Die posthume Vervollständigung kompositorischen Versiegens und fragmentarischer Bruchstückhaftigkeit bleibt ein Reizthema zwischen engagierten Autoren, ehrgeizigen, aber auch kritisch-sensiblen Musikologen, zwischen Interpreten und einem Publikum, das sich nicht selten überfordert fühlt, einen Reim auf das ästhetische und nicht selten auch handfest kommerzielle Treiben mit der unvollendeten Vergangenheit zu machen. Der jüngste Fall - nämlich Edison Denisovs Ergänzung des Schubertschen Lazarus-Fragments (D 689) - dürfte eher die warnenden Stimmen bestätigen, doch von alten, gleichsam liegengebliebenen Materialen gefälligst die Finger zu lassen. Und dies vor allem dann, wenn die rekonstruktiven, bzw. ergänzenden Maßnahmen weit über das Maß von aufführungspraktischen Hilfestellungen im Bereich des vorhandenen Materials hinauszielen.
Edison Denisov hat es mit Franz Schuberts und August Hermann Niemeyers Religiösem Drama sicher grundehrlich gemeint, wenn er 1995 zur Vervollständigung des Lazarus oder Die Feier der Auferstehung seine eigene Schreibweise nicht zu verleugnen bereit war. Denisov äußert sich zu diesem Projekt in Anregung des Dirigenten Helmuth Rilling, in dessen Arbeitsrahmen ja immerhin die Komposition des gesamten dritten Aktes zur Diskussion stand: „Im Stile Schuberts wollte ich nicht schreiben - ich glaube, so etwas ist auch ganz unmöglich. Es wäre fraglos der falsche Weg gewesen, ohne Schuberts Begabung seinen ureigenen Stil nachbilden zu wollen.“ Man fühlt sich aufgefordert, den Hut zu ziehen. Respekt! Ein zeitgenössischer Komponist, der sich der Aufgabe, ihrer Problematik und Chancen bewußt ist. Doch Schubert, wie zu hören ist ab Takt 595 in der Martha-Arie des zweiten Aktes, wehrt sich auch im Umfeld seines 200. Geburtstages gegen den Versuch, ihn weiterzudenken, ihn für den aufführungspraktischen Normalfall gewissermaßen auszustaffieren. Es bleibt der unangenehme Eindruck gestörter Friedhofsruhe und der postkreativen Vorwitzigkeit, zumal sich Denisov - entgegen seiner Ankündigung! - nicht scheut, Schubertsche Formeln mit einiger Impertinenz in das Widerspiel der musikalischen Kräfte des dritten Aktes einzuführen (oder genauer noch: aufzuwärmen). Da schmeckt es unter Umständen schon sehr nach „Ava Maria“-Sirup und „Ständchen“-Konfitüre. Da schimmert und wimmert es nach süßlichen Rezepturen, als hätten sich die von Niemeyer formulierten Himmelsharmonien unter dem Dreimäderlhaus-Dach geschäftstüchtiger Schubert-Verzerrung eingefunden. Kitsch, wir wissen es, bleibt ein dehnbarer Begriff.
Doch in Denisovs modischem Faltenwurf Schubertscher Garderobestücke scheint der Begriff in seiner unrühmlichsten Bedeutung aufgehoben zu sein. Zur Stuttgarter Weltpremiere auf Schallplatten unter der Leitung des Stichwortgebers Helmuth Rilling ist vermutend anzumerken, daß sich die beteiligten Ensembles und die Vokaldarsteller mit aller Fairnis und vielleicht auch mit einer aus der Studierpraxis gewachsenen Überzeugung ans Werk gemacht haben. Ich könnte mir die originalen Teile herber, fahler empfunden vorstellen, aber solche Nuancen von Eindringlichkeit hätten wohl Denisovs Perspektive noch stärker ins farbliche und fachliche Abseits gerückt.
