Heinrich Heine pries seine Herkunft „aus dem Lande Mozarts, Raffaels, Goethes“, und von Debussy wird der Ausspruch überliefert: „Chopin ist von allen der Größte, denn allein mit dem Klavier hat er alles schon entdeckt“. Seine Werke haben die Aura des Vollkommenen und gelten seit Generationen als Inbegriff der Klaviermusik. Chopins 200. Geburtstag bietet Max Nyffeler die Gelegenheit, ihrem Geheimnis etwas nachzuspüren.
Frédéric Chopin ist der seltene Fall eines Musikers, der von seinen ersten Auftritten als pianistisches Wunderkind in Warschau bis zu seinem Tod 1849 im Pariser Exil vom Publikum vorbehaltlos bewundert und geliebt wurde. Die Zuneigung zu seiner Musik hält bis heute ungebrochen an. Chopin-Rezitals eines Maurizio Pollini oder Krystian Zimerman füllen wie früher bei Arthur Rubinstein die Säle, weltweit existieren Chopin-Gesellschaften, und der alle zwei Jahre in Warschau stattfindende Chopin-Wettbewerb gilt als internationale Pianisten-Olympiade ersten Ranges. Was die kompositorische Rezeption angeht, so listet ein 1990 in Krakau veröffentlichtes Werkverzeichnis die Namen von rund 1.500 Komponisten auf, die seine Werke transkribiert haben. Die Spuren seiner Musik sind von seinen Zeitgenossen Liszt und Schumann über Brahms, Grieg, Ljadow, Skrjabin, Debussy, Mahler und Busoni bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zu verfolgen. Viele von ihnen haben die musikalischen Gattungen, die er als autonome Konzertgattungen zu höchster Vollkommenheit brachte und zum Teil auch begründete, übernommen und weiterentwickelt: Ballade, Prélude, Nocturne, Etüde, Scherzo. Schönberg hat im „Pierrot lui-naire“ den Chopin‘schen Walzer als schwindsüchtige Erscheinung parodiert, was aber mehr über das Wien seiner Zeit als über Chopin aussagt.
Musik für den Salon, aber keine „Salonmusik“
Der Wert von Musik wird oft am ominösen „revolutionären Materialverständnis“ eines Komponisten festgemacht. Das funktioniert vielleicht bei Beethoven, Wagner oder Schönberg, aber kaum bei Chopin. Seine Revolution war anders gelagert. Der soziale Ort seiner Musik war der Salon der Pariser Aristokratie zur Zeit des Bürgerkönigs Louis-Philippe, und hier verkehrte alles, was Rang und Namen hatte: der europäische Blut- und Geldadel, aber auch die kulturelle Elite von Heine, Liszt und Berlioz bis Delacroix und Balzac. Das war Chopins Publikum. Es war hingerissen von der schlackenlosen Schönheit seiner Musik und feierte darin das faszinierend Neue, das Chopin verkörperte. Es war eine Auffassung von Romantik, die, anders als die literarisch basierte deutsche, zur absoluten Musik tendierte; zu ihren äußeren Merkmalen gehörten geschlossene Formen, eine vollendete Melodik und ein von raffiniertesten Obertonwirkungen getragener Klang. Dazu kam eine Harmonik, die auf die damaligen Ohren tatsächlich revolutionär wirkte und mit ihrer kühnen Chromatik auf Wagner vorauswies.
