Die Neue Musik ist eines der letzten Hörabenteuer unserer an Musikrichtungen und -gattungen wahrlich nicht armen Zeit. Was sich unter dem weit gefassten – um nicht zu sagen: schwammigen – Begriff „Neue Musik“ genau verbirgt, ist umstritten. Klar ist nur, dass die Vorbehalte gegen die „Neutöner“ immer noch groß sind – trotz ausverkaufter Konzerte in Donaueschingen und überbuchter Darmstädter Ferienkurse. Der Vorwurf des elfenbeinernen Spezialistentums lastet nach wie vor über den Komponistinnen und Komponisten, die sich, scheinbar hermetisch abgeschottet vom kommerziellen Rest der Welt, angeblich einer „verständlichen“ Musiksprache „verweigern“. Um mehr Licht in diesen Zwist zwischen Gegnern und Befürwortern zu bringen, schlüpfte Burkhard Schäfer in die Rolle des „Agent Provocateur“ und befragte einen der renommiertesten deutschen Gegenwartskomponisten, den am 27. November 1935 in Stuttgart geborenen Helmut Lachenmann, zum Thema Neue Musik.
neue musikzeitung: Herr Professor Lachenmann, die Neue Musik - so sagen viele ihrer Kritiker häufig - führe ein Nischendasein, oftmals handele es sich dabei um schwer- bis unverständliche Musik von Spezialisten für Spezialisten. Was kann und sollte man Ihrer Meinung nach tun, um Neue Musik einem breiten Publikum zu vermitteln? Das Thema „Musikvermittlung“ wird ja momentan in Deutschland intensiv diskutiert…
Helmut Lachenmann: Was man tun sollte: aufklären, aufklären, aufklären – in allen Publikationsorganen, in den Schulen, den Hochschulen, den Universitäten, in den Feuilletons, den Kultursendungen, in den Programmheften, Podiumsdiskussionen, Einführungsveranstaltungen: jeder Tag, an dem dies – in welcher Variante auch immer – nicht geschieht, ist eine vertane Chance. Denn der Vorwurf, der Ihrer Frage zugrunde liegt, und der in einer Situation, wo die Verdummung Konjunktur hat, dreist die Rolle einer „vox populi“ für sich in Anspruch nimmt, und auch die Kulturverantwortlichen immer wieder beeindruckt und permanent zu verhängnisvollen Fehlentscheidungen führt, unterschlägt dummschlau, dass hier zwei unterschiedliche und letztlich inkompatible Erlebnisangebote sinnlos irreführend gegeneinander gehalten und perfide gegeneinander ausgespielt werden:
Hier das – absolut zu respektierende – Angebot des mehr oder weniger geistvollen Arrangements von kollektiven Glückserlebnissen für das sogenannte „breite Publikum“, dessen Nachfrage nach Harmonie, vertrautem Ohrenschmaus, im weitesten, und durchaus respektablen Sinne nach „Spaß“ und kollektiver Verzauberung gewinnbringend befriedigt wird und sich seines kommerziellen Aspekts keineswegs zu schämen braucht. Absolut zu respektieren, denn – mehr oder weniger geistvolle – Unterhaltung soll sein, und ich lasse mir die Liebe zur Musik Ennio Morricones, zu Pink Floyd, zu den Beatles, zu ABBA und den Mothers of Invention, zur pianistischen Kunst eines Oscar Peterson, zu Blixa Bargeld und seinen „Einstürzenden Neubauten“, zu den „Fantastischen Vier“, zu dem genialen Entertainer Helge Schneider und generell zur Musik als wie auch immer affektgewürzte Entspannung beziehungsweise geistvoll engagierte Unterhaltung von niemandem – und schon gar nicht moralisch – miesmachen.
Dort hingegen das sicher nicht anspruchslose Angebot: die Einladung, in der Begegnung mit Musik als autonomer Kunst an jener immer wieder abenteuerlichen Öffnung des ästhetischen und expressiven Erlebnishorizontes teilzunehmen, die im Lauf der europäischen Geistesgeschichte seit der frühen Mehrstimmigkeit den Musikbegriff – und mit ihm unser Bewusstsein – ständig neu reflektiert, erweitert und gewandelt hat, und der wir den ganzen stilistischen Reichtum und den ständig sich erweiternden und wandelnden Schönheitsbegriff der Musik von damals bis heute verdanken: von den Meistern des Organums, der polyphonen Satzkunst der Niederländer, der Madrigalkunst der italienischen Renaissance, über Bach, die Wiener Klassiker und sogenannten Romantiker Schubert, Schumann, Wagner, Brahms, Bruckner, Mahler, die „Impressionisten“, Schönberg und Varèse bis hinein in die atmende oder atemlose Stille und glasklare Transparenz der Werke Weberns, an welche die Abenteuer und Entdeckungen der Komponisten nach dem Zweiten Weltkrieg angeknüpft haben.