Das angeschnittene Thema paßt zu einer Neuaufnahme der Klaviersonate in C-Dur (D 840) mit dem jungen Pianisten Andreas Lucewicz. Nicht anders als sein gelegentlicher Duopartner (und Mentor) Sviatoslav Richter, spielt er die beiden unvollendeten Sätze Nr. 3 und 4 ohne elminierendes Wenn und ohne rekonstruktives Aber als Fragmente. Lucewicz feiert und beklagt den rätselhaften Vorgang schöpferischen Abbrechens, indem er den pianistischen Griffel als klingend-ersterbende Metapher im Andenken an Schubert gleichsam an der Hand fallen läßt. Die im ersten Satz von fieberhafter Festlichkeit klavierorchestral getragene, bald massive, bald durchsichtige Darstellung knüpft spürbar an Richters auf Philips und auf Le chant du monde überlieferten Deutungen an. Indes ist Lucewicz Manns genug, seinem Vorbild nicht wie ausgeliefert hinterher zu spielen, sondern mit jener Verehrung, die auch der Eigeninitiative im Detail zum Durchbruch verhilft. Das Programm dieser CD bestätigt auch, wie ein nachdenklicher Virtuose auf Bezüge und tonartliche Spannungsverhältnisse achtet: die erwähnte Sonate, die Wanderer-Fantasie und die selten beachteten Hüttenbrenner-Variationen stehen in vieler Hinsicht untereinander in Beziehung, sodaß der Hörer nicht nur fesselndes Einzelnes erfährt, sondern sich in ein musikalisches Klima, in Verwandschaftsverhältnisse eingeführt fühlt. Aus Gründen der CD-Spieldauerkapazität hat Lucewicz auf die Kopfsatzwiederholung der C-Dur-Sonate verzichtet - eine zweite CD wäre notwendig geworden. In dieser Hinsicht hat man sich in der Direktion des Labels Opus 111 zur Großzügigkeit entschlossen.
Grigory Sokolovs todernste, gleichwohl in konventionellen Zeitmaßen bewegte Helsinki-Mitschnitte der Sonaten D 894 und D 960 (Helsinki 1992) überschreiten nämlich die 80-Minuten-Grenze einer CD nur um Weniges. So werden sie nun als eine der tiefsinnigsten, unbequemsten Schubert-Aufnahmen dieser Monate im Doppelpack angeboten - sozusagen als klingendes, rumorendes Mahnmal für alle jene Interpreten, die es mit Schubert allzu gefällig und feuilletonistisch halten.
Wie zum Beispiel der deutsche Pianist Dirk Joeres, dem die bei Lucewicz so wertvoll, ja fortschrittlich anmutenden Hüttenbrenner-Variationen wie eine Operetten-Suite für Klavier von der Hand klappern. Immerhin bietet Joeres neben Lieblingsstücken auch das Klavierstück D 604, aber vor die Entscheidung gestellt, zwischen hölzern übermittelten Raritäten und einfühlsam timbrierten Hits auszuwählen, entscheide ich mich dann doch gerne für die erprobten Partituren. Insofern ist Elisabeth Leonskajas Aufnahme der beiden Impromptus-Serien besonders willkommen, denn selten sind die Sammlungen D 899 und D 935 so innig, so stolz gesteigert und so weiblich/männlich angefaßt und verschenkt worden wie in dieser fast schon weihestündlichen Vorführung.
