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Der letzte Mohikaner – Ein Nachruf auf den Musikkritiker Joachim Kaiser von Götz Thieme

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Zum Tod von Joachim Kaiser, dem leitenden Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“. Nach Marcel Reich-Ranicki ist nun der letzte Großkritiker der Republik gestorben, einer, der dem Publikum die Klassik erklärte.

Wenn Joachim Kaiser aus seinem Büro im Feuilleton-Ressort der „Süddeutschen Zeitung“ trat – damals, als das Münchner Traditionsblatt noch in der Sendlinger Straße residierte – und im Gang mit einem Kollegen ins Gespräch kam, dann war klar, dass es länger dauern würde, wenn er sich leicht zurück gelehnt die Hände auf die Hüfte legte und zu erzählen begann. Denn Joachim Kaiser war nicht nur ein hoch Gebildeter, ein Belesener, einer mit dezidierten Ansichten: er hatte viel gesehen und gehört, war berühmten Künstlern begegnet – wie sollte man da nicht zum Anekdotenerzähler mit genauem Sinn für Pointen werden? Klar, er war nicht uneitel und ein Besserwisser, er galt als „Kritikerpapst“, was ihm durchaus gefiel. Schließlich war er in der deutschen Öffentlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg einer der zweieinhalb Großkritiker. Der andere hieß Marcel Reich-Ranicki, der Halbe war Gerhard Stadelmaier, der eine Generation jüngere Theaterkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, der aber im Gegensatz zu Kaiser kein Interesse daran hatte, dem Publikum in der „Bunten“ Hochklassisches, Oper und den Unterschied zwischen Karajan und Bernstein zu erklären.

Das Geheimnis der Popularität

Wahrscheinlich war das Kaisers Geheimnis (und zugleich lag darin seine Beschränkung): dass er keine Hemmung hatte, als populär zu gelten. Joachim Kaiser wollte verstanden werden, er betrachtete sich als Scharnier zwischen Opernaufführungen in Salzburg, Konzerten der Wiener Philharmoniker, Karl-Richter-Oratoriums-Gottesdiensten und dem lesenden Publikum. Bildung schadete dabei nicht. Wenn er etwa in seinen Radiosendungen erklärte, warum Beethovens letzte drei Klaviersonaten so bedeutungsvoll sind, nahm er elegant die Kurve zu Goethe oder in diesem Fall zu Thomas Mann, der dem Opus 111 im „Doktor Faustus“ ein literarisches Denkmal gesetzt hatte, und gab seinen Analysen so einen eigenen Ton. Joachim Kaiser bezog solche Traditionsbezüge gerne ein.

Für seine musikalische Gegenwart, Darmstadt und Donaueschingen, brachte er weniger Geduld auf – was Kaiser irgendwann zu einem Überholten werden ließ. Selbstironisch war ihm das bewusst: „Ich bin der letzte Mohikaner“, sagte er von sich, betitelte so anlässlich seines achtzigsten Geburtstags das mit der Tochter Henriette veröffentlichte Erinnerungsbuch.

Joachim Kaiser, geboren 1928 in Ostpreußen – sein Zungenschlag legte von der Heimat auch Zeugnis ab, als er längst eine Münchner Institution geworden war –, war ein Frühkonservativer, ohne dass er darunter litt oder dies leugnete. In einem Interview mit der „Stuttgarter Zeitung“ bezog er sich auf Goethe und dessen „Maximen und Reflexionen“ und bekannte: „Von einem gewissen Alter an muss man auf einer Stufe stehen bleiben. Man muss nicht immer unbedingt mit den Allerjüngsten Schritt halten wollen in der Hoffnung, dass man dann selber noch jung ist. Ich habe große Schwierigkeiten mit dem Regietheater. Die Konzeption mag ja toll sein, das verstehe ich oft sogar intellektuell, verstehe, was die meinen, wenn sie nicht die Stücke inszenieren, sondern quasi eine Art Essay über die Stücke inszenieren. Aber ich kann nicht jeden Unfug ernst nehmen, wenn beispielsweise in Salzburg der Don Giovanni ein gelähmter Schwuler im Rollstuhl ist. Beim ersten Blick auf die Figur und auf das, was Mozart anscheinend gemeint hat, würde man darauf nicht kommen ...“