Und um nichts anderes geht es als um deren – der gedankenlosen Bequemlichkeit lästigen – Beitrag im aktuellen Musikleben. Dieser wird in schamloser Ignoranz als „publikumsfeindlich“ denunziert. Und im Namen des „homo tonalis“, vulgo: des – kommerziell interessanteren –„gesunden Volksempfindens“ wird das bräunliche Vermächtnis der Verfemung dessen aufgegriffen, was als ästhetisch „entartet“, „intellektuell überspitzt“, „volksfeindlich“ der Ausmerzung anheimfiel. Genau das wird durch solch desinformierende Diffamierung versucht.
Happiness- und Geborgenheitsvermittlung
Klar ist, dass ein kunstorientiertes Schaffen kommerziell keineswegs a priori nutzbar ist. Unter dem Aspekt jener standardisierten Happiness- und Geborgenheitsvermittlung durch Flucht in das Vertraute einschließlich jener touristisch genießbaren exotischen Idyllen, die sich geographisch-global ausbeutend „Weltmusik“, historisch ausbeutend „Klassik-Radio“, manchmal auch „Kuschel-Klassik“, nennen – kann die „Neue Musik“ nicht mithalten, aber warum sollte sie: ihre Rolle ist ein andere, und es ist Unsinn, ignorant – übrigens auch verräterisch im Hinblick auf die intellektuelle Insuffizienz ihrer Denunzianten – ihr das als Publikumsfeindlichkeit vorzuwerfen. Genau diese Haltung hat in den letzten Jahrhunderten immer wieder gerade solche Komponisten unbeachtet und wie auch immer verkannt gelassen und ausgegrenzt, deren Schaffen heute einen unverzichtbaren Wirtschaftsfaktor im kulturellen Dienstleistungsbetrieb darstellt.
Das Glück des Bergsteigers mit all seinen Entdeckungen und Risiken ist halt ein anderes, weniger leicht vermittelbares, aber letztlich nachhaltigeres als das – durchaus jedem gegönnte – Glück des sich in der Badewanne Erholenden oder dessen, der sich die Musik als warme Bettdecke über den überlasteten Kopf zieht. Wie gesagt, die unverantwortliche Barbarei beginnt dort, wo man gegenüber den Mitbürgern das eine gegen das andere ausspielt. Um das Maß meines Metaphernsalates vollzumachen: hier Bergwanderung, da Badewannenglück: Es sind verschiedene „Baustellen“.
nmz: Die Neue Musik – so lautet ein anderer Vorwurf ihrer Gegner – könne nur überleben, weil sie staatlich subventioniert und gefördert werde. Viele Komponisten der Neue-Musik-Szene hätten sich in ihrem Spezialistentum gemütlich eingerichtet, weil sie dank der Preisgelder, Stipendien und Fördermittel nicht gezwungen seien, unter ökonomischen Bedingungen zu arbeiten. Wie steht es also um das viel beschworene „kritische Potenzial“ der Neuen Musik?
Lachenmann: Dass die „Neue Musik“ – wer oder was genau ist gemeint: Schönberg, Berg, Varèse, John Cage, Stockhausen, Nono, Boulez, Berio, Feldman, Thomas Adès, Arvo Pärt, Steve Reich, Philipp Glass, Wolfgang Rihm, Brian Ferneyhough, Salvatore Sciarrino, Aribert Reimann, Mathias Spahlinger? – dass solche „neue“ Musik, nicht zuletzt im Hinblick auf ihre unverzichtbare Unabhängigkeit von kommerziellen Interessen, vom Staat, übrigens immer weniger, gefördert wird, in einem Land, welches sich mit seiner Tradition als Heimat eines Bach, Beethoven, Schumann, Wagner, Brahms brüstet, scheint mir eine Selbstverständlichkeit und ist ein Gütezeichen, das in anderen Ländern bewundert wird und auf das wir stolz sein sollten, statt dies hämisch an den Pranger zu stellen. Denn gerade auch diese zuletzt genannten Schöpfer einer „klassischen“ Musik, von denen jeder in kommerziell unnutzbarer Weise den Musikbegriff für seine Zeitgenossen geöffnet hat, hätten es ohne ein Minimum von Mäzenatentum nicht schaffen können. Hier ging und geht es nicht um „Subventionen“ sondern um Investitionen! Das sinnlos karikierende Zerrbild des dank öffentlicher Subventionen es sich gemütlich machenden, bequem seine schwer oder gar unverständlichen Basteleien verfertigenden Komponisten „neuer“ Musik, verdammt noch mal: wer zum Beispiel bitte ist denn gemeint? Einen einzigen erwähnenswerten Namen, bitte! Ich kenne keinen Komponisten, auf den diese demagogische Verhöhnung zutrifft.