Was die Schubertschen Messen anbelangt, sollte sich der Schubert-Freund noch etwas gedulden, bis die angekündigten Harnoncourt-Einspielungen greifbar sind. Die bei Capriccio verlegten Aufnahmen unter Haselböck und Creed sind mir in der klanglichen und sprachlichen Ausformung zu dürr und zu beiläufig proportioniert. Mängel, die auch für Hans Rosbauds historische Aufnahme der großen C-Dur-Sinfonie wertmindernd sind, selbst wenn der Name eines bedeutenden Verkannten der klassisch-romantischen Literatur ein energisches Gegenkonzept zu landläufigen Interpretationsmustern verspricht. Die Wiedergabe Schubertscher Sinfonien steht und fällt zunächst einmal mit dem instrumentalen Niveau eines Orchesterkollektivs. Hier sind die Wiener Philharmoniker dem Sinfonieorchester des Südwestfunks Baden-Baden markant überlegen. Auf einem anderen Blatt steht freilich geschrieben, daß sich die Wiener im Vergleich zu ihren deutschen Kollegen nur andeutungsweise mit der jeweils aktuellen Musikproduktion auseinandergesetzt haben. Ein analytischer, schonungsloser Werkzugang ist einem problembewußten Schubert-Verständnis förderlich, schöner, seidiger Streicherklang, weiche, gleitende Bläsereinsätze stören jedoch keineswegs die Rechtschaffenheit einer Deutung. Aufnahmen mit den Wiener Philharmonikern unter Pierre Monteux und Josef Krips erinnern an diese Umstände, wobei die Einspielungen mit dem London Symphony Orchestra unter Kertesz vor jeder nationalmusikalischen Überheblichkeit warnen, denn auch auf englischem Boden wurde und wird Schubert anschaulich und kalorienreich zubereitet.
Zwei Versionen des hochexpressiven Notturno-Satzes für Klaviertrio markieren Extremhaltungen von Interpreten der mittleren Generation und des reifen Nachwuchses. Scheu, fast ein wenig verlegen klingt der Satz in der Aufnahme mit Andreas Haefliger und Mitgliedern des ungarischen Takacs-Quartetts, dessen Aufnahme des großen G-Dur-Werks (D 887) es an letzter Entschlossenheit auf allen Mitteilungsebenen fehlt, direkt, unverblümt hingegen unter den Händen des Wiener Altenberg Trios. Es liegt sicher auch an der überpräsenten Aufnahmekalkulation, daß dieses Stück und die ungekürzte Fassung des Es-Dur-Trios im Forte und im Brio wie ein Sperrfeuer von lärmender, aggressiver Brillanz an wirklicher Durchschlagskraft einbüßt. Im Kampf gegen jede falsche Sentimentalität paktiert man unversehens mit den Qualitäten von Kaltschnäuzigkeit und Hartherzigkeit.
Freilich: hört man diese Altenberg-Einspielungen im Zusammenhang mit den Kagel- und Widmer-Interpretationen, dann ist man schon eher gewillt, Schubert als Vorläufer einer gereizten, stilistisch und von der Botschaft her opponierenden Subjektivität zu erfahren. Schubert mithin als Vorgriff auf Heutiges, Kagel als zeitgemässe Möglichkeit, sich im Ausdruck und im kammermusikalischen Vorhaben der Vergangenheit zu bemächtigen und zugleich sich derselben zu entledigen. Ein wenig mehr Wärme könnte nicht schaden. Jene Wärme beispielsweise, die in den Cello-Transkriptionen der Violin/Klaviersonatinen mit Peter Wispelwey und Paolo Giacometti angesprochen und angesungen wird, ohne daß deshalb ein Defizit an notenstatistischer Sachdurchdringung zu beklagen wäre. Nicht jeder Hörer wird sich die Zeit nehmen können, Schuberts Echo in Einzelausgaben nachzuspüren - zumal das ja auch eine Kostenfrage ist. Deshalb erscheint es angebracht, auch eine 20-CD-Kassette Schubert - Meisterwerke hinzuweisen, die herausgeberische Sorgfalt mit personeller Attraktivität verbindet und in überwiegend Interpretationen einen guten Teil des Schubert-Repertoires zum hörenden Nachschlagen bereitstellt.