Das alles fügte sich zu einer Musiksprache, die von programmatischen Elementen so gut wie frei war, aber gerade in dieser Reinheit eine solche Suggestivkraft entwickelte, dass sie an das Innerste der Zuhörer zu rühren vermochte und das auch heute noch tut. „Chopin deutet an, vermutet, schmeichelt, verführt, überredet; fast niemals behauptet er“, schrieb der französische Schriftsteller und Nobelpreisträger André Gide in seinen „Aufzeichnungen über Chopin“ und verglich Chopins exquisiten Tonfall mit demjenigen Baudelaires. Und der englische Chopin-Bio-graph Arthur Hedley konstatierte ein Paradox: „Werke, die vom zurückhaltendsten und exklusivsten aller Komponisten geschrieben wurden, sind ununterbrochen attraktiv für das Publikum beider Geschlechter, aller Nationen und aller Mentalitätstypen.“
Das Phänomen Chopin lässt sich nicht zuletzt aus diesem kunstvollen Schwebezustand zwischen nobler Zurücknahme und beispiellosem emotionalem Höhenflug erklären. Er meidet jede Theatralik, romantischer Überschwang ist bei ihm stets formal gebändigt. Das unterscheidet ihn vom extrovertierteren Franz Liszt, seinem Freund und Bewunderer. Es gilt selbst da noch, wo er seine ohnmächtige Wut über die Niederschlagung des polnischen Aufstands von 1831 durch die Russen in Töne verwandelte: in der „Revolutionsetüde“ op. 10 Nr. 12, in der aufwühlenden Ballade in g-Moll oder im schreckensstarren ersten Scherzo in h-Moll, dessen gläserne Klangkaskaden mit dem polnischen Weihnachtslied im Mittelteil einen bis zum Zerreißen gespannten Kontrast bilden. Als Grenzfall könnte man das Finale der Sonate mit dem Trauermarsch betrachten. Doch was hier mit den rasenden Oktavfiguren in der Bassregion wie wirres Action Painting erscheint, ist in Wahrheit ein genau konstruierter und kontrollierter Energieausbruch im Grenzbereich der Tonalität.
Wunderkind in unruhiger Zeit
Geboren wurde Frédéric Chopin am 1. März 1810 – einige Quellen nennen den 22. Februar – in Zelazowa Wola nahe Warschau als Sohn eines aus Lothringen eingewanderten Franzosen und einer polnischen Adligen. Er wuchs in eine politisch unruhige Zeit hinein. Ende des 18. Jahrhunderts war Polen unter Preußen, Russland und Österreich aufgeteilt worden und existierte als Staat nicht mehr. Nach einem kurzen Napoleon-Zwischenspiel kam 1815 „Kongresspolen“ mit der Hauptstadt Warschau unter die Herrschaft Russlands. Die Kultur war nun das einzige Band, das die polnische Nation noch zusammenhielt, und als Chopin, bereits international gefeiert, 1831 nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands ins Pariser Exil ging, war sie das Erbe, das ihn lebenslang begleitete.
Chopin war ein Wunderkind, darin Mozart ähnlich. Mit sieben Jahren begann er zu komponieren, mit neun in den Salons des Adels zu konzertieren. Zugleich lernte er im Unterricht beim Schlesier Joseph Elsner die Musik von Bach, Mozart und die zeitgenössischen Opern kennen und spielte das Wohltemperierte Klavier; die Einflüsse zeigen sich, ähnlich wie bei Schumann, unter anderem in den vielen Nebenstimmen, die sich im komplex aufgelösten Klaviersatz verstecken. Von Bedeutung für seine Melodiebildung war auch der italienische Belcanto – Chopin war ein begeisterter Operngänger. Von der Arie „Casta diva“ in Bellinis Norma führt eine gerade Linie zu Chopins Nocturnes. Diese Querverbindungen hat der Filmemacher Jan Schmidt-Garre in seinem neuen Film „Chopin in der Oper“ mit großer Deutlichkeit herausgearbeitet (siehe Kasten).
