Igor Levit steht auf höchster pianistischer Qualitätsstufe – in mancherlei, in vielerlei Hinsicht. Als Kind lernte er, nach eigenem Bericht, alle Arten von Musik in jeder Notierung vom Blatt zu spielen. Das hat ihm für seine Zukunft eine umfassende instrumentale Versiertheit eingetragen. Jetzt kann er den Status eines der souveränsten „Klaviertechniker“ für sich behaupten.
Das heißt: keine noch so vertrackt komponierte Musik verschreckt ihn; er liest die Noten und spielt sie. Mit dieser Begabung steht er indes nicht allein. Mancher Pianist der mittleren und der jungen Generation, zu der er mit 26 noch gerechnet werden darf, verfügt über diese Fertigkeit. In Ausnahmefällen wird sie rauschhaft ausgelebt. Das trifft auch auf Levit zu.
Außerdem verleitet das viele junge heutige Pianisten, bei ihrem Tonträger-Debüt gleich zum Schwierigsten zu greifen. So begann Ragna Schirmer ihre eindrucksvolle CD-Karriere mit Bachs Goldbergvariationen. Igor Levit nimmt sich als erstes Beethovens späte Sonaten vor – nicht allein die drei letzten, sondern die fünf letzten. Angesichts seiner Versatilität hätte er sich auch Max Regers Bach-Variationen, die er - dankenswerterweise – in seinen Recitals anbietet, wählen können. Es ist anzunehmen, dass deren Einspielung irgendwann folgen wird wie auch die des Regerschen Klavierkonzertes, was man nur begrüßen kann.
Die eingefahrene Publikumsabwendung von den Werken Regers – zu dieser Abteilung rechnet bei vielen auch immer noch Beethovens anstrengende Hammerklaviersonate, seine viertletzte – wird sich vielleicht doch noch beruhigen, wenn Igor Levit seine Vorlieben weiter so temperamentgeladen anbietet. Die genannten exorbitanten Werke geht er jedenfalls furios-mitreißend an, was mit der Zeit Wirkung zeigen könnte. Wünschenswert wäre es.
Wie aber spielt Levit Beethovens Sonaten auf der vorliegenden Doppel-CD, seinem ersten offiziellen Tonträger-Auftritt? Seine Darstellung zeichnet sich durch konzentrierte Ernsthaftigkeit aus, durch eine betonte Tendenz zu Lebendigkeit und Frische. Dabei kommt aber – fast zwangsläufig – das Moment des zutiefst Verinnerlichten, das diese Werke mal mehr, mal weniger charakterisiert, oft zu kurz. Verinnerlichung wäre wiederzugeben durch eine höhere Differenzierungskultur bei der Dynamik und deren Übergangsstufungen, bei artikulatorischer Verfeinerung des Stimmengeflechts, bei der Wahl der Tempi und deren agogischen Aus- und Abweichungen.
Bei allem Respekt vor der Ausnahme-Leistung Levits (die auch bei anderen aktiven Jungpianisten unserer Epoche evident wird), erweist sich, je länger man ihm zuhört, dass jugendliches Draufgängertum allein, auch ein durchgehend kontrolliertes, nicht den Reifungsprozess ersetzen kann. Dafür haben sich Pianisten zweier Generationen vor Levit auf der Basis von Arbeit beharrlich und anhaltend eingesetzt. Das trägt vor allem bei Schlüsselwerken einer so avancierten stilistischen Komplexität, wie sie der späte Beethoven zur Debatte gestellt hat, Früchte. Dieses Stadium muss Levit erreichen, um sich eine auf umfassender Kompetenz gründende Bewunderung sichern zu können.
Ein gutes Trainingsfeld dafür liefern schon ausgewählte frühe Sonaten Beethovens, die von Levit als Befähigungsnachweise für einen CD-Einstieg genauso positiv begrüßt worden wären. Trotzdem – die geäußerten Einwände sind weniger kritisch gemeint denn als Versuch, seine pianistische Leistung als ein erst vorläufiges Ergebnis zu veranschlagen.
Zum Beispiel fallen in Levits Werkwiedergaben Klangflächen – meist sind es die mit einer endlos sich verspannenden, verhaltenen und gedeckten Evolution – auf, in denen man ein weniger lebhaftes Interesse des jungen Künstlers an der Charakterbildung der Musik zu hören meint als in musikalisch-strukturalen Erscheinungen, die er sich allein durch zupackende Verve pianistisch erschließt.
