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Kümmert sich auch um das zweite Fagott: Kalevi Aho. Foto: Burkhard Schäfer
Kümmert sich auch um das zweite Fagott: Kalevi Aho. Foto: Burkhard Schäfer
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Abstrakte Erzählungen abseits festgelegter Bahnen

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Der finnische Komponist Kalevi Aho im Gespräch
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Neben Jean Sibelius, dem Urvater der finnischen Musik, und dem kürzlich verstorbenen Einojuhani Rautavaara zählt der 1949 in Forssa geborene Kalevi Aho heute zu den bekanntesten und sicherlich auch produktivsten Komponisten seines Landes. Man darf, ja muss diese Großen Drei in einem Atemzug nennen, zumal ein direkter Weg von einem zum anderen führt: Der greise Sibelius verschaffte dem jungen Rautavaara einst ein Stipendium, und der wiederum gab sein Wissen an seinen ehemaligen Schüler Aho weiter, als der vor rund 50 Jahren bei ihm Komposition studierte.

Längst verfügt der dünn besiedelte Nordosten von Europa – weit über das Dreigestirn hinaus – über eine beeindruckend hohe Komponisten-Dichte. Warum Finnland in Sachen klassische Musik so gut aufgestellt ist und welche Rolle er selbst dabei spielt, erzählte Kalevi Aho im Interview mit der nmz.

neue musikzeitung: Herr Aho, wie wurden Sie Komponist? Wann begannen Sie, die ersten Werke zu schreiben?

Kalevi Aho: Als ich zehn Jahre alt wurde, lernte ich die Noten. Und kaum, dass ich die Noten kannte, fing ich an zu komponieren; erst einstimmige Stücke für Solo-Violine, dann für zwei, drei und mehrere Stimmen. Ich musste mir imaginieren, wie die anderen Stimmen klingen, denn ich konnte natürlich nicht parallel alles mit einer einzigen Geige spielen. Mit fünfzehn haben meine Eltern ein Klavier gekauft und da lernte ich Klavierspielen. Daraufhin folgten größere Kompositionen, Quartette, Quintette, auch ein paar Werke für Orchester. Ich habe alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die es in meinem kleinen Heimatort Forssa gab, viele waren es nicht (lacht).

nmz: Wie wurde in Ihrem Heimatort musiziert?

Aho: Es gab in Forssa ein kleines Laienorchester, dem ich angehörte, wir spielten dort viele Sachen, unter anderem von Mozart, Schubert und Beethoven. Der Kantor des Ortes gründete ein kleines Kirchenmusik-Ensemble, wo ich Barockmusik von Bach, Corelli, Pergolesi und anderen spielen konnte. Später besuchte ich in drei Sommern Musikkurse für Studenten, zu denen junge Musiker aus ganz Finnland kamen, wir spielten da gemeinsam in einem guten großen Orchester. Die dort aufgeführten Komponisten wurden zu meinen Idolen. Mein ganz großes Vorbild war die vierte Sinfonie von Brahms. Als ich dieses Werk zum ersten Mal hörte, war ich dreizehn Jahre alt. Damit reifte mein eigener Entschluss, Komponist zu werden, denn Brahms‘ Sinfonie war einfach zu schön.

nmz: Inwiefern wurden Sie bei Ihren ersten kompositorischen „Gehversuchen“ von Selbstzweifeln geplagt?

Aho: Selbstverständlich hatte ich zuerst Zweifel, ob ich als Komponist leben können würde, denn ich stellte mir die wichtige Frage: Gibt es neben all den großen Tonschöpfern noch Platz für meine eigenen Kompositionen? Bevor ich mir darüber ganz im Klaren war, studierte ich an der Universität parallel zur Musik noch die Fächer Mathematik und Physik. Aber in den ersten Sommerferien wagte ich es, mein erstes größeres Stück zu schreiben und da wurde mir klar, dass ich mich nun doch ausschließlich der Musik zuwenden kann und will. Da habe ich meine erste Sinfonie in Angriff genommen und auf mein Studium an der Uni verzichtet. 

nmz: Als Sie angefangen haben zu komponieren, war Finnland noch nicht das große Musikland, das es heute ist. Wer gab in Ihrer Heimat neben dem Nationalkomponisten Sibelius den Ton an?