Der politische Chopin
In den Warschauer Salons hörte Chopin die politisch-patriotischen Gesänge der städtischen Oberschichten und improvisierte darüber am Klavier, und bei seinen sommerlichen Aufenthalten auf dem Land lernte er die Lieder und Tänze der Bauernbevölkerung kennen. Das sind die Wurzeln seines unverwechselbaren Tonfalls, aus dem schon seine Zeitgenossen eine unterschwellig rebellische Note heraushörten. „Chopins Werke sind unter Blumen eingesenkte Kanonen“, schrieb Robert Schumann 1836 in der „Neuen Zeitschrift für Musik“, und er meinte damit nicht etwa die grandiosen Polonaisen, sondern die Mazurken, Kleinformen voller poetischer Melancholie. Doch diese Poesie hatte einen doppelten Boden; darunter keimte die Saat der patriotischen Gefühle, die zum Widerstand anstachelten.
Klar erkennbar sind die politischen Referenzen in der f-Moll-Fantasie op. 49, wo Chopin unter anderem ein Lied der Aufständischen von 1830 von Karol Kurpinski verarbeitet hat. Man müsse sich schon die Ohren zustopfen, wenn man dieses Werk nicht als eine Art tragisch-dekorative Triumphmusik vernehmen wolle, dass Polen nicht verloren sei, schrieb Adorno in seiner „Einleitung in die Musiksoziologie“ über dieses Werk. Schumann war seinerzeit überzeugt: Wenn der russische Zar um die Wirkung dieser Stücke wüsste, würde er sie verbieten. Ein Jahrhundert später war es dann tatsächlich soweit – während der deutschen Okkupation Polens war Chopins Musik verboten. Als nach dem Krieg der aus dem Exil kommende Arthur Rubinstein in Warschau, Krakau und seiner Heimatsadt Łódz zum ersten Mal wieder auftrat, war das ein Ereignis von nationaler Tragweite. Tausende jubelten ihm zu.
Die Art, wie Chopin die politischen Inhalte in der Musik verkapselte, ist den Verfahren des späten Nono vergleichbar. Doch anders als dieser war Chopin nie offen politisch engagiert. Der Dichter Adam Mickiewicz, einer seiner Emigrantenfreunde in Paris, machte ihm Vorwürfe, dass er seine Musik nicht direkt in den Dienst des politischen Widerstands stellte. Und von den Anschauungen der George Sand, mit der er in Paris neun Jahre lang eine merkwürdige Lebenspartnerschaft führte, trennten ihn Welten. Als Vorkämpferin der Frauenemanzipation sympathisierte sie mit den sozialen Bewegungen des Vormärz, während er alle seine Gedanken nur am Klavier ausdrückte. Die Verwicklungen der Zeitgeschichte, die politischen und persönlichen Katastrophen bilden in Chopins Musik einen Subtext, der von ihr nicht abzulösen ist. Doch er lässt die Momente strahlender Schönheit, die am eingedüsterten Klanghorizont immer wieder hervorbrechen, nur umso deutlicher in Erscheinung treten.
Chopin global – Termine und Neuerscheinungen
Das Chopin-Jahr 2010 schlägt sich bei Veranstaltern und in den Medien in zahlreichen Aktivitäten nieder. Weltweit sind dem Komponisten ganze Konzertreihen und Festivals gewidmet. In Warschau stand Ende Februar ein internationaler Chopin-Kongress und am 1. März die Eröffnung des neuen Chopin-Museums auf der Agenda, im August folgen dann ein einmonatiges Musikfestival und im September der 16. Chopin-Wettbewerb. Beim Midem Classical Award, der jährlich im Januar in Cannes verliehen wird, wurde die Preisliste um den Chopin Special Award erweitert, mit dem künftig die beste Chopin-Interpretation prämiert werden soll. Diesmal ging er an den Russen Nikolai Demidenko für seine Aufnahme der Préludes und der Dritten Sonate beim Label Onyx, und als „Best Ever“-Produktion wurden die Walzer mit Dinu Lipatti (EMI) ausgezeichnet. Zu den polnischen Aktivitäten im Chopin-Jahr siehe
www.chopin2010.pl
• Der Musikfilm „Chopin in der Oper“ von Jan Schmidt-Garre geht den Einflüssen der italienischen Oper auf Chopins Klaviermusik in einer detailgenauen Dokumentation nach. Er war gerade am 28. Februar beim Chopin-Festival im Münchner Gasteig und auf 3sat zu sehen, die DVD erscheint im Mai bei Arthaus.
