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Muffige Re-Importe gibt es nicht

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Grenzenlos: das Konzept des World New Music Festivals 2006
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Zwei Festivals, die sich überhaupt nicht gleichen, stellt die Redaktion in dieser Ausgabe vor. Das Forum Neuer Musik in Köln (siehe Seite 14) und das World New Music Festival „grenzenlos“ in Stuttgart. Andreas Kolb sprach mit den Festivalleitern. Christine Fischer hält als Managerin der Neuen Vocalsolisten Kontakt zu zahlreichen Veranstaltern und Partnerensembles in Europa. Vor einem Jahr übernahm sie die Leitung des ISCM World New Music Festival, das im Juli 2006 in Stuttgart im Auftrag der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik stattfinden wird.

nmz: Das Festival MärzMusik in Berlin thematisiert Fernost und den Westen, das Forum Neuer Musik des Deutschlandfunks heißt 2006 „Begegnungen FernMittelOst“. Aber nicht nur die Spezialfestivals, auch etablierte Klassikfestivals öffnen sich zunehmend der Musik anderer Kulturen. Wie positioniert sich „grenzenlos“, das World New Music Festival in Stuttgart, innerhalb dieser Tendenzen?

Christine Fischer: Das ist eine logische Entwicklung. Ich denke, die Konzepte der Veranstalter gehen einher mit den Bedürfnissen der Künstler und auch der Rezipienten. Im Zeitalter der grenzenlosen Kommunikation, der Mobilität, des permanenten Informations-(über)flusses weiß man viel vom anderen und will und sollte noch mehr und vor allem kompetent wissen. Die Welt hat ein so enges Bezugssystem, die Globalisierung greift in das Leben jedes einzelnen Menschen jedes Landes ein, und ungeachtet der trennenden Grenzen von Staatsideologien und Religionen entsteht bei vielen ein Zusammengehörigkeitsgefühl und eine Solidarität gegenüber allen Menschen aller Kulturen.

Und es entsteht auch eine große Neugierde. Es gibt seit langem zahlreiche Künstleraustauschprogramme, Gastdozenturen und so weiter. Auch die Festivals müssen und wollen auf diese Entwicklungen reagieren. Daran gemessen war die ISCM (Internationale Gesellschaft für Neue Musik), der offizielle Träger des Festivals, bislang vergleichsweise traditionell. Die Partituren, die aus den 50 Mitgliedsländern als Vorschläge für das Festival eingesandt wurden, sind sehr an europäischer Ästhetik ausgerichtet. Das hat natürlich mit unterschiedlichen Kunstbegriffen zu tun, unsere europäische Definition für das Kunstwerk als Unikat und die Obligatio des „Neuigkeitswertes“ spielte in anderen Kulturen überhaupt keine Rolle. Aber ein World New Music Festival, das sich anmaßt, die Neue Musik der Welt vorzustellen, muss über den Tellerrand hinausblicken in andere Kulturen. Das ist für mich auch eine politische Frage. Insofern war es für mich selbstverständlich, andere Kulturen in das Festival einzubeziehen beziehungsweise einen anderen Blickwinkel einzunehmen auch gegenüber den Ländern und Kulturen, die zur ISCM gehören.

nmz: Was ist – in aller Kürze – das Konzept von „grenzenlos“ im Vergleich zu den vormaligen Weltmusiktagen, deren Tradition bis 1923 zurückreicht?

Fischer: Ich habe nicht 80 Jahre ISCM analysiert. Wahrscheinlich waren noch nie so viele verschiedene Kulturen integriert. Vermutlich war der Altersdurchschnitt der Komponisten noch nie so jung. Und es gab noch nie so viele interkulturelle Projekte. Dennoch habe ich versucht, der ISCM gerecht zu werden, und habe Musik aus fast allen der 50 Mitgliedsländer einbezogen – wenn auch nicht so viele der offiziell eingereichten Werke.

nmz: Welche Folgen kann/soll „grenzenlos“ haben? Oder anders ausgedrückt: Ist dieses Großfestival nachhaltig angelegt oder ein einmaliger Event?