Aho: Es gab außer Sibelius noch andere Komponisten, aber seine Person war und ist immer noch  sehr dominierend. Ungefähr 40 Prozent aller gespielten finnischen Musik stammte von ihm und auch heutzutage wird von den einheimischen Orches­tern immer noch zu vierzig Prozent Sibelius gespielt, alle anderen zusammen machen vielleicht sechzig Prozent aus. Und selbst jetzt noch werden diese anderen Komponisten vergleichsweise zu wenig gespielt.

nmz: Dachten Sie jemals daran, sozusagen in die Fußstapfen von Jean Sibelius zu treten?

Aho: Nein, mit diesem Gedanken habe ich nie gespielt. Ich habe gespürt, dass, so wie ich anfing zu komponieren, niemand in Finnland bisher geschrieben hatte und dass ich ganz andere Dinge gestalten kann. Da wir heute nun so viele gute finnische Komponisten haben, ist es für die jungen Musiker bei uns jetzt viel schwieriger, ihren eigenen Weg zu finden und sich zu behaupten. Es gibt so viele verschiedene moderne Stilrichtungen.

Typisch finnisch?

nmz: Betrachten Sie sich selbst als einen, sagen wir ruhig: typisch finnischen Komponisten?

Aho: Ich selbst denke nicht über solche Klassifizierungen nach. Aber wenn man etwas Finnisches aus meiner Musik heraushört, dann ist das gut (lacht). Denn es bedeutet, dass sie innerhalb der europäischen Musikkultur doch etwas Anderes, Eigenes darstellt. Auch Brahms und Beethoven waren deutsche Komponisten, Schubert und Mahler waren sehr österreichisch. Ich finde es gut, wenn man den Komponisten und ihren Werken den geographischen und kulturellen Hintergrund ablauschen kann, in dem sie entstanden sind.

nmz: Kann man sagen, Finnland ist stolz auf seine Stellung in der europäischen Musikszene? Gefördert wird die Musik doch auf jeden Fall vom Staat, oder?

Aho: Ja, etwas. Es gibt vom finnischen Staat ja auch Stipendien über fünf, zehn und früher sogar fünfzehn Jahre. Ich hatte auch so ein fünfzehnjähriges Stipendium und konnte damit sehr viele meiner Werke verfassen. Dieses System ist gut. Es ist auch typisch für die Studenten, dass sie damit ins Ausland gehen, um dort ihr Studium fortzusetzen. Ich zum Beispiel ging nach meinem Kompositionsdiplom in Helsinki – mein Lehrer an der Sibelius-Akademie war Einojuhani Rautavaara – für ein Jahr nach West-Berlin, um bei Boris Blacher zu studieren. Das Studium bei Blacher und besonders die Stadt Berlin in den 70er-Jahren eröffneten ganz neue Perspektiven für mein musikalisches Schaffen. Typisch finnische Komponisten bringen also viele musikalische Eindrücke aus anderen Ländern in die Musik ihrer Heimat ein (lacht).

nmz: Darf ich fragen, ob ein berühmter Komponist wie Sie, der so viele Kompositionsaufträge bewältigt beziehungsweise noch in der Schublade liegen hat, reich und  wohlhabend ist?

Aho: Ich bin nicht sehr reich, aber ich kann von meinem Beruf leben (lacht). Die Kapellmeister sind viel wohlhabender (lacht). Auf jeden Fall bin ich froh, dass das schwedische Label BIS Records alles einspielen wird, was ich komponiert habe. Und mit meinen Interpreten, die auf den CDs zu hören sind, hatte ich bisher wirklich großes Glück, die Aufnahmen sind wirklich alle sehr gut. An CD-Verkäufen verdient man heutzutage aber bekanntlich nicht mehr viel.

nmz: Wie wichtig sind Tonträger denn trotzdem für Sie?

Aho: Sehr wichtig, unglaublich wichtig sogar. Man wird als Komponist bekannter, wenn die Leute Musik von einem auf CD hören können, also vor allem diejenigen, die meine Kompositionen auf der Bühne nicht hören können. Ich gehe zwar zu allen wichtigen Uraufführungen meiner Werke, aber ich kann nicht überall sein, wo meine Musik gespielt wird.

Alles sollte möglich sein

nmz: Viele Klassik-Liebhaber kennen Sie vor allem als Symphoniker und Komponist von zahlreichen Konzerten. Steht die Kammermusik für Sie in der zweiten Reihe?

