Wolf-Dieter Peter gedenkt der Mezzosopranistin Elena Obraztsowa, die kürzlich im Alter von 75 Jahren gestorben ist. Er wirft dabei einen differenzierten Blick in ihren Werdegang zwischen Linientreue freien Umgang mit Notenwerten. Eine Künstlerin des „Entweder – Oder“.
Eine Künstlerin des „Entweder – Oder“: entweder beharrt der Klassikfreund zusammen mit den Verfassern von fundierten Büchern über Sänger auf den Gesetzen des Belcanto und genauen Partitur-Werten – dann sind an dem Mezzosopran Elena Obraztsowas die scharfe Höhe, ein zunehmendes, bald allzu heftiges Tremolo und auf der Bühne der oft freie Umgang mit Notenwerten zu kritisieren – also keine überzeugende Charlotte in „Werther“, eine wenig franco-spanische Carmen. Oder man ist als Musik-theater-Freund gierig danach, auf der Bühne die vielfach extremen Situationen eben auch extrem ausgestaltet zu erleben: Azucenas Rachgier, Dalilas berechnende Sexualität, Amneris stolze Überlegenheit und dann ihr selbstzerstörerisches Ringen um Radames, Ebolis furiose Verfluchung der eigenen Schönheit, Ulricas wüst wabernde Wahrsagungen – damit war Elena Obraztsowa auf der Bühne in den 1970er und 1980er Jahren ein überwältigendes, ja unvergessliches Erlebnis.
Denn sie setzte ihre füllige, gelegentlich aufreizend rau klingende Stimme mitunter hemmungslos in szenischer Dramatik ein und um – Stanislawskis Forderung „Lernen Sie, mit dem Ton zu handeln“ wurde bei ihr hochexpressives „Action-Singing“. Der Live-Mitschnitt ihrer Amneris in der Gerichtszene aus der New Yorker Metropolitan Opera von 1978 ist ein heute noch beim Nachhören fesselnder Beleg dafür.
Angefangen hatte alles im damaligen Leningrad und am dortigen Konservatorium. Schon mit 24 Jahren wurde Elena Mitglied des Bolschoi-Ensembles, gewann internationale Preise und überzeugte in nahezu allen Rollen des russischen Repertoires: Marina in „Boris Godunow“, Kontschakowna in „Fürst Igor“, Hélène in „Krieg und Frieden“, Marfa in „Mazeppa“ und „Chowanschtschina“, erst Paulina, dann die Gräfin in „Pique Dame“, die Titelrolle in Tschaikowskys „Johanna von Orleans“ undundund … Der internationale Durchbruch kam beim Gastspiel des Bolschoi-Ensembles in New York 1975: ihre Marina, Gräfin und Hélène machten sie zum “toast für the town“ – trotz „Kaltem Krieg“ gehörte Elena Obraztsowa 1976 bis 1979 dem Ensemble der Metropolitan Opera an.
Andererseits blieb sie ganz linientreue Sowjet-Künstlerin und gehörte zu den Künstlern die die Pariser Tschaikowsky-Neudeutung des ausgebürgerten Regisseurs Yuri Ljubimow durch kurzfristige Absagen boykottierten. Doch Dirigenten wie Karajan, Giulini, Muti, Abbado, Levine oder Maazel holten sie dennoch ins Studio zu Gesamtaufnahmen – folglich wird dieser dramatische Mezzosopran hörbar bleiben – und selbst aus dem Studio lodert dann mitunter das vokale Feuer einer außergewöhnlichen Stimme herein ins „Hör-Theater“ zuhause.