Anlässlich des 100. Geburtstags von Olivier Messiaen widmet die Sächsische Staatskapelle Dresden dem großen französischen Komponisten ein eigenes Projekt. Das Chung-Messiaen-Projekt verbindet undenkbare Geschichten.
Die Stadt Dresden steht nicht unbedingt in dem Ruf, irgendwie innovativ zu sein. Auch ihre weltberühmte Semperoper ist vornehmlich der Tradition verhaftet. Die dort beheimatete Sächsische Staatskapelle darf in diesem Jahr auf in der Orchesterlandschaft rekordverdächtige 460 Jahre fortwährenden Bestehens zurückblicken. Wer wollte da also einen Bezug zu Moderne und Aufbruch erwarten?
Ha! Ausgerechnet Dresden nimmt den bevorstehenden 100. Geburtstag von Olivier Messiaen voraus und widmet diesem Ausnahmekünstler, einer vielbeschworenen „Lichtgestalt“ der Moderne, das sogenannte Chung-Messiaen-Projekt. Fünf Tage im Oktober – Messiaens Jubiläum wäre erst am 10. Dezember – sind dem Franzosen geweiht. Myung-Whun Chung hat als Dirigent, Redner und Pianist gewirkt, erwies sich überzeugend als Messiaen-Experte, als exponierter Vertrauter des Meisters und als begnadeter Interpret dessen Schaffens. Der koreanische Künstler ist dem Jubilar über viele Jahre sehr nahe gekommen, hat mit ihm gearbeitet und um Interpretationen gerungen. In Dresdens Semperoper sprach er nicht nur darüber, lieferte als wahrhaft Berufener auch Anekdotisches dazu, sondern war auch als Interpret höchst glaubwürdig Sachwalter Olivier Messiaens.
Der 1908 in Avignon geborene Komponist wurde Anfang September 1939 aus seinem Künstlerdasein gerissen und in die Uniform gezwängt. Gut ein halbes Jahr später fiel Verdun und gerieten Tausende Soldaten nahe Nancy in deutsche Kriegsgefangenschaft. Ausgerechnet auf diesem Schlachtfeld begegnete Messiaen dem Cellisten Étienne Pasquier sowie dem Klarinettisten Henri Akoka, dem er noch in dieser unwirtlichen Gegend ein Solostück komponierte. Darin verwandte er erstmals Gesangslinien von Vögeln. Später wurde dies – neben tiefempfundener Religiosität – sozusagen ein klingendes Markenzeichen des Komponisten Olivier Messiaen. Als Gefangener wurde er quer durch Europa nach Schlesien gekarrt und schrieb dort, im Kriegsgefangenenlager Görlitz, dem sogenannten StaLag VIII a, sein berühmtes „Quartett auf das Ende der Zeit“. Von deutschen Offizieren geduldet, ist Messiaen für die Fertigung der Komposition auf der Latrine eingeschlossen worden (die sonst nur minutenweise pro Tag benutzt werden durfte), wurde mit Notenpapier und Schreibzeug versorgt, ist mit gefälschten Papieren dann auch schon relativ bald wieder „repatriiert“ worden, nachdem nämlich die Vichy-Regierung mit Nazi-Deutschland kollaborierte.
Aber zuvor gab es eine künstlerische Sternstunde mitten im Krieg: Am 15. Januar 1941 wurde in der Theaterbaracke des StaLag VIII a (dank der Genfer Konvention wurde Kriegsgefangenen so etwas zugestanden, ein perfides Alibi der Hitlerei, die Zehntausenden gefangener Russen gleich nebenan das Leben kostete!) „Quatour pour la fin du temps“ uraufgeführt. Für den Violinpart wurde der Geiger Jean le Boulaire gefunden. Pasquier durfte gar noch ein Cello erwerben, in deutscher Begleitung, versteht sich.
Diese Vorgänge im Gedächtnis zu halten, hat sich Albracht Götze zur Aufgabe gemacht. Der Gründer und Leiter des „Meetingpoint Music Messiaen“ will von Görlitz aus das heute im polnischen Zgorzelec gelegene Areal zu einer Gedenkstätte machen, in der nicht nur die Grundmauern des einstigen Lagers – dessen Holzverkleidungen wurden in den Nachkriegswintern verheizt, die meisten seiner Ziegelsteine trugen zum Wiederaufbau des von Nazi-Deutschland zerstörten Warschau bei – wieder freigelegt werden sollen. Im Moment stehen Birken, Gräser und Pilze. Dank intensiver Forschungen kann aber exakt lokalisiert werden, wo das Quartett entstand und wo es uraufgeführt wurden ist.
Im aktuellen Chung-Messiaen-Projekt erklang „Quatour pour la fin du temps“ zunächst in der sogenannten Schütz-Kapelle des Dresdner Schlosses und tags drauf als Benefizkonzert für „Meeting Point Messiaen“ in der Kirche St. Bonifatius zu Zgorzelec. Die Staatskapelle, deren Mitglieder gemeinsam mit Myung-Whun Chung am Klavier das Quartett exzellent aufgeführt haben, übernahm inzwischen die Patenschaft für Götzes Lebenswerk „Meeting Point Messiaen“. Zunehmend werden sich auch politische Instanzen in Polen und Deutschland der Tragweite dieses Vorhabens bewusst.
Neben der kammermusikalischen Preziose hat das Orchester noch eine furiose Ensembleleistung gestemmt, die 1946 bis 1949 von Messiaen komponierte Turangalîla-Sinfonie. Der zehnsätzige Hymnus für großes Orchester, Soloklavier und Ondes Martenot steht in drei Sinfoniekonzerten der Staatskapelle in der Semperoper auf dem Programm. Mit scheinbarer Leichtigkeit führt Chung durch dieses vor Urkraft strotzende Werk, mit dem Messiaen sich offenbar seine Kriegsdepressionen vom Leib geschrieben hat. Was einst als Auftrag des Boston Symphony Orchestra entstand und von dem auch unter der Leitung von Leonard Bernstein uraufgeführt worden ist, hat nichts an seiner Klangkraft verloren, gilt als bezwingendes, mitreißendes Preisen der Freude.
Damit dürfte Olivier Messiaen in Dresden vielleicht sogar eine Spur honoriger gewürdigt worden sein als in Paris, wo er 1992 verstarb. Dort steht zwar die Oper „Saint François d’Assise“ an, die Unicef-Sonderbotschafter Myung-Whun Chung als Chef des Orchestre Philharmonique de Radio France erstmals einstudieren will, allerdings nur konzertant und in einer einmaligen Aufführung.