Schriftlichkeit und Notation zwecks Überlieferung und Selbstvergewisserung ist eines der Hauptmerkmale europäischer Kultur, mit der Besonderheit, dass die Fähigkeit, dieses Wissen zwecks Menschen-, Geld-, Waren- und sonstigem Verkehr in „Machttechniken“ zu operationalisieren, Europa über Jahrhunderte hinweg eine überragende Machstellung in der Welt sicherte. Seit einiger Zeit nicht mehr, denn das Wissen und die Techniken haben die Alte Welt längst schon verlassen. Heiner Müllers „Hamletmaschine“ hatte bereits 1977 „im Rücken die Ruinen von Europa“, während die Neue Deutsche Welle mit Geier Sturzflug noch 1983 munter sang: „Besuchen Sie Europa, solange es noch steht“.
Überlieferung und Selbstvergewisserung sind auch wesentliche Impulse für diese voluminöse „Kulturgeschichte der europäischen Musik“, die Gernot Gruber quasi als Summe einer langen und fruchtbaren Laufbahn als Musikhistoriker vorgelegt hat – ausdrücklich in einer Zeit, wie er zum Schluss schreibt, wo es fragwürdig erscheint, ob und wie der alte Kontinent sich überhaupt überliefern wird. Die Perspektive, die er dabei einnimmt, ist denkbar weit abgesteckt, reicht, salopp gesprochen, von der Stein- und der Eisenzeit bis Globokars „Eisenberg“, mit Seitenblicken auf die Populärkultur oder, bloß damit das Bild stimmt: die Stones oder Iron Maiden. Eine die Jahrtausende überblickende Schau von der Urgeschichte bis zum aktuellen Pop jedoch vermag womöglich gar nicht anders, als bei der Gratwanderung zwischen Differenz und Identität in Richtung der letzteren einzuschlagen – sonst ginge sie in den Differenzen unter.
Diese kann Gruber in der schieren Masse des Materials nur anreißen, um Kohärenzen geht es ihm eher als um Brüche, und so notiert er zwar allerhand historische Zwiespalte und Widersprüche abendländischer Musik, welche dann aber doch nur den kontrastierenden Hintergrund geben für das figurative Inkarnat einer europäischen Musik – was etwa beim Jazz oder der Popmusik die historische Lage in ihr Gegenteil verkehrt.
Man könnte noch einwenden: Dass die Historizität der Phänomene selbst, ob Europas oder der Musik, nicht ausführlicher problematisiert wird; dass der Band vielleicht zu wenig up-to-date ist hinsichtlich kulturgeschichtlicher Theoriebildung …
Aber warum? Schon wenn jemand buchstäblich alles in den Blick nimmt, gerinnen ihm die Einzelheiten zu Petitessen. Da aber wird man einigermaßen entschädigt durch eine stupende Belesenheit sowie durch die flüssige Erzählung. Ja, Gruber will tatsächlich „seine“ Kulturgeschichte einer oder seiner europäischen Musik „erzählen“, wobei er wohl die gerade noch vorhandenen Liebhaber eher als die wenigen Kenner adressiert. Und der Liebhaber kann es nicht genug geben, allein wenn man etwa bedenkt, mit welcher Vehemenz zurzeit die geschäftsführenden öffentlich-rechtlichen Abrissbirnen am Kulturbegriff des Rundfunks sämtliche historischen Gegenstände planieren zugunsten einer schieren Gegenwart in bunter Bewusstlosigkeit.
Auch wenn’s nur darum ginge: Wissen kann man nie genug. So auch vermittels dieser einen Geschichte.
- Gernot Gruber: Kulturgeschichte der europäischen Musik. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bärenreiter/Metzler, Kassel/Berlin 2020, 832 S., Abb., € 49,99, ISBN 978-3-7618-2508-2