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Re-Issue-König Michael Cuscuna. Foto: Jimmy Katz
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Er hat Blue Note wachgeküsst: Jazz-Archäologe Michael Cuscuna im Gespräch

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70 Jahre her ist es her, dass Alfred Lion und Francis Wolff, zwei deutsch-jüdische Emigranten, das vermutlich berühmteste Label der Jazzgeschichte gründeten: Blue Note Records. Nach den Glanzzeiten bis Mitte der 60er-Jahre verfiel Blue Note – mehrfach verkauft und vernachlässigt – in einen tiefen Dornröschenschlaf. Wachgeküsst wurde es von Michael Cuscuna (geb. 1948).

Mit seinen Wieder- und Neuveröffentlichungen hatte der Jazzproduzent maßgeblichen Anteil daran, dass das Label 1984 wiederbelebt wurde. Über die Geschichte von Blue Note Records, den Sinn oder Unsinn von Wiederveröffentlichungen und die Frage, ob es auch in Zukunft Jazzlabels geben wird, unterhielt sich Michael Cuscuna mit Claus Lochbihler:

nmz Online: Wie wurden Sie zum Hüter des Blue Note-Archivs?

Michael Cuscuna: Ich war in den 60er- und 70er-Jahren mit vielen Musikern befreundet, die für Blue Note aufgenommen hatten. Wann immer sie von ihren früheren Sessions erzählten, habe ich mir Notizen gemacht. So wusste ich, dass es jede Menge unveröffentlichte Aufnahmen im Blue Note-Archiv geben musste. Leider hat es dann fast vier oder fünf Jahre gedauert, bis man mich ins Archiv gelassen hat.

nmz Online: Wie kam das?

Cuscuna: Ich traf einen Mitarbeiter des Labels, dem ich meine Notizen gezeigt habe. Das hat ihn beeindruckt. Jedenfalls sagte er spontan: ‚Jemanden wie Sie müssen wir tatsächlich ins Archiv lassen.’

nmz Online: Als Sie dort waren, wurde Ihnen auch rasch klar, weshalb…

Cuscuna: Die Aufnahmen lagerten in einem temperierten Lagerhaus in Kalifornien: Hunderte, nein Tausende von Bändern, die meisten davon nur schlecht dokumentiert. Auf vielen stand nicht mehr drauf als ein Name und ein Datum: Jimmy Smith, 7. April 1958 – so ähnlich. Als ich mich erkundigte, wo die weiteren Informationen – die Namen der anderen Musiker, der Kompositionen und wer sie geschrieben hatte – zu finden waren, hieß es: ‚Sorry, mehr Informationen haben wir leider nicht.’

nmz Online: Ein großes Musik-Puzzle?

Cuscuna: Mir blieb nicht anderes übrig, als diese Bänder abzuspielen und mit den Informationen abzugleichen, die ich von den Musikern gesammelt hatte. Ich hörte mir die Aufnahmen immer und immer wieder an und versuchte heraushören, wer darauf spielte. Wenn ich glaubte am Klavier einen Joe Zawinul oder am Schlagzeug Jack DeJohnette erkannt zu haben, verglich ich das mit anderen Aufnahmen, bei denen definitiv feststand, dass darauf Zawinul oder Jack DeJohnette zu hören waren. Wenn ich nicht weiterkam, habe ich Ausschnitte der Aufnahmen an Musiker weitergegeben und sie um Hilfe bei der Rekonstruktion der Besetzung gebeten. Das war wirklich eine sehr mühselige und langsame Arbeit.

nmz Online: Klingt ein wenig wie Jazz-Archäologie…

Cuscuna: Ich war so etwas wie eine Kombination aus Sherlock Holmes und Archäologe. Nur dass es nicht um Mörder und Gräber, sondern um Tonbänder und Jazzaufnahmen ging. Was ich ausgrub, war manchmal erst vor zehn Jahren eingespielt worden. Aber manchmal kam es mir vor, als ob ich Dinge zu rekonstruieren hätte, die Hunderte von Jahren zurück lagen.

nmz Online: Nach drei Jahren bekamen Sie ganz unerwartet Hilfe aus Japan.

