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Vladimir Jurowski während einer Probe. Foto: Peter Meisel

Vladimir Jurowski während einer Probe. Foto: Peter Meisel

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Orchestertraditionen in Berlin und München

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Der Dirigent Vladimir Jurowski im Gespräch mit Albrecht Dümling
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Vladimir Jurowski, der Sohn des Dirigenten Michail Jurowski, zog 1990 von Russland nach Deutschland. Er war damals 18 Jahre alt. Heute wirkt er als Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters Berlin sowie des Baye­rischen Staatsorchesters München. Mit beiden Orchestern, die in diesem Jahr bedeutende Jubiläen feiern, gastierte er beim Musikfest Berlin. Dies war der Anlass für dieses Gespräch mit Albrecht Dümling.

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neue musikzeitung: Herr Jurowski­, Sie leiten zwei traditionsreiche Orche­ster, das Rundfunksinfonie-Orchester Berlin (RSB) und das Bayerische Staatsorchester. Es sind zwei deutsche Orchester und doch unterschiedliche Welten. Wie unterscheiden sich diese Klangkörper?

Vladimir Jurowski: Das Berliner Orchester ist wie die Stadt selbst: offen, manchmal aufmüpfig, sehr fortschrittlich, aber auch traditionsbewusst – eine gute Balance. Berlin war in den Jahren der Gründung des Orchesters vor einhundert Jahren eine sehr multikulturelle Stadt. Spätestens seit der Wende von 1989 ist sie wieder extrem international. Wir waren früher das Orchester für den Reichsrundfunk, dann für den DDR-Rundfunk und seit den letzten 30 Jahren sind wir das Gesamtberliner Rundfunkorchester. Viele Streicher kommen aus der sogenannten Weimarer Schule, und so ähnelt der Klang teilweise dem der anderen Traditionsorchester im ostdeutschen Raum, zum Beispiel dem der Staatskapelle Dresden, der Staatskapelle Weimar oder dem Gewandhausorchester. Es ist ein für ein Rundfunkorchester untypischer warmer Streicherklang, eine Mischung aus individueller Brillanz bei den Solisten und einem kollektiven Gefühl für die Klangerzeugung. Das konnte ich bei diesem Orchester schon vor 30 Jahren beobachten, als ich noch Student war und die Proben meines Vaters besuchte. Das hat sich definitiv erhalten.

Sehr fit fürs Neue

Das Gesamtniveau des Orchesters und wie es mit ganz unterschiedlichen Stilrichtungen umgehen kann, hat sich in den letzten 20, 30 Jahren sehr gesteigert. Ein Thomas Adès mit seinen metrorhythmischen Komplexitäten wäre vor 20 Jahren eine richtige Herausforderung gewesen. Andererseits hat dieses Orchester schon in den 70er-Jahren Werke von Friedrich Goldmann, Georg Katzer, Friedrich Schenker und anderen avantgardistischen Größen der DDR-Musik ständig aufgeführt und war auch damals technisch sehr fit. Aber das heutige Orchester kann viel mehr: Barockmusik, Oper, auch leichte Muse und natürlich das große sinfonische Repertoire.

nmz: Das Bayerische Staatsorchester, der Klangkörper der Staatsoper, ist sehr viel älter und begeht jetzt sein 500-jähriges Jubiläum. München ist ganz anders als Berlin. Wie würden Sie dieses Orchester beschreiben?

Jurowski: Das Staatsorchester ist ein fester Bestandteil der bayerischen Musikkultur, sogar eines der ältesten Orchester der Welt. Es hat die Orches­termusik in Deutschland und Europa miterlebt und mitgestaltet. Einer der ersten Kapellmeister war kein geringerer als Orlando di Lasso. Es ist ein richtiges Traditionsorchester. Ich war allerdings auch überrascht seinerzeit, als wir angefangen haben, zeitgenössische Musik zu spielen in Konzerten und in der Oper – ich habe mit ihnen jetzt den „Hamlet“ von Brett Dean gemacht –, mit welcher Virtuosität das Orchester sich auch diesen Stilrichtungen nähert. Sie können im Prinzip alles. Aber was ihnen besonders am Herzen liegt, sind natürlich ihre Hausgötter, vor allem aus dem 19. und 20. Jahrhundert die zwei Richards. Da spricht die DNA des Orchesters mit. Das bedeutet nicht, dass andere große Orchester diese Musik von Wagner und Strauss nicht auch sehr schön spielen können. Aber wenn die Bayern sich dieser Musik nähern, ist es immer etwas Besonderes. Es ist dann auch anders als zum Beispiel der Klang derselben Komponisten bei anderen Traditionsorchestern wie der Berliner Staatskapelle, der Dresdner Staatskapelle oder den Wiener Philharmonikern. Sogar die Bogenstriche sind anders.

nmz: Haben Sie das auch bei Opernaufführungen bemerkt?

