Der Brockhaus-Verlag dementierte sofort, als das Gerücht aufkam, seine Enzyklopädie erschiene zum letzten Male in gedruckter Form. Aber solche Mutmaßung könnte eher Bärenreiters Standardwerk, die Musikenzyklopädie „Musik in Geschichte und Gegenwart“, angehen, wenn dereinst in zwei, drei Jahrzehnten die dritte Neuausgabe akut werde. Jetzt ist erst einmal die nach einem halben Jahrhundert dringend nötige Zweitedition noch als solider Buchband unterwegs: Der Sachteil steht rechtzeitig zum 75. Jubel-Jahr des Bärenreiter-Verlages, aber in Partnerschaft mit Metzler, fast komplett mit 9 Bänden im Regal. Der zwölfbändige Personenteil soll sukzessive in den nächsten sechs Jahren folgen. Aber die registermäßige Erschließung dieses geballten Musikwissens ist kaum komfortabler zu handeln als mit Einsatz elektronischer Datenträger. Vorläufig erscheint eine CD-ROM zum Sachteil-Registerband, und dann eine kummulierte Fassung zum MGG2-Finale.
Die Novität eines Bildschirmnotenpultes ließ die FrankfurterMusikmesse 1999 freilich noch noch vermissen. Die Angst, bald keine traditionellen Notendrucke mehr auf herkömmliche Notenständer legen zu können, braucht den Musiker heute noch nicht zu beunruhigen. Im Gegenteil. Die Musikverleger scheinen von seltenem Produktionsfieber befallen zu sein. Ihr Mut, Musik, alt wie neu, neu zu verlegen, ist bewundernswert. Man fragt sich: Wer sind die Käufer, wo sind die Musikalienhändler, die finanziell, räumlich und fachlich so fit sind, diese unglaubliche Fülle an Neuerscheinungen von Noten, Büchern und Tonträgern dem musikalischen Abnehmer vorzuhalten. Sich eine globale Übersicht in- und zunehmend ausländischer Produktionen zu verschaffen, ermöglicht in der Tat allenfalls ein tagelanges Schmöckern in den Regalen der Frankfurter Musikmesse. Aber Messeständler äußerten sich wenig euphorisch über stattgehabte Kundenbesuche. Einheimische Händler gaben sich recht zurückhaltend. Aufgeschlossener zeigten sich ausländische Einkäufer. Die grenzenlosen Möglichkeiten digitaler Autobahnen, Druck und Klang sich selbst herzuholen, zu kopieren oder zu gestalten, bremsen zweifellos die Umsätze der Branche. Notgedrungen werden immer kleinere Auflagen gedruckt, dafür steigt der Preis der Einzelausgabe mit der Folge, daß die Kopierwut boomt – ein Circulus vitiosus in der Grauzone des Unerlaubten. Neue Wege suchen Noch unterdrücken die Verleger ihre Nervosität, auch wegen der sich auf EU-Druck lockernden Preisbindung. Sie zeigen stolz auf Produkte ihrer Komponisten, Autoren, Arrangeure und Herausgeber. Besonders spürt man den persönlichen Einsatz vieler Kleinverlage, Originelles zu präsentieren, Nischen zu betreuen, Anstöße zu geben für aufgeschlossene Pädagogen, für alternative Macher, für experimentierfreudige Junginterpreten. Da paßt ins Bild, wenn Anton Haefeli den „Musikalischen Eros, die Kunst, das Musiklehren lieben zu lernen“, (so seine Schrift bei HBS Nepomuk) beschwört und seine Visionen für die humane Gesellschaft entwirft. Oder wenn Gerhard Wolters „Wege aus der Eintönigkeit“ sucht und neue (und alte) Dimensionen, Musik zu unterweisen, propagiert – 300 Seiten Ideen für eine offene Musikschule (erschienen bei Zimmermann). Über das Musikleben in Deutschland in all seinen Facetten informiert mit Kommentaren umfassend und kompakt wie noch nie in der sechsten, neubearbeiteten, auf 1250 Seiten angewachsenen Auflage der „Musik-Almanach 1999/2000“ des Deutschen Musikrates (Bosse/Bärenreiter). Unter weiteren Nachschlage- und Studienwerken sollten das „Handbuch Querflöte“ von Busch-Salmen/Krause-Pichler, die Neuauflage vom „Orgelführer Deutschland“ von Göttert/Isenberg und „Das