Cuscuna: Eines Tages hieß es, Kollegen, die Blue Note-Aufnahmen in Japan herausbrachten, wollten mich sehen. Bei unserem Treffen zeigten sie mir ein Notizbuch, in dem in Alfred Lions Handschrift detaillierte Informationen über jede unveröffentlichte Blue Note-Session zu finden waren – die Namen der Musiker, das Datum der Aufnahme, die Stücke und wer sie geschrieben hatte. Also genau die Informationen, die wir so mühsam recherchierten. Keine Ahnung wie das nach Japan gelangt war! Ich bekam eine Kopie dieser Aufzeichnungen. Danach konnten wir ganz anders veröffentlichen. Zuvor hatten wir immer die Aufnahmenherausgebracht, von denen wir Repertoire, Besetzung und Aufnahmedatum herausgefunden hatten. Also nicht immer die spannendsten oder musikalisch wertvollsten Aufnahmen, sondern die, von denen wir wussten wer darauf überhaupt zu hören war. Mit dem Notizbuch aus Japan konnten wir uns endlich nach Qualitätsgesichtspunkten durch das Blue Note-Archiv arbeiten.

nmz Online: Was waren für Sie die spannendsten Funde?

Cuscuna: Gleich am ersten Tag entdeckte ich Bänder, auf denen nichts Weiteres stand als ein Datum. Es stimmte zufällig mit dem Termin von Aufnahmen des Bassisten Paul Chambers mit John Coltrane überein. Meine Hoffnung war, dass ich unveröffentlichte Aufnahmen dieser großartigen Session gefunden hatte. Als wir die Bänder anhörten, entpuppten sie sich als genau das! Genauso spannend war später die Entdeckung der kompletten Trio-Aufnahmen von Sonny Rollins im Village Vanguard. Ein unglaublich guter Konzertmitschnitt, den wir als Doppel-CD herausgebracht haben.

nmz Online: Trotz Ihrer Re-Issues ging es mit Blue Note Ende der 70er-Jahre aber weiter bergab.

Cuscuna: Damals steckte die ganze Musikindustrie in einer großen Krise. Besonders bekamen das der Jazz und damit auch Blue Note zu spüren. Bei EMI, wo Blue Note nach mehreren Verkäufen gelandet war, interessierte sich niemand mehr für dieses großartige Label. Das sah man schon daran, dass Blue Note seit 1978 gar keine eigenen Angestellten mehr hatte. Es gab mich mit meinen Re-Issues, aber ich war ja nur Freelancer. Als letzten Mohikaner hatte Blue Note zuletzt nur noch den Pianisten Horace Silver unter Vertrag. Der lieferte 1981 sein letztes Album ab – danach gingen die Lichter aus.

nmz Online: Wie kam es dann 1984 zur Wiederbelebung von Blue Note?

Cuscuna: Das ist vor allem Bruce Lundvall zu verdanken, der das Label noch heute leitet. Er wurde 1984 von der EMI geholt, um ein neues Pop-Label aufzubauen. Er sagte zu, aber nur unter der Bedingung, dass er sein Lieblingslabel, Blue Note, wiederbeleben dürfe. So kam es dann. Zuerst haben wir mit Re-Issues angefangen, nach einem Jahr entstanden auch neue Aufnahmen mit neuen und alten Blue Note-Künstlern.

nmz Online: Verschiedene Rahmenbedingungen waren diesem Neustart förderlich.
Cuscuna: Da kam vieles zusammen. Etwa der Erfolg von Wynton Marsalis, mit dem ganz viele den akustischen Jazz für sich wiederentdeckt haben. Gleichzeitig führte die Einführung der CD dazu, dass sich viele Jazzfans all das, was sie auf Vinyl hatten, auch auf CD zulegten. Das belebte unser Geschäft ungemein.

nmz Online: Mit dem Internet und dem Downloaden von Musik erleben wir derzeit wieder einen technischen Wandel im Musikgeschäft. Sehen Sie darin eine Chance oder überwiegen aus Ihrer Sicht die Nachteile?

