Wagners letztes Bühnenwerk arbeitet mit dem Wechsel von Innen- und Außenräumen, die sich nach der szenischen Vorgabe des Autors im ersten und dritten Aufzug durch sichtbare Wandeldekorationen auseinander ergeben. Die jüngste Inszenierung an der Staatsoper am Schillertheater wählte statt dessen zwei bis auf die Farbgebung identische Innenräume.
Dmitri Tcherniakov in der Personalunion von Regisseur und Bühnenbildner hatte am selben Haus für Nikolai Rimsky-Korsakows „Zarenbraut“ mit einer Greenbox faszinierende Räume gezaubert und die Handlung zweigleisig historisch und heutig inszeniert. Auch „Parsifal“ hat er im Heute, irgendwo im tiefen Russland, angesiedelt.
Wollbemützt agieren die Gralsritter und Knappen in einem mit archaisierenden Säulen verbauten Zentralraum. Klingsor siedelt in der identischen, aber clean weißen Gegenwelt. Im ersten Akt hofft man noch, Tcherniakovs Lesart, in der es keinen Gral gibt, sondern die Untertanen das mit Wein versetzte Blut aus der Wunde ihres Königs trinken, möge sich runden. Der erste Aufzug stellt Fragezeichen, deren spätere Antwort unterbleibt. Aber im zweiten Aufzug wird klar, dass der Regisseur die komplex vielschichtige Handlung offenbar nicht verstanden hat und sie daher mit großer Beliebigkeit farbig bebildert.
Anhand historischer Bühnenbild- und Darstellerfotos, vom Diaprojektor auf eine aufgehängte Leinwand geworfen, erklärt Gurnemanz mit Zeigestock den Knappen die Vorgeschichte. Kundry wird von den Auszubildenden geneckt, indem sie ihr die Handtasche wegnehmen und sich diese gegenseitig zuwerfen. Titurel (Matthias Hölle) besteigt zum gesteigerten Genuss der Gralsszene seinen eigenen Sarg, in welchem er im dritten Aufzug durch eine Puppe ersetzt ist.
Die Inszenierung kommt ohne toten Schwan aus. Parsifal zerbricht ob der Erklärungen des Gurnemanz keinen Bogen, sondern behält seine Waffe, eine Armbrust, auch weiterhin. Aus dem mitgeführten, hohen Rucksack kleidet er sich wiederholt um. Am Ende des zweiten Aufzugs, offenbar zum Mann gereift, schlüpft Parsifal dann in längere Hosen, wohingegen Kundry – nach ihrer im Off erfolgten, unterbrochenen Liebesszene – in Slip und Sweatshirt verbleibt.
Per Textprojektion klärt der Regisseur den Besucher darüber auf, dass wir im zweiten Aufzug dem Klingsor „mit seinen Töchtern, den Blumenmädchen“ begegnen. Das Unikat einer erklärenden Projektion tut offenbar Not, denn der tüddelige Herr, der sich seine wenigen Strähnen auf der Glatze kämmt, ist alles andere als ein dämonischer Zauberer. Seine Gefährlichkeit beschränkt sich darauf, dass er und Kundry sich gegenseitig ohrfeigen. Die jüngeren Chordamen sowie eine große Schar von Kindern, mitsamt deren Spielpuppen, hat Kostümbildnerin Elena Zaytseva in Betty Barkley-Kleidchen gesteckt. Klingsors Kinder spielen mit Bällen, Hula-Hoop-Reifen und Luftballons und bekommen einen Schreck, wenn ihr Vater von Parsifal mit dem heiligen Speer getötet wird.
Wie in Herheims epochaler Bayreuther Inszenierung treten als stumme Rollen Herzeleide und der junge Parsifal auf; aber völlig vorbei an der vom Komponisten intendierten und besungenen Inzest-Situation geht hier die Handlung, wenn die Mutter den jungen Parsifal beim Begrapschen der nackten Brüste eines namenlosen Mädchens erwischt und er deshalb von zuhause fortrennt. Ähnliche Missverständnisse der Spielvorlage bestimmen den dritten Aufzug, wo Parsifal sein „Heil mir, dass ich dich wiederfinde“ an Kundry richtet, die sich schon vor der Fußwaschung als sein Schmuseobjekt erweist. Er schenkt ihr aus seinem Rucksack die Ritterfigur seiner Kindertage und sie ihm eine Kinderpuppe der Blumenmädchen.
