Errollyn Wallen ist eine der meistgefragten Komponistinnen unserer Zeit. Ende Februar hatte ihr erstes Violinkonzert in Magdeburg seine deutsche Erstaufführung – nach Aufführungen in den USA, Kanada und Schottland. Sechs Orchester haben das Werk für den Violinisten Philippe Quint gemeinsam beauftragt. Eva Morlang hat die Komponistin am Theater Magdeburg getroffen.

Errollyn Wallen Foto: Dominic Harris
Manchmal vergessen wir, dass Musik für alle da ist
neue musikzeitung: Wir treffen uns zwischen den Proben für die Deutsche Erstaufführung Ihres Violinkonzerts. Wie kam diese internationale Zusammenarbeit zustande?
Errollyn Wallen: Darin steckt die Energie von Philippe Quint. Er hat drei Jahre gebraucht, um all die Orchester und Dirigent*innen zusammenzubringen. Von der ersten Premiere im März 2024 mit dem Calgary Philharmonic Orchestra war ich bei jeder einzelnen Aufführung dabei. Ich glaube, es gab jetzt 14 Aufführungen – in weniger als einem Jahr. Das ist unglaublich! Bei allen Beteiligten, und natürlich Philippe, war die Begeisterung zweihundert Prozent. Es war wirklich etwas ganz Besonderes.
nmz: Wie entwickelt sich so ein Stück dann im Laufe der Aufführungen weiter?
Wallen: Ich habe viele Anpassungen vorgenommen, vor allem für die Balance. Die Dirigent*innen kommen aus verschiedenen Ländern und es war interessant für mich, dass sie ihr kulturelles Erbe mitbringen. Selbst eine Melodie findet bei verschiedenen Menschen unterschiedliche Resonanz. Dadurch habe ich verstanden, dass ein Stück durch die Besonderheiten der jeweiligen Orchester weiter wachsen kann. Wir sprechen nicht davon, dass ich etwas groß umschreibe. Es geht darum, wie die Musik in diesem Moment atmen kann. Es hängt von der Akustik ab, von der Form des Saals. Außerdem hat jeder Spieler seinen eigenen Klang, und das Orchester ebenso. Diese Reise des Violinkonzerts hat mir klar gemacht, dass Musik etwas Lebendiges, Atmendes ist. Die Verantwortung der Partitur besteht darin, so klar wie möglich zu sein. Aber innerhalb dieser Partitur sollen unterschiedliche Interpret*innen unterschiedlich atmen können.
nmz: Zu Beginn Ihrer Karriere konnten Sie vermutlich noch bei allen Stücken bei Proben anwesend sein, aber jetzt wird Ihr Werk so viel aufgeführt, dass das gar nicht mehr möglich ist.
Wallen: Ja, das fühlt sich immer noch seltsam an. Ein Stück, das ich letztes Jahr geschrieben habe, wurde drei oder vier Mal aufgeführt, und ich habe es immer noch nicht gehört. Ich träume von diesem Stück, ich denke, ich hoffe, es klingt… (lacht) Im März werden zwei Stücke am selben Tag aufgeführt und ich kann nicht dabei sein, weil ich ein anderes Stück schreiben muss. Wenn man komponiert, weiß man nie, wie lange es dauert, ein Stück zu vollenden – und ich bin eine schnelle Komponistin. Ich schaue immer voraus und denke schon vorher an die Stücke. Für das Violinkonzert hatte ich nur zwei Monate Zeit.
nmz: Zwei Monate? Das ist kurz.
Wallen: … für ein 25-Minuten-Werk. Der Auftrag war gar nicht so kurzfristig, aber meine verfügbare Zeit war knapp, weil ich noch andere Stücke im Terminkalender hatte. Der Druck war hoch, weil all diese Orchester auf das Stück gewartet haben. Das war eine intensive Zeit.
nmz: Sie haben für Chor und Orchester geschrieben, von Kammermusik bis hin zu Opern. In welcher dieser Gattungen fühlen Sie sich am meisten zu Hause?