Cuscuna: Schwer zu sagen. Aber für ein Jazzlabel wie Blue Note fürchte ich eher die Risiken. Das Herunterladen von digitaler Musik stellt für Jazzlabel und ihr Publikum eine besondere Herausforderung dar. Die meisten Leute, die Jazz-CDs kaufen, sind zwischen 40 und 70 Jahre alt. Das sind Leute, die Musik gerne in Kombination mit Fotografie und guten Liner Notes genießen. Sammlertypen also, die mit einem Download nur wenig anfangen können, weil man eine Musikdatei weder anfassen noch darin blättern kann wie in einer schönen CD-Box. Natürlich ist die Musik auch auf einer CD digital. Aber letztlich ist die CD immer noch ein Tonträger. So gesehen hat sie mehr mit einer analogen Platte gemeinsam als mit einem Musik-Download.

nmz Online: Welchen Anteil am Blue Note-Geschäft haben denn mittlerweile Downloads?

Cuscuna: Unter zehn Prozent. Das Download-Geschäft wächst. Aber nur langsam und leider nicht so schnell wie die CD-Verkäufe zurückgehen.

nmz Online: Und wie läuft das Geschäft mit den Wiederveröffentlichungen?

Cuscuna: Auch das geht zurück. Vor zehn oder elf Jahren haben wir von einer CD der Rudy Van Gelder-Serie weltweit 12.000 bis 15.000 Stück verkauft. Heute sind es am Ende eines Jahres vielleicht 3.000 Stück.

nmz Online: Aber es gibt doch immer doch diese Fans die alles kaufen, Hauptsache es steht Blue Note drauf?

Cuscuna: Natürlich gibt es die. Nur habe ich langsam das Gefühl, dass ich die alle persönlich kenne – so klein ist der Markt mittlerweile geworden. Leider gibt es auch immer weniger Plattenläden und gute Jazzabteilungen.

nmz Online: Das klingt nicht sehr optimistisch.

Cuscuna: Ich weiß wirklich nicht, ob es für die nächste Generation von Musikern noch Labels geben wird, die sie unter Vertrag nehmen können. Für wahrscheinlicher halte ich es, dass bald jeder Musiker mit seiner Webseite und seinen Aufnahmen sein eigenes Mini-Label bildet und seine CDs, Downloads und Auftritte selbst vermarktet. Ob das noch fünf oder 15 Jahre dauern wird, ist schwer zu sagen. Ich weiß nur, dass die Tage der alten Labels gezählt sind. Natürlich manchen wir weiter so lange es geht. Aber eines ist klar: So wie sich der Markt derzeit entwickelt, geht das nicht ewig weiter.

nmz Online: Musiker, die derzeit schon mit den Mitteln des digitalen Zeitalters auf eigene Faust arbeiten, würden diese Entwicklung möglicherweise gar nicht beklagen. Was kann ein Label wie Blue Note einem jungen Musiker auch heute noch bieten, was er im Alleingang vielleicht nie schaffen würde?

Cuscuna: Da gibt es mehrere Dinge. Zum Beispiel die gleichzeitige Veröffentlichung einer CD auf der ganzen Welt, begleitet von einer Pressearbeit, die ein Musiker allein nie hinbekommen oder bezahlen könnte. Einen Vertrieb, der dafür sorgt, dass die CD auch dort erhältlich ist, wo es Interessenten für diese Musik gibt. Außerdem exzellente Kontakte zu Konzertveranstaltern und Clubs. Mit einem Label wie Blue Note greift das alles gleichzeitig ineinander. Im Alleingang bräuchte ein Musiker dafür mindestens sechs Jahre – dann müsste er aber so hart arbeiten, dass wahrscheinlich zu wenig Zeit für das eigentliche bliebe: Die Musik.

nmz Online: Für Sie überwiegen also die Nachteile dieser Entwicklung zum digitalen Do-it-yourself-Musiker?