Solche Äußerungen mochten Kaiser als einen Vorgestrigen dastehen lassen, seinen Rang als Vermittler, als Scharnier zwischen Konzertpodium, Bühne und Podest mindert das nicht. Deshalb wohl waren seine Vorlesungen in Stuttgart, wo er von 1977 bis 1996 eine Professur für Musikgeschichte an der Hochschule für Musik und Darstellende Künste inne hatte, nicht nur bei den Studierenden beliebt, sondern von externen Hörern regelmäßig überlaufen. Eine One-Man-Show, bei der er selbst gerne in die Tasten griff – schließlich war die Pianistenkarriere einmal durchaus eine Option gewesen, dann aber nicht nur wegen der zu kurzen Daumen aufgegeben worden, wie er im „Letzten Mohikaner“ bericht: „Das wichtigste ist doch, dass man seinen Beruf mit Passion ausübt. Und das ist bei mir nun einmal das kritische Reflektieren und der Äußerungstrieb.“

Schreiben war seine Leidenschaft

Kaiser war nach Stationen bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, den „Frankfurter Heften“ und dem Hessischen Rundfunk, seit 1959 Kritiker und Leitender Redakteur im Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“. Das Maß war ihm immer der Text. Und so sah man ihn, selbst wenn er nicht als Rezensent im Einsatz war, im Münchner Gasteig im Konzert mit der Partitur auf dem Schoß, abgleichend, was ihm die Noten sagten und was von der Bühne herabwehte, immer auf der Suche nach der nie zu erhaschenden Wahrheit. „Aber tatsächlich ist und war Schreiben meine Leidenschaft“, sagte er 2008. Der Musikkritiker Kaiser hat immer ein wenig den vielseitigen Literaturkenner in den Schatten gestellt, der in der Gruppe ebenso mitmischte, wie er Walser und Grass, Enzensberger und Wapnewski nahestand. Und mit Fritz J. Raddatz, dem so völlig anders gearteten Publizisten, verband ihn eine lange Freundschaft. Wie Raddatz, konnte der sanft erscheinende Kaiser, deutlich werden. Nackte Schauspieler beispielsweise empfand Kaiser, der viele Jahre auch als Theaterkritiker seine Stimme erhob, nicht peinlich, weil er prüde gewesen wäre: „Aber es lenkt ab, denn man guckt ja erst mal doch dahin: wie sieht der Schwanz aus, bei den Mädchen, wie sieht denn der Busen aus. Ich geniere mich, weil sich die Schauspieler recht oft auch genieren. Meistens müssen die das dann überkompensieren, als ob sie es gewohnt sind, fortwährend nackt vor 700 Leuten zu stehen.“ Mit solchen Sätzen traf er ins Zentrum ihm albern erscheinender Theaterwirklichkeiten.

Neben der Zeitungsarbeit, den Radio-Sendungen und Kolumnen hat Kaiser einige Bücher geschrieben, die viel beachtet wurden, darunter in mehreren Auflagen „Große Pianisten unserer Zeit“. Joachim Kaiser verstand sich nicht als Enzyklopädist, dann hätte er einen eminenten Pianisten wie Vladimir Sofronitsky nicht übersehen, bei ihm zählte vor allem der persönliche Zugriff. Kaiser sagte in seinen Texten „Ich“, was seinen Erfolg erklärt. Und er schrieb bemerkenswert pointiert, klar und meist ohne Jargon, selbst wenn er mal eine Tonart erwähnte. Dann konnte eine Kritik eines Konzerts von Alfred Brendel und des Bayerischen Staatsorchesters 1974 so beginnen: „Was hat Beethovens Es-Dur-Klavierkonzert mit Hegel zu tun?“ Da will man doch gleich weiterlesen. Nun ist der Geschichtenerzähler Joachim Kaiser am 11. Mai 2017 in München gestorben, er wurde 88 Jahre alt.

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