Der Deutschen Grammophon ist es zu danken, hier so wegweisende Darbietungen wie jene des Duos Kremer/Afanassiev und des Schubert-Klavierlyrikers Wilhelm Kempffs mit zuverlässigen Aufnahmen Karl Böhms, Claudio Abbados oder des Melos Quartetts zu einem Schubert-Kompendium zusammengefaßt zu haben, in dessen Räumen auch Problemkinder des DG-Repertoires noch sicher aufgehoben sind. So etwa die immer etwas zu tief angesetzten Vokalbekenntnisse Hermann Preys (Schwanengesang) oder die für meine Begriffe etwa zu abgebrüht intonierten Beispiele aus der Sicht des Pianisten Daniel Barenboim. Diskographie Bestellnummer, Titel Capriccio 49080 7 (2 CD) Messen G-Dur D 167, C-Dur D 452 und Es-Dur D 950, Deutsche Messe D 872, Tantum ergo D 739; Ildiko Raimondi (Sopran), Elisabeth Lang, Bernarda Fink (Alt), Helmut Wildhaber (Tenor), Klaus Mertens (Baß) u.a.; Rias-Kammerchor, Hugo Distler Chor; Radio-Sinfonieorchester Berlin, Wiener Akademie, Marcus Creed, Martin Haselböck Hänssler 98.111(2 CD) Lazarus D 689 (Fragment - Ergänzung von Edison Denisov); Sibylla Rubens, Camilla Nylund, Simone Held (Sopran), Nadja Michael (Alt), Scot Weir, Kurt Azesberger, Christian Voigt (Tenor), Matthias Görne (Baß); Gächinger Kantorei Stuttgart, Bach-Collegium Stuttgart, Helmuth Rilling; Wergo 6405-2 Sinfonie C-Dur D 944; SWF-Sinfonieorchester, Hans Rosbaud; Decca 452 390-2 (2 CD) Sinfonien Nr.4,5,8 und 9, Auszüge aus „Rosamunde“ D 797; London Symphony Orchestra, Wiener Philharmoniker, István Kertész, Josef Krips, Pierre Monteux; Teldec 4509-98438-2 Impromptus D 899 und D 935; Elisabeth Leonskaja (Klavier); OPS 30-148 (2 CD) Sonaten G-Dur D 894 und B-Dur D 960; Grigon Sokolov (Klavier); Opus 111 EIGENART/Tacet 10130 Wanderer-Fantasie D 760, Hüttenbrenner-Variationen D 576, Sonate C-Dur D 840; Andreas Lucewicz (Klavier); IMP Classics 30367 01742 Deutsche Tänze D 820, Valses nobles D 969 (+ Brahms, Walzer op. 39, Dvorak, Walzer op. 54); Dirk Joeres (Klavier); IMP Classics 30367 01832 Klavierstück D 604, Variationen D 576, Moments musicaux D 780, Impromptus D 899; Dirk Joeres (Klavier); Vanguard classics 99134 Klaviertrio Es-Dur D 929, Adagio (Notturno) D 897; Altenberg Trio Wien; Decca 452 854-2 Streichquartett D 887, Adagio (Notturno) D 897; Andreas Haefliger (Klavier); Takács Quartett; Channel classics CCS 9696 Sonate a-Moll D 821 „Arpeggione“, Sonatinen D 384, 385 und 404 (Transkriptionen für Cello und Klavier); Peter Wispelwey (Cello), Paolo Giacometti (Klavier); DG 453 660-2 (20 CD) Schubert - Meisterwerke (Sinfonien Nr.1-6, Nr.8, Winterreise, Die schöne Müllerin, ausgew. Kammermusik, ausgew. Klavierwerke, Messe D 950, Chorwerke, Lieder); Gidon Kremer (Violine), Daniel Barenboim, Wilhelm Kempff, Christoph Eschenbach, Valery Afanassiev u.a. (Klavier); Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey (Bariton), Gundula Janowitz (Sopran), Melos Quartett; Berliner Phiharmoniker, Wiener Philharmoniker, Karl Böhm, Claudio Abbado; Vanguard classics 99135 Kagel, Klaviertrio (1984/85), E.Widmer, The Last Flower op. 60; David Cameron (Erzähler); Altenberg Trio Wien;