Jurowski: Es war sehr interessant, als wir den „Rosenkavalier“ gemacht haben. In einer kritischen Studie hat man die vier Traditionen des „Rosenkavaliers“ verglichen und wie sich die Bogenstriche, Artikulation und die Dynamik bei den vier genannten Orches­tern unterscheiden. Und das tut es immer noch. Aber inzwischen ist das Staatsorchester auch ein modernes und internationales Kollektiv. Wie jedes Opernorchester sind sie von Hause aus Flexibilität gewohnt. In der Oper muss man oft improvisieren. Oft hat man auch gar keine Möglichkeit, mit den jeweiligen Sängern und Dirigenten Neues zu probieren – man muss gleich liefern. Deswegen sind sie in den Aufführungen immer sehr wachsam. Trotzdem kann ich das Orchester am Klang, ohne es zu sehen, inzwischen erkennen. Insofern ist das für mich eine sehr interessante und auch herausfordernde Aufgabe, diese zwei so unterschiedlichen Klangkörper nebeneinander zu führen.

Gründungsjahr 1923

nmz: Sie haben sich sicher auch mit der Geschichte Ihres Berliner Orches-ters auseinandergesetzt.  Es entstand 1923 in der schwierigen Krise der Inflation. 1931 hat Igor Strawinsky mit diesem Orchester die Uraufführung seines Violinkonzerts dirigiert.

Jurowski: Das Stück, das wir heute Abend spielen, die „Kleine Dreigroschenmusik“, hat Kurt Weill mit diesem Orchester selbst uraufgeführt. Auch Leute wie Sergej Prokofjew kamen nach Berlin und arbeiteten mit dem neuen Rundfunkorchester.

nmz: Wie wichtig ist heute noch die Verbindung zum Radio? 

Jurowski: Wir verbringen sehr viel Zeit im Studio und machen für unseren Hauptgesellschafter Deutschlandradio viele Aufnahmen. Manche erscheinen später als CD-Produktionen. Alle Konzerte werden vom Rundfunk mitgeschnitten, manchmal live gesendet, manchmal zeitversetzt. Besonders in der Zeit der Pandemie haben wir uns noch einmal vergegenwärtigt, was das eigentlich bedeutet, ein Rundfunkorchester zu sein. Denn plötzlich saßen alle zuhause im Lockdown und wir waren fast die einzigen, die spielen durften. Wir konnten uns im Studio verkriechen, da sozialen Abstand halten und Musik machen, die rausging zu den Millionen von Menschen. Ich weiß noch ganz genau, wie ich im Mai/Juni 2020, aber auch später im Herbst, als der zweite Lockdown kam, die Links mit den anstehenden Live-Übertragungen aus dem Haus des Rundfunks an meine Freunde in der ganzen Welt verschickte. Überall hat man unsere Musik gehört, überall stießen wir auf dankbare Ohren. Da habe ich wirklich gedacht: Mensch, der Rundfunk ist schon etwas Tolles!

nmz: 2017 wurden Sie beim RSB Nachfolger von Marek Janowski. Wollten Sie seine Arbeit fortsetzen oder etwas ganz Neues machen?  

Jurowski: Ich kannte Marek Janowski natürlich. Das Orchester kannte ich aber noch aus der Zeit vor ihm. Ich kam ja 1990 nach Berlin mit meinen Eltern. Mein Vater hat damals viele Produktionen mit dem Rundfunkorches-ter gemacht. Damals war noch Heinz Rögner der Chef. Deshalb konnte ich das Orchester schon seit vielen Jahren aus einer gewissen Nähe be­obachten. Mein eigenes Debüt dort fand 1997 statt. Ich bin damals bei den Berliner Festwochen für den erkrankten Udo Zimmermann eingesprungen und habe sein Programm übernommen. Ich war 25 Jahre alt und seit zwei Jahren an der Komischen Oper. Weil das Orchester wusste, dass ich viel moderne Musik mache, hat es mich gefragt. Das war noch ein ganz anderes Orchester.