Fischer: Das ISCM-Festival wird wohl in einigen Jahren auch wieder in Deutschland stattfinden, aber sicher zu unseren Lebzeiten nicht in Stuttgart. Insofern ist es einmalig. Dennoch hat dieser ganze Aufwand für mich nur einen Sinn, wenn eine Nachhaltigkeit entsteht. Ein solches „Event“ kann viel in die Gesellschaft hinein transportieren, es erreicht eine hohe Aufmerksamkeit. Ich habe zahlreiche Vermittlungsprojekte im Zusammenhang mit dem Festival initiiert, für hunderte von Schülern, aber auch für Erwachsene, ich hoffe also, Neue Musik selbstverständlicher in unserem Kulturleben zu verankern.

Mein anderer Wunsch bezieht sich auf die Zusammenarbeit der Veranstalter und Ensembles für Neue Musik. Sehr viele Institutionen, Ensembles, Musikologen und Vermittler sind in das Festival integriert oder haben gar am Konzept mitgewirkt, es ist ein Ereignis für die ganze „Szene“ Neuer Musik in Deutschland. Dieser Zusammenhalt soll bestehen bleiben. Als gegenseitige Lobby, als „Ideen-Pool“ können wir die Bedeutung der zeitgenössischen Musik ganz anders in der Öffentlichkeit bewusst machen. Oder gar, wie ich hoffe, Begeisterung hervorrufen.

nmz: Was bietet der Standort Stuttgart? Warum kommt das World New Music Festival in den Süden der Republik?

Fischer: Wir haben uns für das Festival beworben, ein gutes Konzept abgeliefert und den Zuschlag bekommen. Stuttgart hat eine hochinteressante und reichhaltige Kulturszene, und viele Kollegen beteiligen sich mit einem ungeheuren Einsatz am Festival. Allen voran die Staatsoper Stuttgart und das Forum Neues Musiktheater mit vier Eigenproduktionen, der SWR, dessen Klangkörper „Ensembles in residence“ sind, die Akademie Schloss Solitude, das Stuttgarter Kammerorchester, aber auch das Kunstmuseum und viele andere. Außerdem – das ist jetzt mein Lokalpatriotismus – hat Stuttgart eine wunderschöne Umgebung, es lohnt sich, hier seine Ferien mit dem Festival zu verbinden (das Festival ist in der zweiten Julihälfte!)

nmz: Welche ästhetischen Kriterien werden für Einladungen nach Stuttgart angelegt? Ist der Begriff Neue Musik für das Programm noch tauglich? Und bekommen wir jetzt den Reimport von seit Jahrzehnten, oder sogar Jahrhunderten exportierter westlicher Kultur?

Fischer: Nein. Kein Reimport. Wir (Europäer) haben importiert und exportiert wie andere Kulturen auch, seit hunderten von Jahren. Den etwas „muffigen“ Reimport in ISCM-Gefilden, den Du meinst, habe ich weitgehend vermieden. Mich interessiert, was junge Künstler im 21. Jahrhundert umtreibt, wo sie sich positionieren, worauf sie sich beziehen und welches Neuland sie beschreiten. Dieses Neuland findest Du in allen Kulturen der Welt. Natürlich ist das „Neue Musik“.

nmz: Das ISCM World New Music Festival entsteht im komplexen Zusammenspiel unterschiedlicher Organisationen und Verbände wie DEGEM, HKW, INNM oder auch örtlichen Veranstaltern wie Musik der Jahrhunderte und dem Theaterhaus Stuttgart. Wie bringt sich da jeder ein?

Fischer: Ich habe mir gewünscht, dass jede Institution ihr besonderes Profil ins Festival einbringen kann. Das zieht sich durch bis hin zu den Konzertprogrammen. Ich habe mit jedem einzelnen Ensemble lange gesprochen, welche Musik sie interessiert, mit welchen Kulturen sie sich gerne auseinandersetzen wollen, welche Stücke sie noch vorschlagen wollen. Man kann, glaube ich, die Profile im Programm ziemlich gut erkennen.

 

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