Und die angemahnte Nachfrage in der Öffentlichkeit: Seit wann bedeutet Demokratie Respektlosigkeit, Rücksichtslosigkeit, Gleichgültigkeit gegenüber Minderheiten und gar deren Ausgrenzung? Immerhin: Donaueschinger Musiktage 2010, ausverkauft! Stockhausens „Gruppen“ unlängst in Berlin, ausverkauft; „Prometeo“ von Nono in Salzburg, ausverkauft seinerzeit und ein Kult-Erlebnis für die Jungen; die Werke von Hans Werner Henze, Wolfgang Rihm und Aribert Reimann, international in allen Opern- und Konzerthäusern; das weltweit begeisternde Wirken des „Ensemble Modern“ und der „Musikfabrik“, um nur zwei deutsche Gruppierungen zu nennen; und – mit Verlaub – die bei aller „Umstrittenheit“ Aufführungen meiner Oper „Mädchen mit den Schwefelhölzern“: siebenmal ausverkauft in Hamburg, wo die Leute aus allen Städten und Kontinenten angereist kamen und die Wartenden in Sechserreihen vor der Kasse skandierten „Wir wollen rein!“, ausverkauft in Stuttgart, ausverkauft in Paris, in Salzburg, Tokyo, in Madrid, in Berlin, in Frankfurt, in Wien: sind die davon Angezogenen alles Deppen?
Wobei – wie ja auch im Bereich der Forschung – auch das Scheitern von Projekten, der Misserfolg, das Misslingen, das schwächliche, unbefriedigende Ergebnis dazugehört und verkraftet werden muss, ebenso wie die nach außen nicht jedem vermittelbaren Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Philosophien und Konzeptionen des musikalischen Denkens.
Dass künstlerisches Schaffen heute in seiner a priori nicht unbedingt volkstümlich vermittelbaren Funktion als Aufbruch des Denkens und Fühlens, als Öffnung des Hörens ins Ungewohnte auch etwas mit dem Abenteuer der Forschung zu tun hat, rechtfertigt und begründet einmal mehr, dass die Neue Musik innerhalb des ertragsorientierten Marktes nicht so ohne weiteres überleben könnte. Ihr das zum Vorwurf zu machen, ist gefährlicher als niederträchtig: es ist dumm und verhängnisvoll.
Konkurrieren mit den stadionfüllenden Auftritten von Paul McCartney, Madonna oder Joe Cocker kann die „Neue Musik“ nicht, und auch nicht mit den Einschaltquoten bei Popmusik-Sendungen und nicht mit den Größenordnungen im Vertrieb der Tonträger. Es ist albern, ihr dies anzulasten.
Verstehen – eine schwammige Kategorie
Ein Rückfall in tonales Komponieren würde dem kaum abhelfen: dies in der Tat wäre „unverständlich“, denn gegen Haydn, Mozart, Beethoven, Brahms und Mahler käme ein solches Epigonentum doch nicht an. Übrigens: alle unter diesem Etikett „Neue Musik“ schlampig in einen Topf geworfenen Werke – wie komplex oder kompliziert deren Faktur auch immer sein möge – sie werden alle ebenso unmittelbar „verstanden“, wie eine Landschaft, ein Steinbruch, ein Sternenbild, ein meteorologisches Naturereignis, ein Abgrund, ein fremder Mensch, der uns begegnet, unmittelbar als wie auch immer irritierende Herausforderung an unsere hilflose Neugier „verstanden“ wird. Eben weil er „versteht“, zuckt der Verdrängungsbedürftige zurück. Und schreit nach der guten alten Tonalität, die er genau so wenig „versteht“, die ihn allenfalls weniger stört beziehungsweise verstört. Was soll das heißen: „verstehen“? Verstehen wir die „Kleine Nachtmusik“, das „Forellenquintett“ oder das Adagietto aus Mahlers Fünfter, weil wir deren Melodien nachpfeifen können? Verstehen wir ein Gewitter, einen Sonnenaufgang oder ein Erdbeben? Verstehen wir unseren Nachbarn, verstehen wir unsere Kinder – gar dann, wenn sie plötzlich zur Waffe greifen und Amok laufen – verstehen wir uns selbst? Was ist das für eine schwammige Kategorie nicht nur der Denk- sondern auch der Gefühlsfaulheit! Warum setzen wir uns nicht hin zu Feldmans zweitem Streichquartett, zu Stockhausens „Gruppen für drei Orchester“ oder Ferneyhoughs „Funérailles“ und lauschen, statt dass wir dauernd „verstehen“ wollen und eben dauernd „vermissen“? „Hören“ heißt: entdecken durch wahrnehmendes Beobachten, vor allem entdecken, dass wir entdecken und unseren Wahrnehmungshorizont öffnen können – ein intensiveres Glückserlebnis als solche befreiende Selbsterfahrung gibt es überhaupt nicht.
