Auf dem Höhepunkt seiner Karriere zählte Hendrik Andriessen zu den renommiertesten niederländischen Organisten seiner Zeit – und hier wiederum genoss er vor allem als fantasievoller Improvisator einen ausgezeichneten Ruf. Viele seiner komponierten Orgelstücke basieren auf Improvisationen.
Dabei bildet die Orgel keineswegs den einzigen Schwerpunkt im Oeuvre des 1892 in Haarlem geborenen und dortselbst 1981 gestorbenen Komponisten: je vier Opern und Sinfonien, Konzerte, Chor- und Kammermusik und anderes mehr stehen auf seiner Werkliste.
Gleichwohl ist es vor allem Andriessens Orgelmusik, die ihn auch jenseits der niederländischen Grenzen in bleibender Erinnerung hält – auch wenn wenig von ihr ins gängige Konzertrepertoire eingegangen ist. Das könnte (und sollte) sich ändern angesichts der Einspielung, mit der Benjamin Saunders, Organist der Kathedrale von Leeds, an „seinem“ Instrument sechs große und zwei kleinere Orgelkompositionen von Andriessen präsentiert.
Da wären die Vier Choräle – wer da gleich an César Franck und dessen Trois Chorals denkt, liegt nicht falsch. Denn es ist die französische Romantik, an der Andriessen sich orientiert. Und dies zu einer Zeit, da sie in seiner Heimat so gut wie noch nicht bekannt war. Der Premier Choral von 1913 wirkt wie ein später Gruß an den Pariser Meister von Sainte Clotilde, der Deuxième Choral von 1916 verrät schon Andriessens Entwicklung hin zu einer eigenen Tonsprache, die er dann in den beiden folgenden Chorälen (1920/1921) weiter ausbildet. „Verstiegene“ Harmonik steht neben herber Lyrik, momenthaft scheint Charles Tournemires Klanglichkeit auf (Andriessen hat ihn 1920 in Paris besucht).
Wenig später blickt Andriessen mit seiner Sonata da chiesa zurück auf die barocke Formtradition und Registrierpraxis. In dieser Sonata, die nichts anderes als einen sechsteiligen Variatonszyklus darstellt, wird seine Sprache „einfacher“ – was auch gilt für das über zwanzig Jahre später geschriebene Thema met Variaties, der englischen Organistin und Uraufführungs-Interpretin Susan Jeans gewidmet.
Benjamin Saunders hat ein äußerst sensibles Ohr für die verschiedenen Ästhetiken dieser Musik, macht sie lebendig und absolut hörenswert und ist ihren technischen Anforderungen mühelos gewachsen. Das von der Bonner Orgelbauwerkstatt Klais errichtete Instrument aus dem Jahr 2010 (fünf Manuale und Pedal, 49 Register), in das auch Material der Vorgänger-Orgel von 1904 eingeflossen ist, spricht deutlich englischen Akzent. Es steht im Chorraum der Kathedrale und ist quasi „um die Ecke“ gebaut, beschallt somit sowohl das Hauptschiff der Kirche als auch den Chorraum. Nicht ganz einfach für die Aufnahmetechnik!
Die acht Textseiten des Booklets liefern nur spärliche Informationen sowohl über den Komponisten, seine Werke als auch die Orgel – schade! Aber es lohnt, sich mit Andriessens Biografie und dem Oeuvre dieses katholischen (!) Organisten aus den Niederlanden auseinanderzusetzen, der sich geweigert hat, der Nazi-deutschen „Kulturkammer“ beizutreten und dafür mit Auftritts- und Aufführungsverbot belegt wurde.
Hendrik Andriessen (1892-1981): The Four Chorals and Other Organ Music. Benjamin Saunders an der Orgel der Kathedrale von Leeds (UK). Brilliant Classics 94958