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Peter Gülke: Von geschriebenen Noten zu klingenden Tönen, Bärenreiter/Metzler

Peter Gülke: Von geschriebenen Noten zu klingenden Tönen, Bärenreiter/Metzler

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„Vorläufige Ewigkeiten der Musik“

Untertitel
Peter Gülke über Musik von Dufay bis Lachenmann und ihre Interpreten
Vorspann / Teaser

Peter Gülke: Von geschriebenen Noten zu klingenden Tönen, Bärenreiter/Metzler, Kassel/Stuttgart 2024, 294 S., € 39,99, ISBN 978-3-662-68513-6

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Dieses Buch zeugt von einer lebenslangen Liebe und Auseinandersetzung als Dirigent und Musikwissenschaftler mit Musik, in der sicheren Überzeugung, es mit Kunstwerken zu tun zu haben, die man als „groß“ oder gar „ewig“ zu bezeichnen pflegt, weil sich Menschen darin auf eine Weise in Tönen ausgesprochen haben, die auch Jahrhunderte später eine in- und extensive ästhetische Erfahrung vermitteln. Peter Gülkes Auswahl jener – selbstironisch relativierten – „vorläufigen Ewigkeiten der Musik“ zwischen Dufay und Lachenmann folgt unbegründeten subjektiven Vorlieben. Bach, Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms und Mahler widmet der Autor jeweils zwei, drei oder gar vier Kapitel. Im 20. Jahrhundert folgen auf zwei Werke von Bartók nur noch Einzelbetrachtungen zu Janáček, Zemlinsky, Sibelius, Berg und Schostakowitsch. Kapitel über Friedrich Goldmanns „Essay III“ und Wilfried Krätschmars 6. Sinfonie verdanken sich nicht zuletzt persönlichen Begegnungen. 1934 in Weimar geboren und in Leipzig ausgebildet, wirkte Gülke als Orchester- und Theaterdirigent in Rudolstadt, Potsdam, Stralsund, Dresden und Weimar, bis er 1983 von einem Gastspiel in Hamburg nicht mehr in die DDR zurückkehrte.

Das Buch des heute Neunzigjährigen enthält 38 Kurzporträts von Werken des Mittelalters bis zur Gegenwart. Die Kapitel bauen weder thematisch noch methodisch aufeinander auf, so dass sie entgegen der Chronologie auch frei nach Interesse gelesen werden können. Gleichwohl gibt es leitende Fragestellungen. Zentrale Aspekte sind die von Komponisten geschaffenen „Distanzierungen zu routinehaften Wahrnehmungen“ (S. 100) sowie die Darstellung von Musikgeschichte als Diskurs- und Problemgeschichte, bei der Komponisten primär auf Werke, Techniken, Formen und Einzellösungen anderer Komponisten reagieren. Stellenweise überwiegen deskriptive Nacherzählungen von Harmonik, Themeneinsätzen und motivischer Verarbeitung, ohne dass daraus gezogene Erkenntnisse deutlich werden. Andere Thesen sind dagegen umso klarer formuliert und belegt. Haydns Anspielungen auf Mozarts „Jupiter“-Sinfonie in seiner B-Dur-Sinfonie Nr. 98, die dem Londoner Publikum 1792 unverständlich waren, deutet Gülke als privates Trauern des Älteren um den eben verstorbenen jungen Freund und Kollegen. Beethovens Klavierkonzert G-Dur beschreibt er als „komponierte Vereinsamung“ (S. 138). Und das Verhältnis Schuberts zu Beethoven charakterisiert er als veritable Leidens- und Kampfgeschichte des Jüngeren mit dem verehrten Vorbild und übermächtigen Konkurrenten, auf dessen „Schockwirkung“ der 9. Sinfonie jener mit der C-Dur-Sinfonie reagiert habe (S. 151). Als einzige Frau wird Emilie Mayer gewürdigt. Die 1812 geborene Komponistin habe in ihrer 1. Sinfonie in der Beethoven-Tonart c-Moll mittels ungewöhnlicher Themen- und Formbildungen als Einzige die direkte Auseinandersetzung mit dem „Titanen“ aufgenommen, vor dem alle anderen derselben Generation (Mendelssohn, Schumann, Chopin, Liszt, Wagner, Verdi) ausgewichen seien. Sibelius verteidigt Gülke gegen Adornos Schmähung als „hinterwäldlerischen Stümper, dem die Themen wie Babys von der Wickelkommode anstehender Verarbeitung fallen“, mit dem Hinweis auf Adornos unhinterfragte Übernahme von Mahlers Urteil über Sibelius’ „Valse triste“ als „Kitsch“ und „nationale Sauce“ (S. 216).

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Peter Gülke: Von geschriebenen Noten zu klingenden Tönen, Bärenreiter/Metzler

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Der Titel des Buchs benennt die unerlässliche Übersetzungsarbeit von Interpretierenden, die Musik immer wieder hier und jetzt einmalig zu Aufführung und Gehör bringen. Gülke porträtiert exemplarisch die Pianistin Dina Ugorskaja, den Pianisten Alfred Brendel, die Dirigenten Kurt Sanderling und Herbert Blomstedt sowie den Solobratschisten der Dresdner Staatskapelle Joachim Ulbricht. Im Schlusskapitel „Vor dem Auftritt“ gibt er seinen reichen Erfahrungsschatz sowie den anderer Dirigent*innen von Abendroth bis Zender und Joana Mallwitz mit vielen praktischen Tipps und Ratschlägen weiter. Generell setzen seine Ausführungen voraus, dass die Lesenden die besprochene Musik kennen, vielmals gehört und memoriert haben oder bei der Lektüre die Partituren zur Hand haben. Auf knapp dreihundert Seiten gibt es lediglich sieben Notenbeispiele und keinerlei sonstige Abbildungen zur Veranschaulichung der detailreichen Betrachtungen. Weder existieren Sach- und Personenregister noch bibliographische Angaben und Literaturverzeichnis, obwohl vereinzelt Autoren und Texte zitiert werden. Gülke geht es weniger um wissenschaftliche Korrektheit als vielmehr um die Mitteilung der Freude, Ernsthaftigkeit und Leidenschaft sowie seines immer wieder neuen Staunens im Umgang mit den „vorläufigen Ewigkeiten der Musik“.

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