Mit dem ECHO-Preis zeichnet die Deutsche Phono-Akademie, der verlängerte Promotion-Arm des Bundesverbandes Musikindustrie, seit 1993 die Bestseller der Schallplattenfirmen aus. Während es dem ECHO unter Musikern und Fachleuten an Glaubwürdigkeit mangelt, mangelt es dem unter Musikern hoch angesehenen „Preis der deutschen Schallplattenkritik“ an Beachtung. Aus Anlass des 30-jährigen Jubiläums dieser geballten Jurorenfachkompetenz führte Andreas Kolb, Chefredakteur der nmz, ein Gespräch mit Professor Dr. Lothar Prox, dem Vorsitzenden des Vereins „Preis der deutschen Schallplattenkritik e.V.
neue musikzeitung: Waren Sie am 17. Oktober 2010 bei der ECHO-Preisverleihung zugegen?
Lothar Prox: Nein, ich konnte aber die Gelegenheit nutzen, in die Fernseh-übertragung hineinzuschauen.
nmz: Beim ECHO zeichnet sich die Industrie selbst aus. Wer steht dagegen hinter dem Preis der deutschen Schallplattenkritik?
Prox: Es ist der Verein selbst, die rund 140 Mitglieder als Juroren, die den Tonträgermarkt seit 30 Jahren beobachten und in jedem Quartal Empfehlungen zu Neuveröffentlichungen herausgeben und außerdem Jahrespreise ermitteln.
nmz: Der Preis der deutschen Schallplattenkritik gilt als unabhängige und daher begehrte Auszeichnung. Warum?
Prox: Wir sind meines Wissens das einzige „Preisunternehmen“ für den Bereich der Tonträger, das unabhängig von der Industrie agiert. Seit Gründung des Vereins gelten zwei Prinzipien: 1. Wir arbeiten ehrenamtlich, und 2. Wir nominieren und bewerten unabhängig.
nmz: Sie feiern dieses Jahr 30-jähriges Bestehen. Eigentlich gibt es den Preis der deutschen Schallplattenkritik aber schon wesentlich länger, oder?
Prox: Die Arbeit der Juroren datiert letztlich zurück bis 1963. Damals wurde der Herausgeber des Bielefelder Katalogs, Richard Kaselowsky, initiativ, um den aufkommenden Tonträgermarkt kritisch zu begleiten. Der Schallplattenpreis durchlief dann mehrere Phasen, in denen auch Abhängigkeiten eine Rolle spielten. Zeitweise in den 70er-Jahren übernahm die Phono-Akademie, das Kulturinstitut der Musikindustrie, die Trägerschaft, die 1979 wieder aufgesagt wurde, als unsere Kritiker eine Aufweichung der unabhängigen Preisfindung definitiv ablehnten. Seit 1980 arbeitet der Verein in seiner heutigen Form und hält sein Prinzip hoch: Maßstab der Entscheidungen ist oberste Qualität.
nmz: Wie haben Sie Ihr 30-Jähriges gefeiert? Mit einer repräsentativen Gala?
Prox: Die können wir uns derzeit nicht leisten. Der Verein ist arm. Unsere Mitglieder arbeiten nicht nur ehrenamtlich, sondern finanzieren sich selbst mit ihren Beiträgen (ansonsten sind wir dem Bund für seine Basisförderung dankbar). Um wirkungsvoller in der Öffentlichkeit aufzutreten, bedarf es vermehrter Anstrengungen. Insofern „belohnen“ wir uns zum 30-Jährigen mit einem Reformprogramm auch in der Erwartung, zukünftig einen besseren Förderstatus zu gewinnen.
nmz: Der goldene Sticker Ihres Preises ist begehrt bei den Labeln, aber auch beim CD-Käufer. Auf dem CD-Markt ist aber längst nicht mehr alles Silber, was glänzt.
Prox: Trotz erheblicher Einbußen in den letzten zehn Jahren steht die Tonträger-Industrie nicht so schlecht da. Die empfundene Krise im Musikmarkt ist teils hausgemacht, muss meines Erachtens aber in größerem, sozialen Zusammenhang gesehen werden. Nicht nur, dass das Internet eine „Free-Rider-Mentalität“ erzeugt hat, die der Industrie zu schaffen macht, gravierender ist wohl, dass ein gesellschaftlicher Konsens über die unanfechtbare Bedeutung von Kunst und Musik weitgehend aufgehoben scheint. Heute kann jeder sein eigenes Kulturpaket schnüren: Konzert oder Fußball oder Fernsehen oder Computerspiele. Es herrscht Konsumsouveränität, und es ist der Markt, der die diversen Wünsche des Publikums gleichwertig bedient. So gilt es für den „Bildungsbürger“ nicht mehr als banausisch, zu sagen: „Musik interessiert mich nicht“.
nmz: Worin sieht der Preis der deutschen Schallplattenkritik seine Aufgabe im Rahmen dieser Gemengelage?
Prox: Wir müssen unsere Arbeit besser vermitteln. Der neue Vorstand unseres Vereins hat eine Reihe von Reformen durchgesetzt, beginnend mit der Verlagerung unserer Geschäftsstelle von Berlin nach Bonn ins Haus der Kultur. Tatsächlich eröffnet die Rheinschiene bessere Möglichkeiten für Partnerschaften und innovative Projekte. Was die internen Aufgaben betrifft, so haben wir fast antizyklisch die Qualitätsansprüche für die Ermittlung und Empfehlung der besten unter den neuveröffentlichten CDs und DVDs verschärft. Und da wir vorerst von einer zentralen Preisfeier absehen, tragen wir unsere Jahresauszeichnungen in Absprache mit den Veranstaltern direkt in die diversen Konzertsäle, wo die Laureaten auftreten. Übrigens gestaltet der bekannte Künstler Daniel Richter sympathischerweise ganz ehrenamtlich eine Trophäe für unsere Ehrungen, so dass wir die Vergabe von Urkunden ersetzen können.