Cuscuna: Nicht unbedingt. Es gibt Nachteile und es gibt Vorteile. Wenn dieses Modell funktioniert, kann der Musiker, der alles selbst macht, finanziell sogar besser dastehen als der, der bei einem Label unter Vertrag ist. Ich glaube nur, dass nicht jeder Musiker für diese Entwicklung geeignet ist. Es ist einfach nicht jedermanns Sache, sich um Dinge wie Buchhaltung, Vertrieb oder die eigene Webseite zu kümmern, wenn man sich eigentlich ganz auf die Musik, sein Instrument und die eigene Band konzentrieren möchte. Es erkennt auch nicht jeder Musiker, dass die meisten Musiker zwar gute Produzenten sind – aber nur, wenn es darum geht, nicht das eigene Album, sondern das des Kollegen zu produzieren.

nmz Online: So mancher junge Musiker klagt über die Flut über an wieder veröffentlichten Jazzaufnahmen. Sie überschwemmten den Markt so, dass neue, meist teurere Jazz-Produktionen gar keine Chance hätten. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?

Cuscuna: Da ist natürlich was dran. Wenn ein junger, jazzinteressierter Hörer mit 15 Dollar in den Plattenladen geht, hat er die Wahl, mit zwei Klassikern nach Hause zu gehen oder sich für das gleiche Geld eine neue Veröffentlichung zu kaufen. Wenn er „Saxophone Colossus“ von Sonny Rollins und „Blue Train“ von John Coltrane noch nicht in seiner Sammlung hat, wird er sich viele eher für diese zwei Klassiker als für die neue CD von Joshua Redman entscheiden. Gleichzeitig ist es aber so, dass ein Label wie Blue Note auf diese Wiederveröffentlichungen gar nicht verzichten könnte. Ohne das Geld, das damit verdient wird, hätte nämlich kaum ein Label die Möglichkeit, das nächste Album von Joshua Redman oder Joe Lovano zu finanzieren.

nmz Online: Ein paradoxes Verhältnis also?

Cuscuna: In der Tat. Re-Issues stellen eine harte Konkurrenz für Neuveröffentlichungen dar. Von denen gäbe es jedoch viel weniger, wenn Labels wie Blue Note nicht ungefähr 50 Prozent ihres Geschäfts mit wieder aufgelegten Alben machen würden. Aber viel wichtiger als dieses wirtschaftliche Argument ist mir ein anderes: Ich bin fest davon überzeugt, dass der zeitgenössische Jazz davon profitiert, wenn er sich mit seinem Erbe auseinandersetzt. Als wir Blue Note Mitte der 80er-Jahre wiederbelebten, waren viele der Aufnahmen seit Jahren nicht mehr erhältlich. Es gab junge Musiker, die es kaum erwarten konnten bis wir diese oder jene Aufnahme wieder herausgebracht hatten. Diese Auseinandersetzung mit den Vorbildern und deren Aufnahmen gehört zum Lernprozess eines jeden Jazzmusikers einfach dazu – als Inspiration oder als Messlatte dessen, was man erreichen möchte. John Coltrane oder den Saxophon-Satz des Ellington Orchesters kann man heute nicht mehr live erleben. Aber man kann die Aufnahmen hören, mit denen diese großartige Musik fortlebt.

nmz Online: Aber läuft der Jazz nicht ohnehin Gefahr, vor lauter Beschäftigung mit der eigenen Geschichte zu erstarren?

Cuscuna: Natürlich kann die Beschäftigung mit der Geschichte dieser Musik auch zur Falle werden. Etwa wenn ein Musiker nur noch sein Vorbild nachspielt und nicht selbst kreativ ist. Diese Herausforderung gilt es eben zu meistern – sich von der Jazzvergangenheit so inspirieren zu lassen, dass dabei etwas Neues entsteht.

nmz Online: Es ging das Gerücht um, der große Erfolg von Norah Jones – 23 Millionen verkaufte Alben ihres Debuts – habe Blue Note als eigenständiges Label gerettet, genauso wie Diana Krall im Fall von Verve. Was ist da dran?

Cuscuna: Da gab’s nichts zu retten, weil es uns schon vor dem Riesenerfolg von Norah Jones nicht wirklich schlecht ging. Im Fall von Verve und Diana Krall war es im Übrigen nicht anders. Norah Jones hat unser Standing innerhalb von EMI natürlich enorm verbessert. Am liebsten wäre es denen gewesen, wenn wir im Jahr darauf noch so einen Coup gelandet hätten. (Lachen) Aber so läuft das natürlich nicht.

nmz Online: Sondern?

