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Distinguierter älterer Herr und Tastenlöwe: Dave Brubeck (1920–2012). Foto: Andreas Kolb
Distinguierter älterer Herr und Tastenlöwe: Dave Brubeck (1920–2012). Foto: Andreas Kolb
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Cool, komplex und immer swingend: ein Nachruf auf den großen Jazz-Pianisten Dave Brubeck

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Es gibt einen wunderbaren Satz des Musikpublizisten Steve Race zu Dave Brubecks Album „Time Out“ von 1973: „Sollten einmal coole Marsianer auf der Erde landen und sich für unsere Musik interessieren, dann könnten sie 10.000 Jazzplatten anhören, bevor sie eine fänden, die nicht im üblichen 4/4 Takt ist.“ Und er hat Recht: Während Charlie Parker, Dizzy Gillespie und Thelonius Monk die Harmonik des Jazz längst erweitert hatten, und Duke Ellington sich mit großen Formen auseinandergesetzt hatte, gab es, was den Rhythmus anging, keinen echten Fortschritt.

Über ungerade Taktarten konnte jedenfalls keiner so gut swingen wie Dave Brubeck und das tat er in „Time out“ und dem Fortsetzungsalbum „Time further out“ dann auch ausgiebig: Der „Maori Blues“ steht in 6/4, „Unsquare Dance“ in 7/4, „Blue Rondo A La Turk“ in 9/8, „Far more Blue“ in 5/4 oder  „Three to get ready“ in 3/4. Auch ein scheinbar einfacher Walzer will jazzrhythmisch richtig aufgefasst werden: Der Jazz-Waltz ist wegen seiner Betonung auf den zweiten Schlag nicht mit seinem klassischen Bruder zu verwechseln. Natürlich enthielt „Time out“ auch „Take Five“, also den Hit, der Brubeck gerne zugeschrieben wird, aber von seinem kongenialen Saxophonisten Paul Desmond stammt.

1954 druckte das „TIME“-Magazin Brubecks Porträt als ersten Musiker nach Louis Armstrong auf einem Titelbild. Alle seine Auszeichnungen aufzuzählen wäre ermüdend. Dennoch hat es Dave Brubeck bei den Hörern, aber vor allem bei Kollegen und Kritikern nicht immer leicht gehabt: Machte er nun Jazz oder Kunstmusik oder beschritt er einen dritten Weg? Brubeck selbst sah sich in der  Traditionslinie afroamerikanischer Musik: „Duke Ellington, Miles Davis, Charlie Parker, Cecil Taylor. All diese wichtigen schwarzen Musiker haben mich von Anfang an unterstützt; warum sonst hätte ich in den schwarzen Clubs und im legendären Apollo-Theater auftreten und bestehen können“. 

Sein Wegbegleiter Paul Desmond fand klare Worte zur Kunst seines Freunds und Bandleaders: „Wenn Dave in Hochform ist, wird sein Spiel zu einem Ereignis, das Herz und Verstand gleichermaßen bewegt. Dann wird es zur völlig freien Improvisation, in der man alle Eigenschaften finden kann, die ich in der Musik liebe – die Kraft und die Stärke des einfachen Jazz, die komplexen Harmonien Bartoks und Milhauds, die Form und viel von der Würde Bachs. Und manchmal die lyrischen Romantizismen Rachmaninoffs.“

Brubeck wurde am 6. Dezember 1920 im kalifornischen Concord geboren und wuchs am Land auf. Mit einer zur Konzertpianistin ausgebildeten Mutter im Hintergrund, die zudem mit dem Komponisten Henry Dixon Cowell bekannt war, war er vertraut mit der Sprache der Klassik aber auch der neuen Musik. Dennoch galt seine erste Liebe der Country Music und von früh an der Improvisation sowie dem Jazz, insbesondere seinem Vorbild Benny Goodman. 1943 zum Militär eingezogen, diente er in George Pattons Dritter Armee während der Ardennenschlacht. Dort spielte er in einer Band mit vor allem afroamerikanischen Musikern, mit der er sich schnell einen Namen in der Szene machte.