Marek Janowski hat eine phantastische Arbeit geleistet über die 14 Jahre, die er hier war. Ihm verdankt das Orchester ein sehr hohes technisches und künstlerisches Niveau. Aber ich komme aus einer ganz anderen künstlerischen Tradition, obwohl ich die deutsche Tradition auch in mir trage. Dennoch wollte ich dem Orchester eine andere Richtung geben, vor allem auch die Umgangsformen ändern. Grob gesagt: Ich bin kein Diktator. Das ist heute nicht mehr „in“. Der Umgang zwischen Orchester und Dirigent müsste meiner Meinung nach nach den Maßstäben des 21. Jahrhunderts gestaltet werden. Das haben wir gemeinsam mit dem Orchester 2017 angestoßen. Ohne das künstlerische Niveau zu verlieren, findet der Dialog zwischen uns auf einer ganz anderen Ebene der Freiheit statt. Es gibt auch noch andere Aspekte wie zum Beispiel bestimmtes Repertoire, was Marek Janowski nie pflegte, wie etwa die Sinfonien von Gustav Mahler. Auch russische Musik machte er nur wenig. Ich denke, wir ergänzen einander sehr schön. Wenn man die Entwicklung des Orchesters über die Jahre beobachtet, so sehe ich, dass die Richtung, die wir 2017 gemeinsam beschlossen haben, sich heute als richtig erwiesen hat. Das Orchester spielt definitiv nicht schlechter, wenn nicht sogar etwas besser als früher, und es atmet freier.

nmz: Das Bayerische Staatsorchester hat eine ehrwürdige Tradition mit Mozart-, Wagner- und Mahler-Uraufführungen. Hat sich diese Tradition erhalten?

Jurowski: Wie ich schon sagte, ist es immer etwas Besonderes, wenn dieses Orchester Musik von Wagner oder Strauss spielt. Deswegen bringen wir zu unserem Musikfest-Konzert die „Alpensinfonie“. Aber wir spielen auch das Violinkonzert von Alban Berg und ein neues Stück der ukrainischen Komponistin Victoria Polevá. Das zeigt die Bandbreite des Orches­ters: Einerseits der große Schinken der „Alpensinfonie“, andererseits die frühe Moderne wie Alban Berg und drittens zeitgenössische Musik.

Individualität und Innovation

Ich war auch sehr stolz auf unsere Arbeit letztes Jahr an „Cosi fan tutte“. Denn das Orchester hat ja eine sehr weit zurückreichende Mozart-Tradition. Die kann man bis Mozart selbst nachverfolgen. Die älteren Kollegen erinnern sich noch an den Mozart von Wolfgang Sawallisch, einige sogar an Karl Böhm. Es kam dann ein frischer Wind aus England; mit dem Intendanten Peter Jonas kam der Dirigent Ivor Bolton, der viel Händel mit dem Orchester gemacht hat, auch Mozart. Ich versuche, an diese Errungenschaften der historischen Aufführungspraxis anzuknüpfen, ohne dass dabei die Individualität des Orchesters verlorengeht. Aber inzwischen sind sehr viele Musikerinnen und Musiker im Bayerischen Staatsorchester passionierte Barockgeigenspieler. Ich fand, wir haben den Mozart im letzten Jahr musikalisch auf eine ganz besondere Art und Weise gelöst. Dabei ist „Cosi“ das virtuoseste und schwierigste aller Stücke des späten Mozart.

Aber ich bin auch sehr glücklich über die Zusammenarbeit mit dem Orchester bei der Einstudierung von „Krieg und Frieden“. Diese Inszenierung hat sehr hohe Wellen geschlagen wegen ihrer politischen Brisanz. Aber ich würde jetzt rein musikalische Qualitäten hervorheben. Denn Prokofjews Stil ist für ein traditionelles deutsches Orchester schwer zugänglich. Das ist eine Musik, die teilweise aus der russischen Tradition entspringt, teilweise aus dem Französischen. Das ist ein ganz besonderer Klang mit einer ganz spezifischen Art zu artikulieren, die den meisten deutschen Orchestern einfach nicht liegt. Aber das Staatsorchester hat sich bravourös mit dieser Aufgabe auseinandergesetzt. Die Resultate sprachen für sich.

nmz: Konzerte müssen bei diesem Orchester gegenüber der Oper wohl etwas in den Hintergrund treten.