Obwohl unsere Juroren konstant gefordert sind, existiert natürlich ein unausgeschöpftes Potenzial der 140 Journalisten und Musikkritiker, für das sich zunehmend auch Veranstalter und Festivals interessieren.
Wir tragen dem Rechnung. Jüngstes Beispiel: Unsere Experten aus 29 Jurys können je nach Thema ein Phonographisches Quartett besetzen, das Tonträger vergleichend interpretiert, wie jüngstens geschehen beim Stuttgarter Musikfest oder beim Bonner Beethovenfest. Im ersteren Fall diskutierten Experten der Opernjury Schumanns „Faust“-Szenen, während in Bonn vier Experten der Klavierjury historische und aktuelle Einspielungen der „Diabelli“-Variationen von Beethoven kritisch verglichen. Es erweist sich, dass der Aspekt der Musikinterpretation beim Publikum willkommen ist und unbedingt der Förderung bedarf.
nmz: Sie haben auf Ihrer Homepage ein Zitat des französischen Pianisten Pierre-Laurent Aimard: „Was ich schön finde: dass ein Land wie Deutschland noch eine Menge von Kritikern hat, die wirklich kultiviert sind und eine Vision für eine kulturelle Welt haben.“ Stimmt das noch? Es gibt heute jede Menge Vorberichte, Porträts, Interviews, aber keine Kritik. Ist die Musikkritik – ebenso wie ihr Gegenstand – auch in der Krise?
Prox: Die Arbeit des Kritikers verändert sich. Ein Problem liegt darin, dass die Redaktionen der Printmedien zunehmend Rücksicht auf das Eventbedürfnis des Publikums nehmen. Tiefschürfende Rezensionen sind kaum mehr erwünscht, eher sondert man Journalisten aus. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung, die größte Deutschlands, beschäftigt keinen festangestellten Musikkritiker mehr. Soviel ich weiß, hat die FAZ in den letzten Jahren fünf Kollegen eingespart und die Süddeutsche Zeitung beschäftigt nur Reinhard Brembeck als festangestellten Musikrezensenten.
Dieser Aderlass, der erst recht die kleineren Blätter betrifft, bestätigt den Verdacht, dass die klassische Disziplin Musikkritik langsam verschwindet. Die Ursachen liegen bekanntlich tiefer. Vor Jahrzehnten bereits sprach Adorno von einer „Regression des Hörens“. Prominente Stimmen der Kulturkritik pflichten dem bei. Man lese dazu die scharfsinnigen Betrachtungen des Amerikaners Edward W. Said in der kürzlich erschienenen deutschen Ausgabe seiner gesammelten Rezensionen aus dreißig Jahren „Musik ohne Grenzen“. Said brandmarkt die Verflachung der künstlerischen Maßstäbe, bedauert Interpretationsnormen, die auf den Hund gekommen sind, schilt risikoscheue Musikveranstalter und träge Konzertbesucher.
Im Vorwort bringt es Daniel Barenboim auf den Punkt: „Die Musik gilt nicht mehr als notwendiger Aspekt der geistigen Entwicklung.“ Unsere Mitglieder vertrauen dennoch ihrem Auftrag, Qualität gegen lautstark beworbene Produkte zu verteidigen, und sehen es nicht als Donquichotterie, das Erlebnis Musik auf die Ebene intelligenter, kritischer Rezeption zu heben.
nmz: Der Preis der deutschen Schallplattenkritik verfügt auch über Jurys in den Sparten Populäres. Halten Sie Musikkritik in diesem Genre für nötig?
Prox: Natürlich pflegt ein Autor, der über Pop und Rock, Blues oder Jazz schreibt, ein anderes Verhältnis zu seinem Gegenstand als der Kollege, der eine Einspielung der Diabelli-Variationen bespricht. Gleichwohl schreiben unsere 140 Mitglieder, die sich in 29 Sektionen der Preisfindung betätigen, darunter etliche U-Musik-Jurys, jeweils als Experten über ihr Sachgebiet.
nmz: Sie haben Jahrespreise 2010 und Ehrenpreise 2010 zu vergeben.
Prox: 10 Jahrespreise und drei Ehrenpreise, auch einen Sonderpreis. Ein Jahresausschuss von neun Juroren ermittelt die Auszeichnungen. Übrigens informiert darüber sehr sinnlich unsere neue Webseite: www.schallplattenkritik.de.
nmz: Was tun sie für den Nachwuchs im Musikjournalismus?
Prox: Ein solcher Auftrag kommt auf uns zu und wird aktuell auch diskutiert. Immerhin brauchen wir dafür Verbündete wie auch Unterstützung. Interessanterweise veröffentlichte DIE ZEIT vor einigen Wochen ein flammendes Plädoyer für eine Akademie der Kritik, die sich des Nachwuchses annehmen soll. Der Gedanke liegt nicht fern, das beachtliche Potenzial unseres Vereins in ein solches Projekt einzubringen.