Mit neuem musikalischem Rüstzeug aus den Armeeclubs kehrte er in die Staaten zurück und studierte 1946 ein halbes Jahr bei Darius Milhaud, dessen Werke bekanntlich selbst Jazz Elemente aufweisen. Dieser bestärkte ihn darin, sich nicht nur mit klassischem Klavier zu beschäftigen, sondern auch mit Kontrapunkt und Arrangement, also den klassischen Disziplinen des Komponisten. Während viele Musiker der Swing Bigbands der 40er- und 50er-Jahre noch keine Notisten waren und die teils komplexen Arrangement, die wir heute so bewundern, tatsächlich auswendig und nach Gehör spielten, hatte Brubeck das Privileg genossen, ein klassisch geschulter Jazzer zu sein. In dieser „dualen Ausbildung“ steckt das Geheimnis von Brubecks Kunst und die Keimzelle seines Schaffens.

1946 ist es Dave Brubecks Oktett, das – avantgardistisch, ohne es sein zu wollen – den Sound des späteren Cool Jazz vorwegnimmt: Den West Coast Sound, den er später in der Zusammenarbeit mit dem Baritonsaxophonisten Gerry Mulligan weiter erfolgreich pflegt. Seine größten Erfolge feierte Brubeck mit seinem „Dave Brubeck Quartet“, mit Joe Dodge am Schlagzeug, Bob Bates am Bass, Paul Desmond am Saxophon und ihm selbst am Klavier. Mitte der 1950er Jahre wurden Bates und Dodge durch Eugene Wright und Joe Morello ersetzt. In den späten 1950er Jahren sagte Brubeck mehrere Konzerte und Fernsehauftritte ab, weil entweder der Clubbesitzer von ihm verlangte, einen anderen Bassisten als den Afroamerikaner Eugene Wright zu suchen, oder weil man vorhatte, Wright nicht im TV-Bild zu zeigen.

1959 führte er den „Dialogue for Jazz Combo and Symphony“ seines Bruders Howard Brubeck mit Leonard Bernstein und dem New York Philharmonic Orchestra auf. Von 1967 an tritt seine kompositorische Arbeit stärker in den Vordergrund. Orchesterwerke, ein Oratorium, eine Messe und unzählige Klavierstücke zählen zu seinem Oeuvre.

Noch eine persönliche Erinnerung zum Schluss: Kennt man Brubecks Klavierstücke bzw. die Transkriptionen seiner Jazzimprovisationen, dann stellt man ihn sich unweigerlich wie eine Mischung aus Brahms und dem 2,04 Meter großen Häuptling aus „Einer flog übers Kuckucksnest“ vor (Brubeck  hatte u.a. auch indianische Vorfahren). Imposant auch seine Ausstrahlung auf der Bühne – diese Vorurteile verpufften schlagartig, wenn man ihm persönlich begegnete: Ein feiner, distinguierter älterer Herr im tadellosen Anzug mit Krawatte, von zierlicher Gestalt und gewinnendem Lächeln, der sich erst in dem Moment in den Tastenlöwen verwandelte, wenn er den ersten Akkord anschlug. Hans Kumpf schrieb anlässlich eines Konzertes mit Altsaxophonist Bobby Militello, Bassist Michael Moore und Schlagzeuger Randy Jones in den 90er-Jahren: „Faszinierend, wie der große Mann des Cool Jazz im hohen Alter recht „hot“ in die Tasten zu greifen vermochte – mit über 80 und nach mehreren Bypass-Operationen.“

Am 5. Dezember, einen Tag vor seinem 92. Geburtstag, erlag Dave Brubeck in einem Hospital in Norwalk einem Herzversagen.

 

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