Aho: Nein, das ist bei mir alles ebenbürtig und gleich viel wert. Ich habe auch für Kammermusik-Besetzungen viele Aufträge bekommen, im vergangenen Jahr ist ja gerade erst mein zweites Bläserquintett vom Philharmonischen Bläserquintett Berlin uraufgeführt worden. Im Moment bin ich dabei, ein Werk für Harfe und Streicher zu schreiben, das 2017 uraufgeführt werden soll. Ich komponiere und arbeite immer nur an einem einzigen Werk, nicht an mehreren gleichzeitig. Das heißt, wenn ich eine Oper schreibe, dann schreibe ich eine Oper; komponiere ich Kammermusik, mache ich nur das. Ansonsten würde man ja dasselbe musikalische Material in verschiedene Werke einstricken. Um also die Vielgestaltigkeit meiner Werke zu gewährleisten, vermeide ich Parallelitäten.

nmz: Wie gestaltet sich der Kompositionsprozess bei Ihnen, wie entwickeln sich Ihre Werke?

Aho: Ich komponiere ohne Skizzen, mache sofort die fertige Partitur, sogar bei den Opern. Wenn ich ein Anfangsmotiv habe, beginne ich das weiter zu spinnen und daraus entwickelt sich allmählich eine Komposition. Schreibe ich gerade einen schnellen Satz und habe den Eindruck, nun muss es einen Kontrast geben, dann entwerfe ich diesen Kontrast zum Beispiel mit langsamerer Musik. Ich arbeite sehr rasch, schreibe jeden Tag zwei bis vier Seiten, deshalb habe ich bereits in dreißig Tagen ein halbstündiges Werk komponiert.

nmz: Zu welchem Zeitpunkt wissen Sie, wann ein Werk fertig, in sich rund und stimmig ist?

Aho: Wenn ich die Möglichkeiten des Materials ausgeschöpft und das Gefühl habe, alles Wichtige gesagt und ausgedrückt zu haben. Dann ist das zu Ende.

nmz: Werden Sie eher euphorisch oder depressiv, wenn Sie ein Werk abgeschlossen haben?

Aho: Ich will es einmal so sagen: Bevor ich ein Werk zu Ende komponiert habe, beginne ich schon, an das nächste zu denken, sodass ich keine längeren Pausen habe zwischen meinen Stücken. Und auf diese Weise kann ich gar nicht in ein depressives Loch fallen.

nmz: Spielt der Unterschied von tonaler und atonaler Schreibweise in Ihrem musikalischen Denken eine Rolle?

Aho: Überhaupt nicht. Alles sollte möglich sein. Wenn man in solchen festgelegten Bahnen komponiert, dann schneidet man sich verschiedene Möglichkeiten ab. Man muss das erschaffen, woran man glaubt, ohne darüber nachzudenken, was die anderen meinen.

nmz: Sie sind ja sehr produktiv, komponieren schnell und effektiv. Haben Sie Angst, dass Ihnen doch einmal die Ideen ausgehen?

Keine Angst

Aho: Nein, nie. In den neunziger Jahren dachte ich darüber nach, wie ich meine Werke bereichern könnte und da begann ich, außereuropäische Musikrichtungen zu studieren: indische, arabische oder chinesische Musik. Ich habe Einflüsse daraus verarbeitet, so fließen zum Beispiel arabische Skalen und Rhythmen in mein Oboenkonzert mit ein. Die westliche Rhythmik ist im Unterschied zur arabischen primitiv. Die Beschäftigung mit der Musik des Ostens hat mir ganz neue Sichtweisen eröffnet. Aber orientalische Einflüsse gibt es nicht in jedem neueren Werk von mir. Überhaupt denke ich, wenn man mit der Musik etwas Wichtiges zu sagen hat, dann findet man immer den richtigen musikalischen Stil dafür. Wenn ich komponiere, dann denke ich auch an die Musiker und ihre Sicht auf meine Werke. Jeder Interpret hat etwas Substanzielles beizusteuern, nicht nur die erste Violine oder der erste Bläser. Ich kümmere mich auch um das zweite Fagott oder die dritte Klarinette. Und die Musiker sind glücklich weil sie spüren, dass man an sie gedacht hat.

nmz: Wie wichtig ist Ihnen der Kontakt zu anderen Komponisten, vor allem aus Ihrer nordischen Heimat?