Aber auch in diesen stößt man schon mal auf unterschiedliche Aufmerksamkeiten bei Levit. Er behandelt zum Beispiel gelegentlich mit der linken Hand voranzutreibende Figurenbildungen relativ nebensächlich zugunsten nicht sonderlich auffälliger Akkordstrecken in der rechten Hand. Wenn die vorher Benachteiligten dann von der Rechten in oberer Lage aufgegriffen werden, lässt er sie überraschend aufstrahlen. Der Grund für diesen eher zufällig wirkenden und wie nebenbei gehandhabten Ausdruckswechsel leuchtet nicht ein, ist logisch nicht nachzuvollziehen.
An solchen Details, nicht dagegen am Gesamtbild, lässt sich Levits spielerische Vorgehensweise festmachen. Und auch an bestimmten Grundhaltungen. So tendieren bei ihm ausgeweitete lyrische Charakteristika, wie sie in diesen späten Kompositionen Beethovens reichlich vorkommen, zur Verflachung. Wenn es in der Musik dagegen saust und braust, fühlt sich Levit inspiriert und zu entschiedener plastischer Eindringlichkeit aufgerufen.
Bei alledem macht Levit sich selbst und deshalb auch seinen Zuhörern nichts vor. Er bleibt ehrlich und bekennt sich zu seinem Verständnis, das er den jeweils vorgetragenen Kompositionen momentan entgegenbringt und die er entsprechend realisiert. Das spricht einschränkungslos für ihn. Die Geheimnisse der späten Abschiedsmusiken des Genies Beethoven wird er erkennen, aufspüren, uns mitteilen – möglichst authentisch, aber später!
András Schiff, am 21. Dezember 2013 sechzig geworden, wollte in seiner Karriere solche Geheimnisse immer ergründen, und er ging dabei bedächtig vor. So widmete er sich für seine Tonträger-Aktivitäten relativ spät Beethoven. Über dessen fünf Konzerte gelangte er zu den Sonaten, und erst 2012 ist er beim letzten großen Klavierwerk Beethovens, den Diabelli-Variationen, gelandet. Er wäre nicht der verantwortungsbewusst reagierende Künstler, als der er geachtet wird, wenn er sich dieser Mammutaufgabe, mit der er im Konzertsaal seit langem reüssiert, routiniert gewidmet haben würde.
Auf dem Deckblatt des beigefügten Textheftes zur ECM-Doppel-CD werden nur die Diabelli-Variationen ausgewiesen. In Wirklichkeit hat Schiff eine klingende Dokumentation des klaviergebundenen Spätwerkes Beethovens in chronologischer Abfolge vorgelegt. Dem Variationen-Zyklus op. 120 (von Beethoven 1819 begonnen und im Frühjahr 1823 beendet) ist die letzte Klaviersonate (c-Moll, op. 111) von 1822 vorangestellt, und die sechs Bagatellen op. 126 (von Ende 1823), welche die endgültig letzte Klavierkomposition Beethovens darstellen, werden dem Opus 120 nachgeordnet.
Eine zweite Besonderheit: Schiff hat den Variationen-Zyklus zweimal aufgenommen und auf zwei verschiedenen Instrumenten: mit der Sonate auf einem Bechstein-Flügel von 1921, mit den Bagatellen auf einem Fortepiano aus der Werkstatt Franz Brodmanns circa hundert Jahre früher.
Bemerkenswert unterschiedlich fallen die Werkwiedergaben aus, kaum in der künstlerisch-interpretatorischen Konzeption, umso kontroverser im Klangbild, wobei man genau hinhören muss, um dessen Wertigkeit gewahr zu werden. Es kommt für Schiff auf die instrumentalen Charakteristika an, auf die Abwendung vom auftrumpfenden heutigen Konzertflügel und seinem ausufernden, auf Auditorien, die nach Tausenden zählen, berechneten Großklang, den Beethoven, wie Schiff meint, nicht gemocht haben kann („Glaubt ihr wirklich, ich hätte meine Klaviermusik für solch gigantische Hallen komponiert?“, legt er dem Komponisten argumentativ-hypothetisch in den Mund).
Es sind mithin genuine Tonträger-Versionen, die Schiff vorstellt. Im heutigen Musikbetrieb kann man Beethovens utopiehaltiges Spätwerk über Diabellis Thema in dieser Ausführung öffentlich kaum zur angemessenen Wirkung bringen. Dafür offenbart es zu viel Leuchtkraft, auch eines nach innen gerichteten, heiteren, oft auch bärbeißigen Witzes und einer Verschränkung des Beethovenschen Adieus mit geradezu intellektuellen Vorgaben aus traditionellen musikalischen Bewusstheitsschüben, für die der taube Gigant kein Gehör mehr benötigte.
Ludwig van Beethoven: Die späten Klaviersonaten (opp. 101, 106, 109, 110, 111). Igor Levit. Sony Classical 88883747352
Ludwig van Beethoven: Diabelli-Variationen, Sonate c-Moll op. 111, Sechs Bagatellen op. 126. András Schiff. ECM New Series 2294/95