Auf dem CD-Markt gibt es zahlreiche Neuerscheinungen. Das Warschauer Chopin-Institut bringt in Polen eine Gesamtaufnahme der Werke Chopins, teilweise gespielt auf historischen Instrumenten, heraus. Demidenko ist hier mit den brillanten Variationen über „La ci darem la mano“, wenig bekannten Frühwerken und der Berceuse op. 57 auf einem Pleyel-Fügel zu hören. (NIFCCD 014, im Vertrieb von Codaex)
Bemerkenswert ist auch die Aufnahme der Klavierkonzerte mit dem vierzehnjährigen, hoch talentierten Polen-Kanadier Jan Lisiecki. (NIFCCD 200)
• Ein 2-CD-Sampler bei der Deutschen Grammophon unter dem Titel „The Art of Chopin“ bietet einen Archiv-Querschnitt mit Interpeten von Horowitz und Richter über Pollini bis Pogorelich und Lang Lang – eine Gelegenheit, die Vielfalt der Chopin-Interpretationen wenigstens im Schnupperverfahren kennen zu lernen. (DGG 480 3405)
Sony erinnert an Arthur Rubinstein, dessen Chopin-Spiel mit seiner Verbindung von moderner Klarheit, Ausdruckskraft und Eleganz bis heute unerreicht ist. Die Doppel-CD enthält die beiden Klavierkonzerte und eine Auswahl von Einzelwerken und, leider auch, -sätzen, wie den Trauermarsch aus der Sonate b-Moll. (Sony 88697648502)
Auffallend sind die vielen Aufnahmen mit jungen Interpreten. Von Rafał Blechacz, dem Gewinner des Chopin-Wettbewerbs 2005, liegen nach den Préludes nun auch die beiden Klavierkonzerte in einer Einspielung vor. Schnörkellose Klarheit und das richtige Gespür für Chopins Klangpoesie zeichnen die Aufnahmen aus. (DGG 477 8088)
Eine reizvolle Originalklang-Annäherung an die Préludes und zwei Balladen unternimmt Sheila Arnold auf einem Érard-Flügel, doch kommt sie mit dem Instrument nicht immer so gut klar wie Demidenko (WDR/Avi-Music 8553183).
An die Etüden, zeitloser Prüfstein jedes Pianisten, hat sich Ragna Schirmer herangewagt. Technisch ist sie den Stücken gewachsen, es fehlen ihr aber die entscheidenden letzten Zutaten, die aus den Etüden poetische Kunstwerke machen würden. (Berlin Classics 0300015BC)
Anna Gourari wendet diesem Aspekt in ihrem „Mazurka Diary“ viel Aufmerksamkeit zu, die sehr großen agogischen Freiheiten sind aber an der Grenze dessen, was diese Kleinformen ertragen. (Berlin Classics 0016662BC)
Anmut und Brillanz, Poesie und makellose Pianistik verbindet Alice Sara Ott in ihrer bemerkenswerten Einspielung aller Walzer – Platz eins unter den genannten Neueinspielungen!
• Schließlich ist noch eine neue Biografie zu erwähnen: „Chopin. Der Poet am Piano“ von Adam Zamoyski, erschienen in der Edition Elke Heidenreich bei Bertelsmann.
Anders als bei den früher beliebten Künstlerromanen über Chopin, handelt es sich hier um eine genau recherchierte, mit Fußnoten gespickte Arbeit. Sie bildet eine vorzügliche Ergänzung zum bereits 1999 bei Laaber erschienenen Band „Frédéric Chopin und seine Zeit“ von Mieczysław Tomaszewski, der mehr die ästhetischen Hintergründe ausleuchtet. mn