Wallen: Mir war immer wichtig, dass ich alles in Angriff nehmen kann, von einem einfachen Lied bis hin zu großen Werken. Ein neues Stück ist immer eine neue Reise für mich. Und du schreibst nicht nur ein Musikstück, du schreibst für Menschen, vielleicht für einen Anlass, für einen Ort. Im Moment reizen mich Werke für Orchester. Vielleicht auch deshalb, weil ich in diesem Jahr zwei zu schreiben habe. Die Liedform scheint mir leicht zu fallen, und ich habe zu einer Zeit Lieder geschrieben, als viele zeitgenössische Komponist*innen das nicht taten. Dadurch wenden sich Leute an mich, wenn sie etwas mit Worten und Musik brauchen.
nmz: Wenn Sie auf Ihre Stücke von den 1990er-Jahren bis heute zurückblicken, wie hat sich Ihr Musikstil entwickelt und gibt es etwas, das Sie über all die Jahre beibehalten haben?
Wallen: Als Komponistin habe ich mir nie Gedanken über den Stil oder meine eigene Stimme gemacht. Ich bin einfach neugierig darauf, wie Musik funktioniert. Mein Werk ist entstanden, weil ich, wie ich schon sagte, über die Situation, die Interpret*innen, die Dauer nachgedacht habe – diese Dinge stehen für mich im Vordergrund. Was ich über die Zeit entwickelt habe, ist Technik. Man versteht mehr über Instrumente, und lernt, wie man eine Partitur schreibt, die den Interpret*innen Raum für sich selbst lässt, aber dennoch klar macht, was zu tun ist.
nmz: Sie sind in Belize geboren, in London aufgewachsen und haben Ihre Liebe zur Musik durchs Tanzen entdeckt. Wie sind Sie darauf gekommen, Komponistin zu werden?
Wallen: Ich habe immer komponiert, gesungen und kleine Melodien erfunden. Und als ich mit neun Jahren anfing, Klavier zu lernen, war es, als hätte ich schon längst Musik gemacht. Aber ich dachte nicht, dass das etwas Besonderes ist. Wenn man ein Kind bittet, ein Lied, einen Tanz oder ein Bild zu erfinden, dann macht es das einfach, weil es ihm Spaß macht. Es ist ein natürlicher Teil aller Menschen zu komponieren. Aber ich hätte nie gedacht, dass ich mal Komponistin werden würde. Komponist*innen schienen mir wie aus einer anderen Welt, und ich wusste nicht, wie man das wird. Jetzt verstehe ich, dass bei Komponist*innen aller Zeiten, die Musik einfach aus dem Körper und dem Geist kommt. Am Ende stehen zwar diese kleinen Punkte auf dem Papier, aber sie kommt von einem sehr natürlichen Ort, aus dem Atem, aus dem Sein in der Welt.
nmz: Sie haben mal gesagt, als Sie sich entschieden haben, Komponistin zu werden, war es ziemlich „straight forward“. Wie wussten Sie, was die Schritte sind?
Wallen: In der Schule habe ich über Komponisten gelesen und mich wirklich für sie interessiert, wie sie lebten, was sie taten, wo sie studierten. Das hat mich fasziniert. Aber sie waren alle so anders als ich. Als ich mich entschied, mich als Komponistin zu bezeichnen, war es, als ob ich etwas in mir freigesetzt hätte. Es war nicht einfach, Möglichkeiten zu bekommen oder Leute zu finden, die meine Musik spielen. Aber das Gefühl zu haben, dass das mein Weg ist, das war einfach. Es gab eine schwierige Zeit, da habe ich ganz ehrlich in die Zukunft geschaut und mir bewusst gemacht: Komponistin zu sein, könnte bedeuten, dass du in Armut lebst und dass niemand deine Musik spielt. Ich habe mir zwei Tage lang diese Zukunft realistisch vorgestellt und darüber nachgedacht, ob ich diesen Weg weitergehen will.

Errollyn Wallen Foto: Dominic Harris
nmz: Sie haben auch ein Buch über Ihre Erfahrungen geschrieben: „Becoming a Composer“. Auf welche Hindernisse sind Sie gestoßen, von denen Sie sich wünschen, dass Sie der nächsten Generation erspart bleiben?
Wallen: Musik hat etwas an sich, das jedem einzelnen Menschen gehört, in jedem Alter, in jeder Lebensphase. Und manchmal ist es so, als ob wir vergessen, dass sie für alle da ist. Musik ist überall um uns herum. Noch nie haben wir in einer Zeit gelebt, in der so viele Menschen Musik konsumieren. Wenn man zu Fuß unterwegs ist, kann man nicht einfach auf der Straße nach dem Weg fragen, weil alle Musik hören.