Jurowski: Die Musikalische Akademie des Bayerischen Staatsorchesters, welche 1811 von den Musikern selbst gegründet wurde, gibt nur sechs Programme im Jahr. Drei davon dirigiere ich, drei Gastdirigenten. Da ist es sehr schwierig, viel herumzuexperimentieren. Denn die Musiker wollen erst einmal die „Hauptspeise“, die großen klassischen oder spätromantischen Werke, aufführen. Sie möchten sich immer von ihrer besten Seite zeigen und in möglichst großer Zahl auf dem Podium erscheinen. Daher auch die Wahl der drei Programme mit Sinfonien von Bruckner und Mahler und dem „Tristan“-Vorspiel. Wir fahren auf dieser Jubiläumstournee mit drei Programmen: eines davon kommt nach Berlin.

nmz: Mit beiden Orchestern gastieren Sie beim diesjährigen Musikfest Berlin. Wieweit ist das Programm des Rundfunkorchesters ein Jubiläums-programm? Oder ist es eher geprägt durch die Einladung nach London?

Jurowski: Es war eine gemeinschaftliche Diskussion zwischen den Londoner Proms, dem Musikfest Berlin und uns. Alle waren sich einig, ein Stück Berliner Musikgeschichte zu hören. Da habe ich die „Kleine Dreigroschenmusik“ vorgeschlagen. Alle waren auch glücklich mit dem Rachmaninow im Jahr seines 150. Geburtstages, wobei die 3. Symphonie die am seltensten gespielte ist. Sie ist auch die komplexeste von allen.

nmz: Warum hört man diese Sinfonie so selten?

Jurowski: Sie wird oft missverstanden. Es ist ein Spätwerk. Es gibt ja ein berühmtes Spätwerk von Rachmaninow, nämlich seine „Sinfonischen Tänze“, die aber nicht Sinfonie heißen und viel leichter zu begreifen sind. Man denkt einfach in Bildern und die Geschichte erzählt sich sozusagen von alleine in Tönen. Der Titel Sinfonie legt dem Komponisten und auch dem Zuhörer eine gewisse Bürde auf, indem diese Tradition erwartet wird:  der erste Satz als Sonatenallegro, dann ein lyrischer Satz und ein Finale möglichst mit einem Volksthema.

Rachmaninow haderte mit der Sinfonie als Genre. Seine erste Sinfonie war ein totales Fiasko bei der Uraufführung. Die 2. Sinfonie war zwar ein großer Erfolg, aber er musste sie erheblich kürzen. Dann vergingen über 20 Jahre, bis er sich zu einer 3. Sinfonie entschließen konnte. Die ist für mich eigentlich am gelungensten, weil sie so idiosynkratisch, so antisinfonisch ist. Sie ist recht kurz. Rachmaninow hat die Wiederholung der Exposition im ersten Satz, obwohl er sie aufgeschrieben hat, in seinen eigenen Aufnahmen nicht gemacht. Dafür packte er in den zweiten Satz gleich zwei Sätze, den langsamen und das Scherzo, in einer sehr ungewöhnlichen Form. Und der dritte Satz ist sehr ambivalent von der Stimmung her, weil er einerseits diese Volksfeststimmung beschwört, andererseits dieses „Dies Irae“. 1936 wurde die Sinfonie uraufgeführt, 1938 in London erstaufgeführt, 1939 begann der Krieg. Man kommt nicht umhin, den Krieg bereits im Sinfonie-Finale zu hören. Ich höre ihn jedenfalls sehr deutlich.

nmz: Demnach ist für Sie diese Sinfonie aus ihrer Entstehungszeit zu verstehen.

Jurowski: Es gibt eine Ambivalenz der Musik und ihrer Sprache. Rachmaninow will einerseits an die romantische Sprache seiner Jugend anknüpfen. Andererseits gibt er sich quasi selbst geschlagen, indem er sagt: Diese Zeit ist vorbei! Er kann aber mit der Tonalität nicht brechen. Ihm widerfährt also ein ähnliches Schicksal wie dem älteren Richard Strauss oder dem reifen Jean Sibelius. Die konnten auch mit der Tonalität nicht brechen, mussten aber irgendwie erkennen, dass ihre Grenzen erreicht sind. Deswegen finde ich diese Sinfonie sehr reizvoll. Außerdem war es auch das erste Werk überhaupt, welches das RSB und ich gemeinsam im Jahr 2017 aufgeführt hatten, als ich die Nachfolge Janowskis antrat.

nmz: Als drittes Stück gibt es noch das Klavierkonzert von Thomas Adès.

Jurowski: Die Idee kam von Kirill Gerstein, für den das Werk 2018 komponiert wurde. Es verband für mich irgendwie diese zwei Welten, die von Kurt Weill und die von Rachmaninow. Das Programm ergab sich wie ein interessantes Konglomerat verschiedener Kulturen, die sich aber alle irgendwo treffen – und zwar in Berlin.

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