Leben. Sie deuten das breite Themenspektrum an, das in diesem Band zur Darstellung kommt.
Das vom Deutschen Musikrat und dem Deutschen Musikinformationszentrum (MIZ) gemeinsam herausgegebene Buch ersetzt den zuletzt 2006 veröffentlichten Musik-Almanach des MIZ, der sogar 1.400 Seiten umfasste. Anders als der damalige Almanach ist das neue Buch keine bloße Datensammlung, sondern ein Lesebuch. In 22 Kapiteln stellen kundige Autoren jeweils eine Sparte des Musiklebens dar, wobei sie sich auf die Entwicklung der letzten 5 bis 10 Jahre konzentrieren.
Christian Höppner, der Generalsekretär des Deutschen Musikrats, hebt in seiner Einführung den Zusammenhang von Föderalismus und kultureller Vielfalt hervor. Von den rund 10,4 Milliarden Euro, die im Jahr 2015 aus öffentlichen Mitteln für Kultur ausgegeben wurden, stammten nur 1,5 Milliarden vom Bund, dagegen 4,2 von den Ländern und 4,7 Milliarden von den Kommunen. Hinzu kommen Fördergelder von privaten Stiftungen, Sponsoren, Spenden und Mitgliedsbeiträgen, auch von den christlichen Kirchen. Mit diesem Geld werden unter anderem 129 Orchester und 83 Musiktheater finanziert. Wir erfahren, dass die Musikwirtschaft, welche ebenso die Amateurmusiker umfasst, mit einem Gesamtumsatz von 8,1 Milliarden Euro (2016) zu den bedeutenden Wirtschaftszweigen gehört. Auch im internationalen Vergleich kann sich das deutsche Musikleben damit sehen lassen.
Seine Qualität ist damit aber noch nicht automatisch dauerhaft gesichert. Es gibt eine wachsende Tendenz zu Einzelprojekten, zu Events, der, so Höppner, eine langfristig angelegte Strukturförderung entgegenwirken muss. Ihrer bedürfen nicht zuletzt die Kitas und Musikschulen, die oft immer noch unterfinanziert sind. Im Kapitel „Musik in der allgemein bildenden Schulen“ kommen weitere Problemfelder zur Sprache. So führt der Mangel an Musiklehrerinnen und -lehrern dazu, dass an Grundschulen nur 20 bis 30 Prozent des Musikunterrichts von Fachkräften durchgeführt werden; etwa 70 bis 80 Prozent werden fachfremd oder gar nicht erteilt. Eine Erhöhung der Studierendenzahlen für die Ausbildung von Musiklehrkräften ist also dringend notwendig. Dabei gibt es, so erfährt man im Kapitel „Ausbildung für Musikberufe“, an den 24 Hochschulen insgesamt eine wachsende Zahl von Studierenden. Sie zeigen ein gesteigertes Interesse für die Popularmusik- und Tonmeister-Ausbildung. Ein Modefach ist derzeit die Ausbildung zur Dirigentin, was zu einem Überangebot führen dürfte. Bei der Kirchenmusik und leider auch bei den Musikerziehern, zwei Berufsfeldern mit aktuell guten Berufsaussichten, schrumpfen dagegen die Studierenden-Zahlen.
Nicht weniger als 14 Millionen Amateurmusikerinnen und -musiker in Orchestern, Ensembles und Chören gibt es in Deutschland. In letzter Zeit trugen sie vermehrt auch zur Integration von Migranten bei. In Chören, besonders in Gospelchören, sind Frauen besonders stark vertreten. Auch bei den Orchestermusikern wächst der weibliche Anteil erheblich und liegt in der Altersgruppe zwischen 25 und 45 Jahren bereits bei über 50 Prozent. Allerdings ist die Zahl der meist unbefristeten Planstellen in den letzten Jahren deutlich gesunken. Betrug sie 1992 ca. 12.000, so lag sie 2018 nur noch bei etwa 9700. Diese Schrumpfung erklärt sich durch die Auflösung oder auch Fusionierung einzelner Orchester wie zuletzt beim SWR. Gleichzeitig hat sich aber die Zahl der Konzertveranstaltungen deutlich erhöht. Hierbei spielen auch die musikpädagogischen Aktivitäten der Orchester eine große Rolle. Immerhin 37 Prozent der insgesamt 13.800 Konzertveranstaltungen aller Orchester und Rundfunkensembles in der Spielzeit 2015/16 waren Veranstaltungen wie Kinder- und Jugendkonzerte, Schülerkonzerte und Workshops in den Schulen. Die Orchester füllen so teilweise die Lücken, die durch ausgefallenen Musikunterricht entstanden sind.
Es lohnt sich, in dem Buch hin und her zu blättern. Denn es gibt natürlich auch viele Querverbindungen und Überschneidungen zwischen den einzelnen Kapiteln. Von den musikpädagogischen Veranstaltungen der Orchester kommt man schnell zum Kapitel „Musikvermittlung“, zur Konzertpädagogik, die neue Besuchergruppen anwerben möchte. Zu diesem Zweck sind an den großen Konzerthäusern wie etwa der Elbphilharmonie neue Stellen eingerichtet worden. Im Kapitel „Konzerthäuser“ wird auf die neueröffneten Spielstätten in Hamburg, Dortmund und Bochum hingewiesen sowie auf die Projekte in München und Nürnberg. Die Berliner Philharmonie, die hier häufig als Modell diente, führt in ihrem Haus aber nur noch 20 Prozent Eigenveranstaltungen durch. Sie liegt damit weit zurück hinter dem Konzerthaus Berlin, der Tonhalle Düsseldorf und der Kölner Philharmonie. Auch bei den deutschen Musiktheatern gibt es die bedenkliche Tendenz, feste Ensembles vermehrt durch Gastengagements zu ersetzen. Dies ist eine Antwort auf die gestiegenen Personalkosten, die durchschnittlich drei Viertel des Etats verschlingen. Dabei überrascht, dass es in den deutschen Theatern viel mehr technisches Personal als künstlerische Mitarbeiter gibt.
Die digitale Welt dringt in fast alle Musikbereiche ein, auch in die zeitgenössische Musik, den Jazz und die Musikwissenschaft. Obwohl im Bereich der populären Musik Downloads und Streams die CD verdrängt haben, spielen Live-Events eine sogar wachsende Rolle und steigt die Zahl der Jazzmusiker. Weitere Kapitel beschäftigen sich mit Weltmusik, mit Freien Ensembles, Musik in der Kirche, Musik im Rundfunk, Musikwirtschaft, Musikinformation und -dokumentation und – last but not least – dem Deutschen Musikrat, der sich um die Rahmenbedingungen kümmert. Dieser voluminöse Band, der mit Texten, Schaubildern und Statistiken einen qualifizierten Überblick über alle Sparten des deutschen Musiklebens ermöglicht, ist ein spannendes Lesebuch für alle Musikinteressenten, nicht nur für Kulturpolitiker. Es wird dank öffentlicher Förderung zu einem sehr günstigen Preis angeboten.
- Musikleben in Deutschland, hrsg. v. Deutscher Musikrat/Deutsches Musikinformationszentrum (MIZ), Bonn 2019, 620 S., € 10,00 Versand- und Servicepauschale, ISBN 978-3-9820705-0-6, online bestellbar unter www.miz.org