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Foto: Alban Berg Stiftung

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Die Genialität der Konzeption mit Händen greifen

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Mit drei gewichtigen Bänden schreitet die Alban Berg Gesamtausgabe voran
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Daran, dass wissenschaftliche Werkausgaben in ihren eigenen Zeitrechnungen entstehen, hat man sich gewöhnt. Die „Sämtlichen Werke“, in der Universal Edition herausgegeben von der Alban Berg Stiftung, sind da keine Ausnahme, um so erfreulicher ist es, dass in jüngerer Zeit gleich drei gewichtige Bände erschienen sind. Mit zwei von ihnen schließt sich nach einer gefühlten Ewigkeit jeweils ein Kreis: Zur 1996 veröffentlichten Partitur des Violinkonzerts liegt seit 2022 endlich der Kritische Bericht vor und mit dem zweiten Band der „Musikalischen Schriften und Dichtungen“ ist die III. Abteilung der Ausgabe nunmehr abgeschlossen. 

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Der erste Schriften-Band, mit dem die Gesamtausgabe 1994 startete, ent­hielt Bergs gewichtige Analysen musikalischer Werke von Arnold Schönberg (Gurrelieder, Kammersymphonie op. 9, Pelleas und Melisande), der zweite macht nun auf beeindruckende Weise deutlich, welch hohen Stellenwert das Dichten und Schreiben in bestimmten Phasen seines Lebens hatte. So zitiert Herausgeberin Kordula Knaus (die sich auf Vorarbeiten von Julia Bungardt stützen konnte) in ihrer reichhaltigen Einleitung Bergs Brief an Anton Webern von 1914: „Bevor ich  komponierte, wollte ich überhaupt Dichter werden u. ich erinnere mich da noch an ganze Epen, zu denen mich die jeweilige Schulliteratur anregte.“ Eines dieser Epen in Versform des zirka 15-Jährigen ist dann auch in der Ausgabe enthalten („Hanna“), interessanter als diese etwas schwülstige Dreiecksgeschichte ist das etwa vier Jahre später entstandene „Bergwerkdrama“. Der erste Akt, den er vollendete, sowie die Pläne zu den vier übrigen Akten lassen – an Ibsen orientiert – schon einiges von Bergs dramatischem Gespür erahnen.

Feuilletonistische Begabung

Musikhistorisch bedeutsam sind dann aber natürlich vor allem die hier erstmals vollständig versammelten Aufsätze, Einführungen zu eigenen Werken, Gespräche und kleineren Beiträge, allen voran die berühmte, ebenso kernige wie fundierte Replik auf Hans Pfitzners Pamphlet „Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz“. Schon der Titel „Die musikalische Impotenz der ‚Neuen Ästhetik‘ Hans Pfitzners“ zeigt Bergs feuilletonistische Begabung zur Zuspitzung und so verwundert es nicht, dass er beinahe Redaktionsleiter der „Musikblätter des Anbruch“ geworden wäre.

Eine Fundgrube an Hintergrundwissen sind die Fußnoten und Erläuterungen, wobei letztere sich typografisch allerdings zu sehr in den Vordergrund drängen. Dass in einem ausführlichen Anhang „Überlieferung und Lesarten“ so akribisch aufgelistet und beschrieben werden, als handele es sich um die wissenschaftliche Werkausgabe eines Schriftstellers, zeigt die Akribie, mit der Berg an seinen Texten feilte und die Bedeutung, die die Forschung Bergs Schaffen auf diesem Gebiet zu Recht beimisst. Eine kompakte, erschwingliche Leseausgabe mit den wichtigsten Schriften aus beiden Bänden wäre dennoch höchst willkommen.

Als 1996 im Rahmen der „Sämtlichen Werke“ das Violinkonzert erschien, wartete die Ausgabe mit einem veritablen Coup auf: Denn erstmals wurde hier der Solopart zu Beginn des zweiten Satzes korrekt wiedergegeben, mit der Oktavierung in Takt 4 und 5, ohne die diese wichtige Stelle vorher immer merkwürdig „zurückgestutzt“ geklungen hatte. Wer glaubte, der nun endlich veröffentlichte Kritische Bericht würde lediglich Quellenbeschreibungen und Lesarten enthalten, wurde aufs angenehmste enttäuscht und für ein Vierteljahrhundert Wartezeit üppigst belohnt. Denn was nun als Band I/5,2 vorliegt, ist eine mus­tergültige Dokumentation zu diesem Meisterwerk. Auf über 400 Seiten, darunter mehr als 60 Faksimiles von Skizzen und anderen Dokumenten, entfalten Douglas Jarman und Regina Busch sämtliche Verästelungen der Entstehungs- und frühen Rezeptionsgeschichte des Konzerts, das in seiner Verbindung von Dodekaphonie und Tonalität, seiner Balance aus Strenge und Expressivität Maßstäbe setzte. 