Ein Weihwassergefäß auf Sockel dient in der ersten Gralsszene den Gralsrittern zur Waschung der Gesichter. Im dritten Aufzug wird das Wassergefäß als „heil’ge Quelle selbst“ definiert und von Gurnemanz auf dem Boden platziert. Nach dem Ende seiner Leiden schmust Amfortas leidenschaftlich mit Kundry, die dafür von Gurnemanz rücklings erdolcht wird. Parsifal schwingt deren Leiche zunächst wie den hier nicht vorhandenen Gralskelch, um sie dann doch außerhalb der Szene zu entsorgen, während die Gralsritter, die sich zum Gebet vordem mit dem Gesicht auf die Erde gelegt hatten, nun kniend, mit erhobenen Armen, in mauschelnder Ekstase enden.
Generalintendant Flimm hatte vor Beginn angesagt, Anja Kampe habe sich trotz Bronchitis überreden lassen, die Kundry zu singen. Vor dem zweiten Aufzug trat der Hausherr erneut vor den Vorhang, um anzukündigen, „wenn alle Stimmbänder reißen“ würden, so werde das Publikum etwas „ganz Neues“ erleben, den fliegenden Wechsel der Partie zu einer im Auditorium sitzenden Leipziger Kollegin der Sopranistin.
Anja Kampe spielte die Partie in Hosen und Trenchcoat heutig, flippig und exzessiv, und sie teilte die Partie nicht. Den Gesang markierte sie und punktierte dabei hohe Lagen, was insgesamt bestenfalls den Eindruck einer Bühnenorchesterprobe vermittelte. Verwunderlich, dass die Staatsoper für einen solchen Fall über keinerlei Understudy oder Cover verfügt und den Gesangspart dann von der Seite der Bühne oder aus dem Orchestergraben zum Spiel der Protagonistin ausführen lässt.
Immer wieder ist es genussvoll, die weich fließende, samtige Bass-Stimme von René Pape zu hören. Pape macht die geistige Verwandtschaft des Gurnemanz zur Philosophie des König Marke und zur Lehrerfunktion des Hans Sachs hörbar. Bedauerlich nur, dass er mit dem Text auf Kriegsfuß steht, was auch musikalisch zu Schmissen führt. Eine sehr gute gesangliche Leistung bietet Wolfgang Koch als Amfortas, dem Tómas Tómasson als Klingsor, von der Regie zum Buffo gemacht, allerdings kein adäquater Gegenpart sein kann. Stimmstark und klangschön die von Martin Wright einstudierten Chöre. Immerhin wurde die Titelpartie zum Erlebnis durch das Rollendebüt von Andreas Schager: bravourös, wie dieser junge Tenor die Titelpartie mit Leichtigkeit nimmt und dann immer mehr strömen lässt. Einige rhythmische Unsicherheiten bei ihm sind wohl den Tempi des Premierenabends geschuldet.
Denn so weihevoll breit war Wagners Partitur lange nicht mehr zu hören. Nicht nur erfahrene Solisten, wie René Pape, hingen wiederholt mit fassungslos großen Augen am Dirigenten im tief abgefahrenen Orchestergraben, auch die Mitglieder der Staatskapelle selbst waren offenbar erstaunt über die immer breiter werdenden Tempi von Daniel Barenboim – anders sind verwackelte Einsätze zwischen Bläsern und Streichern wohl kaum zu erklären.
So gab es am Ende einen sehr geteilten Applaus und wohl erstmals beim Erscheinen des Orchesters auf der Bühne auch Buhrufe für die Staatskapelle und ihren musikalischen Chef. Der Widerspruch des Premierenpublikums traf auch den bei der vorangegangenen Rimski-Korsakow-Premiere noch einhellig gefeierten Regisseur. Insgesamt gesehen ein problematischer, wenig zum Jubeln animierender Premierenabend am Anfang der diesjährigen „Festtage der Staatsoper“.
Weitere Aufführungen: 31. März, 3., 6., 12. und 18. April 2015.