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Russische Klavier-, Tanz- und Filmmusik
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Wayne Stahnkes elektronischem Reproduktionsklavier verdanken wir bereits eine Zusammenstellung mit Rachmaninoff-Aufnahmen (Telarc 80489). In der näheren und etwas weiter zurückliegenden Plattenvergangenheit waren diese Aufnahmen in überwiegend problematischen Überspielungen zugänglich. Dies lag in erster Linie am Zustand der betreffenden Instrumente, wobei es durchaus vorkommen konnte, dass der Herausgeber sich nicht einmal um eine ordentliche Stimmung bemüht hatte. Stahnke jedoch ist bei der Restaurierung von Rachmaninoffs Klavierkunst viel weiter gegangen.Er ging davon aus, „dass die in Rachmaninoffs Musikrollen eingebettete Darbietung durch eine Reihe elektronischer, mathematischer und mechanischer Verfahren wieder ins Leben gerufen werden kann.“ Die zweite Folge dieses Projekts (leider auf der Telarc-CD nicht als solche gekennzeichnet!) bestätigt Stahnkes Bestreben und konfrontiert den staunenden Hörer erneut mit einem reinen, expansionsfähigen, insgesamt lebendigen Klavierklang. Noch nie war Rachmaninoff mit all seiner künstlerischen Suggestivkraft so nah und so greifbar zu hören wie hier, auch wenn manche Hölzernheit der Phrasierung immer noch Rätsel aufgibt, inwieweit die Rollentechnik der Urgroßväter dem Werken und Wirken des Großen von einst tatsächlich gerecht wurde. Dennoch: wann immer man heute Rachmaninoffs geniale Kleinkunst mit Klavierkapriolen von Henselt, Rubinstein, Tschaikowsky oder kleinen Unvergänglichkeiten von Bach, Chopin oder Schubert bewundernd nachvollziehen möchte, dann geht kein Weg an Stahnkes Revitalisierungen vorbei. Waren die ersten Chandos-Aufnahmen noch verhältnismäßig hallig – womöglich einem britischen Klangideal angepasst! –, so überzeugt diese Skrjabin-Kombination durch satte, dennoch präzis definierte Farben und klare Räumlichkeit. Der Klavierklang wirkt etwas gedeckt, doch wird dies durch Viktoria Postnikovas impulsscharfes, in jeder Phase bedachtes und zugleich aufgewecktes Spiel aufgefangen. Für alle drei Stücke findet sie überzeugend einen ganz bestimmten Tonfall, stimuliert im Prometheus aus dem Unter- und Hintergrund heraus im Sinne obligater Exzessivität. Im Klavierkonzert begeht sie weder den Fehler von Artur Pizarro, post-chopinsche Eleganz mit Sittsamkeit zu verwechseln, noch sucht sie – wie zuletzt Ugorski (DG) – aus konzertanten Geschmeidigkeiten ein zweites Poème de l’extase herauszuwuchten. Nach und neben der alten Zhukov-Aufnahme und als Diskussionsstoff zur etwas milder gestimmten Ashkenazy-Version von 1971 zählt diese Variante zu den führenden Konzert-Darstellungen. Von Interesse ist zudem Rozhdestvenskys Auseinandersetzung mit der Fantasie für zwei Klaviere. Die bis jetzt zugängliche Singer-Orchestrierung (von der Zhukov-LP bekannt) hat somit Konkurrenz bekommen – und dies mit guten Chancen auch von der Kollegenschaft berücksichtigt zu werden. Ashkenazys Gesamtaufnahme von Schostakowitschs 24 Präludien und Fugen op. 87 kommt zu einer Zeit, da sich auf Schallplatte auch sein finnischer Kollege Olli Mustonen mit dem Zyklus beschäftigt. Die gestalterischen Gegensätze könnten kaum größer sein! Zwischen Mustonens auszugsweiser, dabei historisch sinnerhellend mit Bach gekoppelter Einspielung (RCA/BMG 74321 61446 7) und jener seines um gut drei Jahrzehnte älteren Kollegen Vladimir Ashkenazy liegen vom darstellerischen Ansatz her und auch im Bereich des klavieristischen Selbstverständnisses wahre Welten. Mustonen hatte die verschiedenen Stückcharaktere erst kürzlich mit spitzer, vergnüglicher Zunge formuliert, ließ die tänzerischen Formationen – gewissermaßen in stilistischer Nachbarschaft zu den kleinen Präludien op. 34 – hurtig, frech vorüber frotzeln. Ashkenazy bevorzugt einen ernsten, gehaltenen Grundton, orientiert sich an der akademischen Strenge fugierter Altertümlichkeit. Dadurch wird der Absolutheitsanspruch von Musik in den Vordergrund gestellt, es besteht aber auch seitens des Hörers die Gefahr, bei längerem Zuhören das Interesse zu verlieren. Sviatoslav Richter hatte in dieser Gefahrenzone von expressiver Überzeichnung und nachschöpferischer Neutralität wohl den überzeugendsten Mittelweg gefunden – leider aber nur einen Teil der Werkgruppe einstudiert und vorgetragen. Dennoch wird man Ashkenazys Meinung respektieren müssen, zumal sie für ein geregeltes Mitlesen auch eng gesetzter Vielstimmigkeit sehr förderlich ist. Die Zeiten in der Bewertung musikalischer Ausdrucksformen sind liberaler geworden. Als in sowjetrussischen Ersteinspielungen vor mehr als 20 Jahren eine vier Langspielplatten umfassende