Aber trotzdem machen die Leute diese Gleichung nicht, dass Musik viele Formen hat und für jeden da ist. Das ist jetzt nicht so sehr ein Rat für Komponist*innen und Musiker*innen, sondern für Musikliebhaber, die herausfinden wollen, wie Musik gemacht wird: Sie werden feststellen, dass Sie sie selbst machen können.
nmz: Ich fühle mich ermutigt.
Wallen: Seien Sie ermutigt! Ich kann Ihnen nicht sagen, wie fantastisch es ist, damit zu beginnen. Und es fängt so einfach an! Wissen Sie, ich setze mich hin, weiß nicht, was ich tun soll. Und dann fällt mir etwas ein. Wir stellen es oft als etwas Großes dar und schreiben so über Musik, als sei das alles sehr kompliziert. Und so haben Leute das Gefühl, davon ausgeschlossen zu sein. Ich hasse Worte wie Inspiration oder Gabe. Es ist doch etwas sehr Unmittelbares, an Musik teilzuhaben.
nmz: Hat das auch mit den Kategorien zu tun, in die wir Musik immer versuchen zu stecken? Wenn wir nochmal auf die Kinder zurückkommen, die ganz natürlich komponieren, dann liegt das auch daran, dass sie keine Kategorien oder Namen dafür kennen. Sie tun es einfach. Glauben Sie, dass das ein Faktor ist?
Wallen: Ich denke schon. Die Kategorisierung entsteht, glaube ich, oft aus einer Begeisterung heraus, aber sie kann Probleme verursachen. Zu Beginn meiner Karriere sagte mir mal eine Plattenfirma: „Wir können Ihnen nicht helfen, weil wir Ihre Musik nicht in eine Schublade stecken können.“ Das ist doch absurd, oder?
nmz: Wie sind Sie damit umgegangen? Denn Ihre Musik ist wirklich schwer in irgendeine Genre-Kategorie einzuordnen.
Wallen: Ja, Leute sind verwirrt davon. Aber wissen Sie, innerlich bin ich wie ein Kind. Ich mache in der Musik, was ich will. Ein Komponist sagte mal zu mir, er schreibe die Musik, von der er denkt, dass sie aufgeführt wird, anstatt die Musik zu schreiben, die er schreiben will. Können Sie sich das vorstellen? Das werde ich nie sein. Ich dachte von Anfang an, ich muss die Musik schreiben, die ich schreiben will. Als ich in meiner Ausbildung gemerkt habe, dass meine Musik nicht so klingt wie die der Komponisten, die ich liebe – Boulez, Stockhausen, Berio, Nono – da war das ein Schock für mich. Aber ich denke, jeder muss die Musik seiner Zeit schreiben. Wenn ich Musik schreibe, geht es nicht darum, mich selbst auszudrücken, das interessiert mich nicht so sehr. Es ist wie bei einem Künstler oder Töpfer: Man hat den Ton und sucht nach dem Potenzial, das im Ton steckt. Ich denke nicht: Oh, was sagt dieser Ton über meinen heutigen Tag aus? Ich versuche, darin Elemente zu finden und aus denen dieses oder jenes zu machen.
nmz: Und Sie haben damit großen Erfolg!
Wallen: Ich genieße es, dass ich mit großartigen Musiker*innen zusammenarbeite. Ich sehe und bewundere den Aufwand, die Zeit und das Engagement, die sie aufbringen. Wenn ich jetzt Musik schreibe, weiß ich, dass ich für Leute schreibe, denen sie wirklich etwas bedeutet. Sie geben dafür ihr Herzblut. Es ist ein Beruf, der einen aufzehrt, aber er ist es wert.
nmz: Ich hatte gar nicht vor, etwas Politisches zu fragen, aber diese Hingabe und Anstrengung, von der Sie da sprechen – sehen Sie die gefährdet in Zeiten, in denen Mittel und Spielräume knapper werden?
Wallen: Wir leben in gefährlichen Zeiten. Mir ist wichtig, für einen gleichberechtigten Zugang zu Musik zu plädieren. Für Kinder jeden Alters und auch für ältere Menschen, die später in den Beruf einsteigen, den Zugang für alle gleichermaßen zu öffnen. Ich habe das Gefühl, dass wir bereits Generationen verloren haben. Sicherlich haben wir neue aufstrebende Talente. Aber ich weiß auch, dass viele Leute klassische Musik als etwas Elitäres ansehen, und denken, dass man sie nur studieren kann, wenn man aus einem bestimmten Milieu kommt. Und das war Musik nie.
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