Pianist Ulrich Gumpert hat seine eigenen Erfahrungen mit dem vielstrapazierten Seemannslied „La Paloma“ gemacht. Da löste es einst nicht selten Tumulte aus, wenn Gumpert mit seiner Band dem freien Spiel huldigte und auch mal Stücke wie John Coltranes „Impressions“ interpretierte. Als letzte Waffe gegen zu viel Protest half es nur noch, den uralten Welthit anzustimmen, mit dem Hans Albers 1944 an Front und Heimatfront die Herzen wärmen half. Zur Besänftigung all jener, deren Ohren in Sachen in Sachen Avantgarde noch nicht geöffnet waren. (Oder auch heute nach wie vor nicht sind…)
Günter „Baby“ Sommers Traumatisierung in Sachen „La Paloma“ ist ähnlich gelagert. Im Alter von 14 Jahren, so verraten die Liner Notes des neuen gleichnamigen Intakt-Albums, hatte der Schlagzeuger schon genug von seinem Engagement bei den „Radebeuler Tanzrhythmikern“, wo das Seemannslied ebenfalls zu den ewig rauf und runter gespielten Pflichtstücken gehörte. Sommer ergriff die Flucht mittels Sprung aus dem Toilettenfenster, um sich fortan auf Jazz, Blues und Boogie, Hardbop und später Freejazz zu stürzen.
Längst sind Gumpert und Sommer erwachsen geworden und können augenzwinkernd auf die Vergangenheit blicken. Statt Fluchtinstinkten lebt heute behagliche Nostalgie. In diesem Geiste musizieren der Pianist und der Schlagzeuger auf diese Duo-Einspielung fürs Intakt-Label. Und sie lassen über weite Strecken das freie Improvisieren freies Improvisieren sein. In Sachen neutönerischem Pioniergeist sind eh alle Großtaten bereits getan. Also bekennt man sich zur Melodie. Mit einem verträumten „La Paloma“ als Konfrontationstherapie mit dem gemeinsamen Vergangenheitstrauma.
Davor liegt eine sehr subjektive Mischung, deren Stücke allesamt ansprechen, wenn auch - zumindest beim ersten Hören - keine durchgängige Album-Dramaturgie aufkommen mag. Atmosphärisch geht es los mit flächigen Klanggemälden, dann schon erfolgt die Rückbesinnung auf konkreteres Vokabular. Die Lässigkeit einer Blues-Improvisation aus den Tasten von Gumpert trifft auf die sparsam getimten Fills von Baby Sommer, der seinem Spitznamen in Anlehnung auf Baby Dodds, dem Louis-Armstrong-Drummer, Ehre macht. Unaufdringlich scheppert ein Boogie Woogie. Und ein ganz einfaches Liebeslied lässt jenen Bösendorfer Imperial, der in den Villinger MPS-Studio steht, und auf dem schon Oscar Peterson spielte, richtig schön singen, während Sommer über weite Strecken ebenfalls den Melodiker auf Becken, Trommeln und manchmal auch Kesselpauken herauskehrt. Sporadisch, dann aber in dezidierter Klarheit, gehen auch immer wieder die Fenster zur Moderne des Jazz auf - wenn die Harmonien komplexer und die melodischen Wendungen schräger werden. Bei aller Nostalgie weht nach wie vor Morgenluft herein.
Die spannendste Schöpfung dieser Platte zeugt von der Liebe fast jeden Jazzers zu Bach, denn sie macht sich Techniken barocker Choralbearbeitung und Variationenprinzip zu Nutze. Grundlage ist das ausdrucksstarke Volkslied „Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht“. Gumpert kleidet das Lied in eine strenge Polyphonie, dann lässt Sommer die Pauken in einer Art Marschrhythmus pulsieren, bevor die Melodie – nun in Durtonalität verschoben - die Aura eines Folksongs atmet. Zunehmend werden Jazzharmonien und Improvisationen untergemischt, bis sich alles zu freitonaler Flächigkeit verdichtet. Über diese erhebt sich schließlich wieder die Originalmelodie in ergreifendem Moll. Allein dies Stück lohnt den Erwerb der Platte und ist gewissermaßen die artifizielle Antithese zu „La Paloma“.
Bei besagtem finalen Rausschmeißer ist doch alles so wundervoll einfach: Sehr „slow motion“ schiebt sich der Habanera-Rhythmus voran, über dem die von Sebastian de Yradier kreiierte Melodie latent schlaftrunken vor sich hin schmachtet. Schummerig ist das Licht und rauchig die Luft. Letzte Gäste dösen in einer abgelegenen Kneipe trunken vor sich hin. In einer hinteren Ecke ein knutschendes Paar, das schon eine lange Nacht hinter sich hat. Die Kneipe hat längst geschlossen. Vielleicht kommt das Stück aus einer alten Jukebox…