Aho: Natürlich sehr wichtig. Pehr Henrik Nordgren war einer meiner bes­ten Freunde. Von den ausländischen Komponisten verstand ich mich sehr gut mit Anders Eliasson. Heute verbindet mich viel mit Erkki-Sven Tüür. Solch ein intellektueller Austausch ist wichtig, auch für den eigenen Schaffensprozess. Ich komponiere nicht nur viel Musik, ich spreche auch sehr gerne darüber. Um für mich selbst herauszufinden, warum ich einen Komponisten und seine Werke besonders mag, schreibe ich auch gerne ein Essay darüber. Man lernt viel, wenn man selbst schreibt. So finde ich am besten heraus, was mich musikalisch bewegt.

nmz: Begeistern Sie sich auch für andere Künste?

Weltliteratur inhaliert

Aho: Ja, natürlich haben mich auch andere Kunstrichtungen inspiriert, zum Beispiel die Literatur von Dostojewskij. Ich habe nach eingehender Lektüre seiner Werke sogar einen ausführlichen Essay über diesen Schriftsteller verfasst. Auch mit Thomas Mann habe ich mich beschäftigt, von „Doktor Faustus“ habe ich sogar die Form des Romans analysiert. Auch viele andere große Werke der Weltliteratur habe ich regelrecht inhaliert und auf diesem Weg sind sie mit in meine Musik eingeflossen.

nmz: Würden Sie Ihre Sinfonien als narrativ bezeichnen? Sind es gar klingende Romane?

Aho: Ja, ein bisschen kann man meine symphonischen Entwürfe schon mit denen von Gustav Mahler vergleichen. Es handelt sich bei mir aber weniger um programmatische als vielmehr um abstrakte Narrative, die man nicht erzählerisch deuten kann.

nmz: Was ist Ihnen – neben der Kunst – am wichtigsten?

Aho: Die Natur ist mir sehr wichtig, die finnische Natur. Ich besitze ein Sommerhaus draußen und verbringe dort immer drei Monate im Jahr. Auch Lappland mag ich sehr. Die lappländische Landschaft ist unglaublich schön und inspirierend. Sibirien mit der Tundra wäre auch sehr interessant. Ich mag überhaupt die nördlichen Gegenden wirklich gerne. Aber auch hier in Berlin gibt es unheimlich viel Grün. Ich könnte auch in dieser Stadt leben.

nmz: Würden Sie sich selbst als einen intellektuellen Komponisten bezeichnen?

Aho: Ja, aber wenn ich komponiere, beziehe ich die Intellektualität nicht unmittelbar mit in das ein, was ich gerade erlebe. Aber natürlich hat es alles einen Einfluss auf mein Werk. Wenn ich heute glücklich bin, kann ich trotzdem traurige Musik schreiben und wenn ich traurig bin, kann ich trotzdem freudige Musik komponieren. Als mein Vater starb, hatte dies sicherlich irgendwie Einfluss auf meine Komposition genommen, auch wenn ich es erst später bewusst musikalisch verarbeitet habe.

nmz: Was hat sich in der Klassik in den letzten Jahren musikalisch verändert?

Aho: Der strikte Modernismus hat sich verändert. Es gibt ihn nicht mehr so wie früher. In Orten wie Darmstadt oder Donaueschingen lebt das noch fort, aber ich empfinde es als altmodisch. Dies interessiert mich nicht. Meine Musik wird dort aber ohnehin nicht gespielt (lacht).

nmz: Was war für Sie ein großer Moment bei der Aufführung Ihrer eigenen Musik?

Aho: Ich habe glücklicherweise einige Sternstunden bei meinen Uraufführungen erleben dürfen. Besonders intensiv war die Uraufführung der achten Sinfonie, denn dort herrschte eine solch greifbare, dichte Stimmung. Am Ende der Aufführung begannen einige Musiker zu weinen. Auch der Dirigent war sehr ergriffen. Das Erlebnis werde ich nie vergessen.  

Interview: Burkhard Schäfer 

Diskographischer und editorischer Hinweis:

Die CDs von Kalevi Aho werden vom schwedischen Label BIS Records (im Vertrieb von Klassik Center) produziert, zuletzt erschienen dort seine Werke für Solo-Klavier (mit der Pianistin Sonja Fräki, BIS 2106), die Konzerte für Horn beziehungsweise Theremin und Kammerorchester (mit dem Lapland Chamber Orchestra unter John Storgårds, BIS 2036), seine Werke für und mit Orgel (mit dem Organisten Jan Lehtola, BIS 1966) sowie sein Fagottkonzert (BIS 2206). Der Komponist wird in Großbritannien, Irland, Deutschland, den USA, Mexiko und den Ländern des britischen Commonwealth (außer Südafrika) von Boosey & Hawkes vertreten. Sein Hauptverleger ist Fennica Gehrman.

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