Gesundheitsbuch für Musiker“ von Renate Klöppel in die richtigen Hände kommen. Anlaß für ein kulturpolitisches Panorama brisanten Charakters ist das 75jährige Bestandsjubiläum des Kasseler Hauses: „Bärenreiter-Almanach – Musik-Kultur heute“. Aber wer zählt die Noten, die Titel, nennt die Namen all der Komponisten von gestern und heute, die über ihre Editoren aufrufen: „Let’s make music“. Was erwartet sich allerdings diese zunehmende Anzahl aktiver Verlage, die immer wieder neue Lehrwerke für Kids oder auch Oldies propagieren, obwohl der Markt gesättigt erscheint? Da kann man nur auftrumpfen, das Beste vom Besten anpreisen, mit Evergreens und Megahits Erfolg und Spaß von Anfang versprechen – so wie es Voggenreiters junges Team mit seiner ebenfalls 75jährigen Verlagserfahrung und poppig aufgemachtem Schul-, Spiel- und Songmaterial versucht. Kleine ganz groß Saxophon, enorm im Kommen, hat einen eigenen Fachverlag motiviert, genannt Chili Notes in Frankfurt. Er versteht es, seine Solo- und Ensemblewerke praxisnahe mit Notenbeispiel, Einführungstext, Mitspiel-CD oder Konzert-CD („Die Sephiroth“, von Günter Priesner präsentiert) zu offerieren. Um 50 internationale E-Komponisten unserer Zeit bemüht sich die Antes Edition von Bella Musica, die vielseitige Besetzungen als Noten und CDs vorstellt. Mit Xaver Paul Thomas, Jahrgang 1965, ist ein wichtiger Name dabei. Um Peter Michael Hamel, Franz Hummel, Tobias PM Schneid, Bernhard Weidner, Jörg Widmann nimmt sich der Accent Musikverlag in Regensburg an, wobei er sich als Kontrapunkt eines traditionslastigen Musikbetriebes versteht. Erst 10 Jahre jung, aber vital im Editionsgeschäft, ist der AMA Verlag, der sich mit vielen Specials, jungen Titeln und originellem Übungsmaterial Aufmerksamkeit verschafft. Auch ERES ist mehr Außenseiter, weil er nicht nur auf bekannte Namen setzt. Mit dem Notenbild in seinen Katalogen weckt er Neugierde und erreicht Akzeptanz: Michael Töpel, Ton Verhiel, Hans-Martin Limberg, Karsten Gundermann, Peeter Vähi und andere, viele aus dem Balticum, finden sich in ERES’ Katalogen. „Resonanz“, so ein neues Periodikum, sucht die Interessengemeinschaft unabhängiger Musikverlage, zu denen der Verlag Neue Musik mit der Akkordeonreihe „ars futura“ und der traditionsreiche Friedrich Hofmeister Verlag mit neuen Chorkompositionen zählen. Ebenso gehört der Verlag Furore in Kassel dazu, der sich seit dreizehn Jahren der „Frau in der Musik“ widmet: Hope Lee, Ljubica Maric, Ruth Schonthal und Emely Zobel sind einige von ihnen. Auch die Edition Margaux ist hier dabei. Gemeinsam wird vor allem Kammermusik durch interessant gemachte Besprechungen vorgestellt. Rund ein Dutzend Schweizer Verlage, die wegen eigener Charakteristik alle eine eigene Würdigung verdienten, haben es verstanden, sich unter dem Schirm der SUISA aufmerksam als Forum Schweiz zu präsentieren. So bemüht sich beispielsweise Emil Ruh um Chor- und Blasmusik im kirchlichen Raum, um Hilfen für Bands und ihre Schulungsarbeit. Originelle Besetzungen liefern Schweizer Komponisten, bei Nepomuk zum Beispiel Ruedi Debrunner ein „Quartetto fiatoforte“ für Flöte, Oboe, Klarinette und Piano oder Thüring Bräm „Cartoons“ für Violine und Kontrabaß oder „Pictures“ für Violine und Percussion, und zu einer verückten „Geisterparty“ verhelfen Hans Zellwegers „Chamäleon“-Stücke zu drei bis fünf Stimmen. Bei Boosey & Hawkes, dem seit 50 Jahren in Bonn ansässigen Verlag, haben nun auch Flöte und Klarinette Anteil an der attraktiven „Bravo!