Noch sind es fast sieben Monate hin bis zum Geburtstag – und schon kommen die ersten Präsente auf den Tisch. Im Fall von Richard Wagner, der am 22. Mai 1813, also vor nun bald 200 Jahren geboren wurde, ist das schon mal legitim. Nun bekam er zu all den unüberschaubar vielen Büchern, die es von ihm und über ihn gibt, ein weiteres Buch, frisch und vorab schon auf den Gabentisch. Es verspricht tiefe Einblicke: „Mein Leben mit Wagner“. Der Geheimbericht eines Zeitgenossen?
Keine Enthüllungen. Auch keine Geheimnisse. Aber sinnvolle Aufklärung. So sachlich wie lebendig geschrieben, wie ihm nun mal der Schnabel respektive die Berliner Schnauze gewachsen ist. Denn der Autor von „Mein Leben mit Wagner“ ist der 1959 in Berlin geborene Dirigent Christian Thielemann. Er hat sich hinlänglich als Wagner-Experte erwiesen und ist als Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden quasi ein Nachfolger von Hofkapellmeister Richard Wagner im selben Amte. Viel länger aber schon gilt der Musiker als heimlicher Herr auf dem Grünen Hügel von Bayreuth, Wagners ureigenster Wirkungsstätte, wo inzwischen mehr als 120 Aufführungen auf sein Konto gehen. Bald wird er da das gesamte Wagner-Repertoire sowie Beethovens Neunte geleitet haben, ein Bayreuth-Rekord. Doch auch anderenorts schafft es Thielemann immer wieder, mit Richard Wagner zu reüssieren. So war es nur eine Frage der Zeit, dass der Wagnerianer vom Pult auch mal zum Schreibtisch gewechselt ist. Das Ergebnis: „Mein Leben mit Wagner“.
Denn der 1813 in Leipzig geborene Dichter-Komponist begleitet Christian Thielemann eigenen Angaben zufolge schon fast sein ganzes Leben. Was gewiss nicht daran liegt, dass auch ein Großvater Thielemanns ursprünglich aus Leipzig stammt. Das ist ein hübscher Zufall, mehr sicherlich nicht. Aufgewachsen in der heilen Welt des West-Berliner Bürgertums, hatte sich der heutige Star-Dirigent allerdings schon als Jugendlicher zwischen Wagner und Mahler zu entscheiden. Andere wählten da wohl noch zwischen Junger Union und APO.
Thielemann muss seine Berufung beizeiten in sich gespürt haben. Denn wer hört schon als Kind Wagner-Schallplatten mit der Partitur auf den Knien und lässt familiäre Lockrufe „Komm raus, schönes Wetter“ ungerührt verhallen? Daraus ergab sich eine Konsequenz für das gesamte künstlerische Leben, auch wenn er neben den persönlichen Anekdoten verrät, allmählich wieder mehr Lust auch auf Mahler zu haben. Rückblickend wisse er heute allerdings gar nicht, was zuerst dagewesen sei: „der Gedanke an Wagner oder der ans Dirigieren.“ Mit seinem Buch gibt er Einblicke in diesen ganz privaten Wagner-Kosmos, seinen Lesern will er aus Sicht des praktizierenden Musikers die Türen zu dieser einmaligen Klangwelt öffnen. Ziemlich genau beschreibt er deren Bestandteile Musik, Text und Stoffgrundlage.
Auch das Herangehen des Künstlers wird anfangs nicht immer leicht gewesen sein, er habe diesbezüglich jedoch nie an Karriere gedacht, sondern eben an Wagner: „Je mehr man weiß und kann, desto mehr weiß man eben auch, wie viel mehr man noch wissen und können müsste.“ Wir erfahren um die Schwierigkeiten und um die Ernsthaftigkeit des jungen Interpreten samt seiner frühzeitigen Assistenz bei Herbert von Karajan und der darauf folgenden „Ochsentour“, die er jedem angehenden Dirigenten empfiehlt: „Korrepetitor, Korrepetitor mit Dirigierverpflichtung, Assistenzen bei namhaften Dirigenten, zweiter Kapellmeister, erster Kapellmeister, Generalmusikdirektor in der Provinz oder an einem mittleren Haus, Generalmusikdirektor an einem großen Haus.“
All diese Auskünfte sind in einem angenehme, weder über- noch unterfordernden Erzählton gehalten – wie groß die Mitwirkung der Autorin und Musikwissenschaftlerin Christine Lemke-Matwey war, wird an keiner Stelle verraten –, das erleichtert auch Laien den Zugang, um „Mein Leben mit Wagner“ als enormen Gewinn aufzunehmen. Denn dieser gigantische Kosmos Wagner ist bekanntlich kaum fassbar und sowieso nicht unumstritten, beinhaltet Kollegenschelte (ein Exkurs geht auf die Tiraden wider Mendelssohn ein) und weltanschauliche Fragwürdigkeiten („Über das Judenthum in der Musik“ mag von Apologeten als Wagnersche Kernaussage gedeutet werden; Musiker sehen in Wagner immer den Musiker). Höchst spannend wird es, wenn sich Thielemann mit dem Missbrauch Wagners in der Nazizeit und dessen Nachwirkungen in der bundesdeutschen Bayreuth-Rezeption beschäftigt („Das sogenannte Weltanschauliche“). Er macht sich aber auch explizit Gedanken um die Theorie und Praxis von Wagner-Interpretation, fragt „Was ist eine gute Aufführung?“ und hilft „Anfängern“, sich in Personal und Botschaft des mythischen Musiktheaters zurechtzufinden.
So launig wie kenntnisreich werden Entstehung, Besetzung, Handlung, Musik und Aufnahmen aller Musikdramen von Richard Wagner beschrieben, selbst die unvollendete „Hochzeit“ von 1832 findet Erwähnung. Dieses Kapitel kann auf den nächsten Opernbesuch ebenso einstimmen wie auf eine gründlich zu Gemüte geführte CD. „Mein Leben mit Wagner“ macht deutlich, dass Thielemann zu diesem Genius tatsächlich eine Art Wahlverwandtschaft hat, die er freilich gründlich zu analysieren vermag. An keiner Stelle dröge Experten-Lektüre, dürfte das Buch zum Bestseller auf Wagners Geburtstagstisch werden.
Christian Thielemann: „Mein Leben mit Wagner“
Unter Mitwirkung von Christine Lemke-Matwey
320 Seiten, 20 Abb., 19,95 Euro
Verlag C.H.Beck
ISBN 978-3-406 63446-8
Als eBook für 15,99 Euro
Hörbuch-Version
Christian Thielemann: Mein Leben mit Wagner
Lesung mit Musik mit Ulrich Tukur
5 CDs, ca. 400 min
24,99 Euro
ISBN 978-3-86231-228-3
Präsentation „Mein Leben mit Wagner“ mit Christian Thielemann am 16. November 20.15 Uhr in der Gläsernen Manufaktur von VW in Dresden.