Cuscuna: Letztlich weiß man vorher nie, ob man einen Hit landen wird. Nehmen wir Norah Jones. Als wir sie unter Vertrag genommen haben, dachten wir, wir hätten es mit einer Jazzsängerin zu tun, die mit einer sehr individuellen Stimme und großem Interpretationsvermögen Standards singt und sich dazu am Klavier begleitet. So ähnlich wie Diana Krall. Dass Norah Jones den Jazz so sehr mit Folk, Country und Singer-Songwriter-Qualitäten mischt, dass sie sich stilistisch auf keines dieser Genres festlegen lässt, wurde uns erst klar, als ihr erstes Album vorlag. Da war uns natürlich schon bewusst, dass dieses Album ganz Besonderes war. Wir hofften, vielleicht 100.000 bis maximal 200.000 Alben zu verkaufen. Niemals jedoch 23 Millionen!

nmz Online: Ist Blue Note nach Norah Jones im Geld geschwommen?

Cuscuna: Das wäre natürlich schön, wenn man das viele Geld behalten und in Jazzproduktionen stecken könnte. Aber so funktioniert das bei Blue Note nicht – wir sind nun mal kein unabhängiges Label, sondern gehören zu einem Konzern. Da wird der Gewinn weiter nach oben gereicht, auch um Verluste und Misserfolge in anderen Bereichen zu finanzieren. Wenn man Glück hat, bekommt man nach so einem Erfolg im nächsten Jahr vielleicht ein größeres Budget für Neuproduktionen. Das war’s dann aber auch.

nmz Online: Könnte sich Blue Note als unabhängiges Label behaupten?

Cuscuna: Das steht zwar nicht zur Debatte, aber ja, das würde funktionieren. Man müsste nur darauf achten, dass man international so gut vertreten bleibt wie das heute der Fall ist. Für ein Jazzlabel sind Europa und Japan mindestens genauso wichtig wie Amerika.

nmz Online: Was würden Alfred Lion und Francis Wolff, die Gründer des Labels, darüber sagen, wie sich Blue Note heute präsentiert?

Cuscuna: Ein Stück weit ist das natürlich Spekulation. Aber von Alfred Lion, den ich im Gegensatz zu Wolff noch kennen lernen durfte, weiß ich, dass ihm vieles was wir nach dem Neustart von Blue Note gemacht haben, sehr gefallen hat. Ihm gefiel, dass wir ehemalige Blue Note-Künstler, die schon für ihn aufgenommen hatten, wieder unter Vertrag genommen haben – Kenny Burrell etwa oder Dexter Gordon. Am besten fand er jedoch, dass wir neue, junge Künstler aufgenommen haben.

nmz Online: Und was würde er davon alten, dass heute sogar ein Soul-Veteran wie Al Green bei Blue Note gelandet ist?

Cuscuna: Ich glaube, dass Alfred Lion kein Problem damit hätte. Mitte der 80-er Jahre hat er zu mir mal gesagt: ‚Ich wüsste gar nicht, wen ich heutzutage ins Studio holen sollte.’ Daraufhin habe ich ihn gefragt, was er denn so höre. Seine Antwort war überraschend: ‚Ich schaue viel MTV. Mir gefallen Prince und Michael Jackson.’ Warum also sollte er etwas gegen Al Green haben? Im Übrigen ist es ein Irrtum zu glauben, Alfred Lion und Francis Wolff hätten nur dem reinen Jazzideal abseits aller geschäftlichen Überlegungen gehuldigt. Als Lion mit Blue Note anfing, galt seine Liebe dem Boogie Woogie, dem traditionellen Jazz und dem Swing. Als sich das Ende der 40er-Jahre nicht mehr verkaufte, hat er gemerkt, dass sich der Jazz durch den Be Bop revolutionär fortentwickelt hatte. Daraufhin hat er sich mit dem Be Bop und seinen Musikern beschäftigt und erst wieder Aufnahmen gemacht, als er glaubte, den Be Bop verstanden zu haben. Geschäftliche Überlegungen und die Entwicklung seines Musikgeschmacks gingen bei Alfred Lion also Hand in Hand. Weshalb sollte das heute anders sein?

nmz Online: In dieser Phase entstanden auch die berühmten Blue Note-Aufnahmen von Thelonious Monk – das beste Beispiel dafür, dass großartige, fortschrittliche Musik nicht immer sofort als solche erkannt wird.