“-Serie von Carol Barrat, und fast alle Blas- und Streichinstrumente werden hier reich mit neuer Spielliteratur eingedeckt, mit Jazz- und Band-Collections, dazu Backing tracks auf CD. Sheila Nelsons innovative „Essential String Method“ bekommt nun auch Klavierbegleitmaterial. Bote & Bock setzt die Betreuung von Komponisten konsequent fort, beispielsweise bei den Mittdreißigern Annete Schlünz, Detlev Glanert, Helmut Oehring. Geburtstagssträuße Der Strauß-Dynastie verfallen ist das Doblinger-Haus in Wien nicht nur mit der Johann-Strauß-Gesamtausgabe, sondern mit einer Vielzahl praktischer Bearbeitungen. Unter den zahlreichen Novitäten merkte ich mir das durchwegs leichte Klavier-Sonatinen-Werk von Anton Diabelli. Leckerbissen sind die Nestroy-Lieder, eine Sammlung aus den Bühnenwerken. Von den in der Edition Gravis umsorgten Komponisten seien vor allem Werke von Jubilaren dieses Jahres gewürdigt: ein neues Klaviertrio mit Saxophon und Cello von Günther Becker (75. Geburtstag am 1.4.), ein Klaviertrio von Walter Gieseler (3. Oktober 80. Geburtstag) und verschiedene Kammermusiken von Georg Kröll (3. Mai 65. Geburtstag), ferner Oskar Gottlieb Blarr (6. Mai 65. Geburtstag). Rudolf Lück dokumentierte ein Werkstattgespräch mit Dimitri Terzakis unter dem Titel „Der Weg zur Monophonie“. Aus dem Tonger-Reich locken unter zahlreichen Instrumentalmusiken ganz originelle Besetzungen, wie die Vertonung eines Valéry-Textes, „Le Sylphe“ für Chansonette, Flöte, Cello und Klavier von der Amerikanerin Kate Waring, „Bagatellen“ für Gitarre, Akkordeon und Perkussion des Engländers David P. Graham, für vier Flöten eine hübsche „Serenade“ von Sigismund von Neukomm (19. Jahrhundert) und ein ebenfalls von P. Thalheimer für die Reihe „Flutes only“ wieder ausgegrabenes „Quartett op. 18“ von Antonín Reicha. Zum Goethe-Jahr mögen die Meditationen „An den Mond“ für einen Schlagzeuger von K. Hochmann willkommen sein. „Klassische Ohrwürmer“ hat W. Hildemann für sechs ganz junge Klavierhände zugedacht. Kinder-like aufgemacht sind Sikorskis Unterrichtshefte für Klavier „Aller Anfang ist leicht“ von Susanne Holmes, ein neues Heft „Klimper-Spaß 5“, das Klavieralbum aus dem Kinder-Musical „Kik, der Volltreffer“ oder der von Julia Suslin besorgte Spielband der „Russischen Klavierschule von Nikolajew“. Edwin Koch wirbt mit „Violoncello spielend lernen“. Schostakovichs „Fünf Stücke für 2 Violinen und Klavier“ und Prokofieffs Streichquartett op. 92 gehören dem Kammermusiker. Auch aus Schotts breiter Produktionspalette können nur ein paar Highlights vermerkt werden: Robert Schumanns Lebenschronik von E. Burger, das überarbeitete „Werkverzeichnis Richard Strauss“, das erweiterte „Repertorium Orgelmusik“ von K. Beckmann, G. Mantels „Cello üben“ als ergänzte Neuauflage. Unter den Unterrichtsmaterialien sei für die 7- bis 12jährigen auf „Querflöte spielen und lernen“ von B. Metzger und M. Papenberg, für Singstimme und Orff-Instrumentarium auf „African Songs for School and Community“ und für die chorische Praxis auf „Das Kanon-Buch“ mit 400 Kanons aus acht Jahrhunderten hingewiesen. Unermüdlich der neunzigjährige Harald Genzmer: seine kürzlich entstandene „Sonate für Klarinette und Klavier“ ist neu bei Peters. Dort auch Saint-Saëns „Karneval der Tiere“, jetzt in einem Band für zwei Klaviere. Bemerkenswert die Bearbeitung der „Großen Fuge“ von Beethoven op. 133 für Streichorchester durch Michael Gielen, ebenso Klaus Burmeisters Neuherausgabe von Schuberts Trio Es-Dur (Notturno) op. post. 148, D 897. Die nächste Musikmesse in Frankfurt ist für die fünf Tage vom 12. bis 16. April 2000 geplant. Wie gesagt – ein Messetag allein reicht zum Notenstöbern niemals aus.Hauptrubrik
Mutige Verleger, müde Händler, lustlose Käufer
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