„Kritisches Potential“ – sinnlos prätentiöses Ansinnen, wenn man dabei an irgendwelche die Gesellschaft missionierenden Zielsetzungen denkt. Jede sinnlich vermittelte Erfahrung von unmanipulierter Kreativität, vulgo: Freiheit, ist per se subversiv und enthält in aller Unschuld so etwas wie ein kritisches Potential in einer in ihren Wertvorstellungen weithin standardisierten Spaß- und Spießgesellschaft. Eine kalte Dusche kann als Erfrischung glücklich, auch aufmunternd erlebt oder sie kann als „kritisches Potential“ störend erlitten werden, als mehr oder weniger irritierender Schock für unser die allgemeine Entfremdung verdrängendes Bedürfnis nach vertrauter Nestwärme.
nmz: Konsonanz, Harmonie und Tonalität – so lautet ein letzter hier zur Diskussion stehender Vorwurf der Skeptiker der Neuen Musik – stünden in dieser Musikrichtung unter Generalverdacht. Unter welchen (gesellschaftlichen) Bedingungen wären diese Dinge mit der Neuen Musik (wieder) vereinbar?
Lachenmann: Unter Generalverdacht: bei wem denn? Auch dieser Unterstellung liegt ein irreführendes und zugleich verräterisches Vorurteil zugrunde. Verräterisch, weil sich in solcher Desinformation die Ahnungslosigkeit dessen verrät, der die Musik, von der er spricht, nur vom Abschalten kennt. Als ob es irgendwo irgendein die Komponisten bevormundendes Reglement gäbe. Unendlich fataler und abstoßender wäre die Unterordnung des Komponierens unter die kunstfeindlichen Regeln beziehungsweise den Terror der kommerziellen Nutzbarkeit, denen sich übrigens schon so mancher „zeitgenössisch“ komponierende Schlaumeier in vorauseilendem Opportunismus angepasst hat. Natürlich ist jedem Komponisten unbenommen, tonal zu komponieren. Aber warum sollte er? Es war der gestrenge Schönberg, der gesagt hat: Kunst darf alles, außer langweilen: ein gewiss nicht unsuspekter Satz, denn gefragt werden darf: wen „langweilen“? Marcel Reich-Ranicki oder Sarah Palin? Und ich würde dann schon den anderen Satz noch hinzufügen: Kunst muss nichts, außer den Menschen an seine Geistfähigkeit erinnern.
Es mag sein, dass Komponisten auf der Suche nach dem eigenen Weg nicht nur von dem reden, was sie wollen, sondern kategorisch auch von dem, was sie vermeiden, überwinden, oder woraus sie als empfundenem Gefängnis herausfinden, gar ausbrechen wollen. Nach dem zweiten Weltkrieg waren die tonalen Kategorien mit ihren expressiven Vorgaben für viele junge Komponisten ausgereizt, ausgelaugt und unglaubwürdig. Sie konnten sich nicht begnügen mit Musik als einem von der Gesellschaft bereitgestellten ehrwürdigen Vehikel, in das man sich setzt, um eine wie auch immer feierliche Spazierfahrt damit zu machen. Einer Tradition der ständigen Horizonterweiterung verpflichtet und von ihr begeistert, so wie sie sich im Schaffen eines jeden „klassischen“ Komponisten beobachten lässt, dessen Musik uns etwas bedeutet von den Niederländern bis heute, ging es ihnen darum, den jeweils herrschenden Musikbegriff zu öffnen, das Wort „Musik“ gleichsam immer wieder neu zu buchstabieren. Genau das haben Bach, Beethoven, Schubert, Schumann, Wagner, Bruckner, Brahms Debussy, Schönberg, Luigi Nono quasi beiläufig geleistet! Und zwar, indem sie in kreativem Glück zugleich arglos und „rücksichtslos“ ihr Bestes gaben. Inzwischen hat sich die akustische Welt des als Musik Erlebbaren so erweitert und gleichsam ins Unendliche geöffnet, dass nicht nur Geräusche, sondern auch die Requisiten der guten alten Tonalität immer wieder beim Komponieren einen Platz finden. Anything goes? Na klar: wenn es mit neuer Intensität geladen wird.
Die Fragen stellte Burkhard Schäfer