Eigentlich verbietet es sich, angesichts dieses außerordentlichen Bandes (der verdientermaßen mit dem Musik­editionspreis „Best Edition 2023“ ausgezeichnet wurde) zu mäkeln, aber eine Kopf- oder Fußzeile zur Orientierung wäre hilfreich gewesen und bei Dokument 86 (S. 283 f.) scheint ein Teil der Transkription zu fehlen. Schließlich sei darauf hingewiesen, dass die Übertragungen der vielen meist deutschsprachigen Dokumente im Original erfolgen, der Band ansonsten aber komplett in englischer Sprache verfasst ist.

Großzügige Partituranordnung

Wird man auf einen ähnlich luxuriösen Kritischen Bericht zum „Wozzeck“ hoffen dürfen, der – so die Auskunft der Universal Edition – voraussichtlich im Herbst 2026 erscheinen wird? Bis dahin kann die voluminöse, großformatige Werkausgabe selbst bewundert werden. Schon der erste Leseeindruck überzeugt: Der großzügige Satz lässt der Musik gleichsam Luft zum atmen, die Klarheit und Genialität von Bergs musikdramaturgischer, mit Formen „absoluter“ Musik verschränkter Konzeption ist mit Händen zu greifen. Wichtiger noch: Die Partituranordnung folgt derjenigen aus Bergs Manuskript und macht so zum Beispiel Szenenübergänge oder -neuanfänge gut sichtbar. 

Die Großzügigkeit geht soweit, dass häufig – wie von Berg vorgesehen – pausierende Vokal- oder Instrumentalstimmen als stumme Pausenzeilen konsequent mitgeführt werden, was oftmals eine wichtige Aussagekraft bezüglich der Personenkonstellationen oder hinsichtlich eines als separat herausgehoben gekennzeichneten Instrumentalensembles besitzt. Auch die szenischen Anweisungen und die gesprochenen Passagen bekommen so ihren angemessenen Platz, sind mitunter rhythmisch präziser zur Musik in Beziehung gesetzt.

Gleichsam geadelt werden in der von Klaus Lippe besorgten, mit kompaktem Vorwort und vier farbigen Faksimiles ergänzten Ausgabe die von Berg selbst stammenden, sonst einem Klavierauszug vorbehaltenen „Ossia“-Varianten der Vokalstimmen. Das optisch am meisten herausstechende Merkmal der Ausgabe ist aber der farbige Druck (in geschmackvollem Weinrot) der Bühnenmusik in der Wirtshausszene des 2. Aktes und des „verstimmten“ Pianino-Parts im 3. Akt. Diese Bergs Autograph folgende Kolorierung sei „mehr als eine gleichsam schmückende Orientierungshilfe“, führt Klaus Lippe im Vorwort berechtigterweise aus, sie visualisiere vielmehr „die Differenz der Realitätsebenen auf und unterhalb der Bühne“.

Ähnlich bedeutsame Korrekturen des Notentextes gegenüber älteren Ausgaben wie beim Violinkonzert scheint es nicht gegeben zu haben, auf eine Übersicht der wichtigsten Abweichungen (wie 1996 beim Konzert) wurde dementsprechend verzichtet. Für den Kritischen Bericht kündigt Lippe aber unter anderem die Rekonstruktion einer 5. und 6. Hornstimme an, die Berg für die Brüsseler Erstaufführung 1932 im Sinn hatte. Dort soll dann auch die für Wien 1930 vorgenommene Aufteilung der Harfenstimme auf zwei Instrumente erörtert werden. Den Hinweis darauf findet man übrigens in Bergs auch sonst sehr erhellendem Text „Einige Bemerkungen zum Studium der Oper ‚Wozzeck‘“ (Text 47 im besprochenen Schriftenband), dessen folgende Passage man so manchem Interpreten ans Herz legen möchte: „Diese neuerliche Forderung nach einer im allgemeinen ‚ruhigeren‘ Darstellung bezieht sich aber nicht nur auf das Tempo, sondern auch auf die Dynamik des Werkes, welches (bis auf die allerdings in jeder Szene zur Entladung gelangenden Explosionen) als eine ‚Piano-Oper‘ anzusprechen ist.“ (S. 252)

Die drei Bände sind vorerst nur über die Subskription der Gesamtausgabe erhältlich; jeweils zwei Jahre nach Erscheinen kann man sie einzeln erwerben, der Preis steht laut Verlag aber noch nicht fest. Da bleibt vorerst nur der Besuch einer gut sortierten Musikbibliothek. Es lohnt sich!

 

Alban Berg: Sämtliche Werke. I. Abteilung. Musikalische Werke, Band 5, Konzerte, Teil 2, Violinkonzert, Kritischer Bericht, vorgelegt von Douglas Jarman und Regina Busch, Universal Edition UE 18165b, ISMN 979-0-008-09070-7, Wien 2022

I. Abteilung. Musikalische Werke, Band 1, Wozzeck, vorgelegt von Klaus Lippe, Universal Edition UE 18151, ISMN 979-0-008-09114-8, Wien 2023

III. Abteilung, Musikalische Schriften und Dichtungen, Band 2, Aufsätze, Vorträge und andere Texte, vorgelegt von Kordula Knaus, Universal Edition UE 18182, ISMN 979-0-008-09124-7, Wien 2023

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