Cuscuna: Normalerweise verkauft sich ein wieder veröffentlichtes Album nicht besser als das Originalalbum. Es gibt natürlich Ausnahmen. Die größte davon ist Monk. Seine Blue Note-Aufnahmen haben sich Ende der 40er-Jahre erbärmlich verkauft. Kaum jemand erkannte, wie spannend und genial komponiert diese Musik war. Danach wurde er von Label zu Label weitergereicht. Bei Riverside stellten sich die ersten Erfolge ein. Zum Star wurde er jedoch erst, als er zu Columbia ging, der damals größten, mächtigsten und angesagtesten Plattenfirma der Welt. Auf einmal interessierten sich die Fans und die Kritiker auch für seine alten Blue Note-Aufnahmen. Bis heute verkaufen die sich Jahr für Jahr sehr gut – das ist fast ein Selbstläufer.

nmz Online: Eine Korrektur der Jazzgeschichte?

Cuscuna: Im Fall von Monk trifft das ausnahmsweise zu. Besonders, wenn man an die vielleicht spannendste aller Monk-Veröffentlichungen der letzten Jahre denkt: Dem vor ein paar Jahren wiederentdeckten, niemals zuvor veröffentlichten Mitschnitt seines Konzerts mit John Coltrane in der Carnegie-Hall. Für Monk- und Coltrane-Fans war das wie die Entdeckung des heiligen Grals. Dementsprechend gut ist es gelaufen: 215.000 Stück haben wir allein in den USA im ersten Jahr davon verkauft.

nmz Online: Die alten Blue Note-Aufnahmen waren nicht nur musikalisch von höchster Qualität. Mit ihrem konsistenten Cover-Design waren sie sofort als Blue Note-Alben erkennbar. Warum ist diese Wiedererkennbarkeit bei den neuen Alben verloren gegangen?

Cuscuna: In den Tagen von Alfred Lion gab es jeweils nur einen Produzenten, ein Studio, einen Toningenieur, einen Fotografen, einen Designer. So entstand diese bis heute beeindruckende Einheitlichkeit in Sachen Sound und Design. Heute läuft das anders. Die Musiker wollen jemand bestimmten als Produzenten, dieses oder jenes Studio und nur diesen Cover-Designer. Deswegen sehen Blue Note-Alben heute ziemlich verschieden aus.

nmz Online: Die Musiker dürfen viel mehr mitreden als früher?

Cuscuna: So ist das. Früher haben sie den letzten Ton gespielt, ihr Instrument eingepackt und sind gegangen – zum nächsten Aufnahmetermin oder einer Session. Die wenigsten haben sich dafür interessiert, welcher Take der beste war und wie das Plattencover aussehen würde. Heutzutage wollen unsere Künstler bei nahezu jedem Aspekt mitreden. Heute findet man diese einheitliche Erscheinungsbil, das die alten Blue Note-Aufnahmen auszeichnete, nur noch bei ECM. Da gibt es eben Manfred Eicher: Eine Person, die für den ganzen ‚Look’ und ‚Feel’, die ganze Stilistik dieses Labels und seine Wiedererkennbarkeit steht.

nmz Online: Wie feiert Blue Note in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag?

Cuscuna: Mit ganz viel Musik. Neben zahlreichen Neu- und Wiederveröffentlichungen gibt es eine tolle Tribute-Band aus jungen Musikern: Die „Blue Note 7“ um den Pianisten Bill Charlap. Sie haben ein Album eingespielt, auf dem sie die Musik von Blue Note neu interpretieren. Derzeit touren sie durch die USA, im Herbst kommen sie auch neu Europa. Außerdem hat Ashley Kahn die definitive Geschichte unseres Labels geschrieben. Das Buch wird im Sommer erscheinen. Außerdem sind wir im Gespräch mit Nils Landgren, dem Posaunisten und künstlerischen Leiter des JazzFests Berlin. Es wäre schön, wenn wir den Geburtstag von Blue Note musikalisch auch dort feiern könnten.

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