Kassette mit sieben Filmmusiken Schostakowitschs in den Handel kam (Melodia /Eurodisc 28665 XHK), da rümpften viele Rezensenten die Ohren, erklärten sich stramm gegen seichte, anpassungswillige Formen der Unterhaltungsmusik und wurden es auch nicht müde, Schostakowitschs polit-ästhetischen Schlingerkurs anzuprangern. Diese Diskussionen haben sich zum Glück längst totgelaufen. Und heute wird es auch niemandem mehr verübelt, wenn er die weitschwingende, hemmungslos sentimentale Romanzen-Kantilene aus der Hornisse nicht nur in den heimlichen vier Wänden als ergreifend erachtet. Auch Gidon Kremer hat sie jüngst im Rahmen einer Cinema-Zusammenstellung für seine Zwecke genutzt (Teldec). Riccardo Chaillys klug gebautes, als themenübergreifende Konzertsuite konzipiertes Auswahlprogramm aus acht Filmmusiken knüpft an die erfolgreichen Schostakowitsch-CDs mit Jazz- und Tanz-bezogenen Titeln an (Decca 433 702-2 und 452 597-2). Der Herausgeber meldet stolz, dass diese Alben weltweit bereits mehr als 300.000 Mal verkauft worden seien. In diese Region dürfte auch die vorliegende Edition vorstoßen. Aus dem kleinen Kreis der verfügbaren Alternativaufnahmen ragt sie nicht nur hinsichtlich der schon erwähnten Programmdramaturgie heraus, sondern auch im Bereich der klanglichen, rhythmischen und spielmotorischen Brillanz. Chailly und das Royal Concertgebouw Orchestra scheuen sich nicht, dramatische Elemente bis zur bildhaften, knallbunten Gewöhnlichkeit auszukosten. Wenn nötig wird mit dickem Pinsel aufgetragen, aber es wird auch in zartesten Pastelltönen an die weiblichen, verletzlichen Elemente der betreffenden Vorlagen erinnert. So sind diese Darbietungen nicht nur eine Quelle intelligenten, musik- und filmgeschichtlich beziehungsreichen Genusses, sondern auch der doppelte Anstoß, erstens die uralte Kunst- und Kitschdiskussion auf hohem Niveau wieder einmal aufzugreifen und zweitens sich erneut die Frage zu stellen, ob die Neue Musik des 20. Jahrhunderts durch dodekaphonische, serielle, minimalistische oder elektroakustische Techniken nicht doch als etwas zu einseitig definiert wird. Zweifellos ist Nikolai Tcherepnins Ballettmusik „Narcisse et Echo“ tatsächlich eher für den aufmerksamen, im Stillen und Milden recherchierenden Hörer geeignet. Der amöne, zum Ende hin besonders statische Verlauf – in vielen seidigen, defensiven Passagen verwandt mit Ravels „Daphnis et Chloe“! – forderte schon bei der Uraufführung mit Tamara Karsawina und Waslaw Nijinsky in den Hauptrollen zu kritischen Einwänden heraus. Im Auftrag für die berühmte Diaghilew Truppe hatte sich Tcherepnin mit diesem griechisch-mythologischen Stoff resolut vom Nummernballett alten Typus’ distanziert. Er lieferte eine sozusagen narrative Musik von schimmernder, leuchtender, impressionistisch malerischer Diktion unter Aussparung derber dramatischer Effekte. Für den Hörer dieser koloristisch und atmosphärisch feinstufigen Gesamtaufnahme mit den führenden Vokal- und Instrumentalvereinigungen aus Den Haag spielt dieser Mangel an kräftigen Akzenten keine Rolle. Folglich wird er auch die ausgedehnte Schlussentwicklung in ihrer milden Friedfertigkeit als Einladung zur lauschenden Kontemplation begrüßen. Für die Tanz- und Bühnenpraxis indes gilt auch weiterhin, was Robert Taylor in Erinnerung an die Uraufführung treffend umreißt: „Das Hauptproblem lag darin begründet, dass sich Narcissus im letzten Viertel des Balletts kaum noch von der Stelle bewegt, während er sein Spiegelbild im Teich bewundert...“. In der umfangreichen Diskographie des Dirigenten Gennady Rozhdestvensky ist diese Tcherepnin-Erstaufnahme, mit Verbindungsbrücken zu Strawinskys Feuervogel,eine der auffälligsten Initiativen. Peter Cossé Diskographische Hinweise * A Window in Time – Rachmaninoff – Bach, Chopin, Mendelssohn Bartholdy, Paderewski, Schubert und andere; Sergei Rachmaninoff (Bösendorfer 290 SE Reproducing Piano); Telarc CD-80491 * Skrjabin: Klavierkonzert op. 20, Prometheus op. 60, Phantasie für Klavier und Orchester (arr. Rozhdestvensky); Viktoria Postnikova (Klavier); Netherlands Theatre Choir, Residentie Orchestra The Hague, Gennady Rozhdestvensky; Chandos 9728 * Schostakowitsch, 24 Präludien und Fugen op. 87; Vladimir Ashkenazy (Klavier); Decca 466 066-2 (2 CD) * Schostakowitsch, The Film Album – Auszüge aus The Counterplan, Alone, The Tale of the Silly Little Mouse, Hamlet, The Great Citizen; Sofia Perovskaya, Pirogov, The Gadfly; Royal Concertgebouw Orchestra; Leitung: Riccardo Chailly; Decca 460 792-2 * Tscherepnin: Narcisse et Echo op. 40; The Hague Chamber Choir Residentie Orchestra The Hague; Leitung: Gennady Rozhdestvensky; Chandos 9670

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