Wie die meisten Musiker in England begann auch Simon Halsey als Sänger: Zwischen seinem 8. und 21. Lebensjahr sang er täglich im Gottesdienst, davon viele Jahre am King‘s College Cambridge. Sein Vater war Chordirigent, seine Mutter Sängerin. Mit 22 Jahren wurde er Musikdirektor der University of Warwick, mit 24 Jahren Leiter des City of Birmingham Symphony Chorus. Diese Position hat er bis heute inne, aber 2001 tat er einen Schritt, von dessen Auswirkungen der folgende Text handelt: Simon Halsey übernahm die Leitung des Rundfunkchores Berlin in der Nachfolge von Robin Gritton.
Damals war das Musikleben in Berlin ein anderes als heute. Vor zehn Jahren war Simon Rattle noch nicht Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Der Rundfunkchor Berlin hatte bereits öfter mit den Berliner Philharmonikern gearbeitet, doch zu Claudio Abbados Zeit kooperierten diese noch häufiger mit Eric Ericson und dessen Chor aus Schweden. Angekommen in Berlin, begann Halsey, den Chor weiter zu perfektionieren. „Der Chor war immer sehr gut“, erinnert er sich, „aber wir haben sein Repertoire erweitert. Wir haben etwas mehr französische Musik gemacht, etwas mehr amerikanische und ein klein bisschen mehr britische.“ Auch das Szenische rückte in den Blick: etwa bei der „ritualisierten“ Matthäus-Passion mit Regisseur Peter Sellars, Beethovens Fidelio oder Wagners Götterdämmerung. „Heute sind wir regelmäßig Partner der Berliner Philharmoniker, für die nächste Spielzeit sind bereits acht gemeinsame Projekte geplant, und der Chor ist glücklich über diese Zusammenarbeit. Das Repertoire ist sehr breit, sehr interessant: Berio, Bach, Bruckner.“
Dass Halsey aus dem Rundfunkchor Berlin ein Ensemble von Weltrang geformt hat, spiegelt sich auch in den drei Grammy-Auszeichnungen wider: 2008 und 2009 für Brahms’ „Deutsches Requiem“ und Strawinskys „Psalmensinfonie“ mit den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle sowie 2011 für Kaija Saariahos „L’amour de loin“ mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter Kent Nagano.
Andreas Kolb, Chefredakteur der neuen musikzeitung, traf den umtriebigen Dirigenten für ein Interview nach einer Probe von Anton Bruckners Messe Nr. 3 f-Moll mit den Berliner Philharmonikern und dem Rundfunkchor Berlin unter Herbert Blomstedt.
neue musikzeitung: Was für ein Gefühl ist es, die Probenarbeit abgeschlossen zu haben und dann den Chor an den Orchesterdirigent „abgeben“ zu müssen?
Simon Halsey: Das ist unterschiedlich. Chordirigent ist ein ganz besonderer Job. Ich habe mit Simon Rattle beim City of Birmingham Symphony Orchestra begonnen, als er 27 Jahre und ich 24 Jahre alt war. Damals wollte ich auch Orchesterdirigent werden. Nach ein paar Jahren sagte Rattle zu mir: „Es gibt nur wenige Orchesterdirigenten, die es an die Spitze schaffen. Aber! Einmal in einer Generation gibt es einen sinfonischen Chorleiter wie Wilhelm Pitz mit Giulini und Karajan oder dem Bayreuther Opernchor beziehungsweise dem Philharmonia Chorus London. Oder Arthur Oldham mit dem Choeur de l’Orchestre de Paris oder dem London Symphony Chorus. Das Ziel für Dich ist es, dieser Mann für unsere Generation zu sein.“ Ich war für einen Tag lang traurig. Aber nach 24 Stunden war klar: Ja, das will ich versuchen – meine Begabung liegt wirklich mehr im Chordirigieren.
nmz: Ihr Ziel war jedoch zunächst Orchesterdirigent?
Halsey: Ja. Es ist für die Orchester heute oft eine Überraschung, wenn sie merken, dass ich als Chordirigent mich auch mit Orchestern gut auskenne. Ich erinnere mich: Vor vier Jahren war Claudio Abbado krank, und der Orchestervorstand bat mich, die Generalprobe zu machen. Es lief sehr gut, und der Orchestervorstand sagte: „Wenn Abbado morgen noch krank ist, kannst Du dieses Konzert dirigieren.“ Aber er war am nächsten Tag gesund, und so kam ich nie dazu, ein Konzert der Berliner Philharmoniker zu dirigieren. (lacht)
nmz: Können Sie es „aushalten“ bei der Aufführung?
Halsey: Ja, denn wenn das Konzert beginnt, ist eigentlich der größte Teil der Arbeit schon passiert. Meine Aufgabe ist es, den Chor so gut vorzubereiten, dass etwas Wunderbares entstehen kann. Simon ist fantastisch und sagt „Welcome to the family“, wenn der Rundfunkchor dazukommt, und „Der Chor muss für das Orchester a cappella singen, und wir spielen mit“. Mittlerweile gibt es schönes Vertrauen. Wenn wir kommen, heißt es: „Oh, der Chor ist hier, gut.“ Und nicht: „Oh je, ein Chor kommt.“ Das ist so anders als „Das Orchester hat immer recht, und der Chor ist immer schlecht“.
nmz: Die Spitzenarbeit mit Ihren Sängern ist das eine – was verbirgt sich hinter dem Slogan „Broadening the Scope of Choral Music“?
Halsey: Als ich neu war, hat der Chor viele A-cappella-Konzerte auf höchstem Niveau gemacht, aber meist vor kleinerem, eingeschworenem Publikum. Die Idee von „Broadening the Scope of Choral Music“ ist es, ein neues Publikum zu erreichen, und zwar nicht nur durch gute Programme und Auftritte in den konventionellen Konzertsälen. Wir gehen inzwischen mit spartenübergreifenden Projekten in Museen, wie den Hamburger Bahnhof in Berlin, oder in Techno Clubs wie das Berghain. Es wurde viel neue Musik für uns geschrieben, etwa von Jonathan Harvey, Mark-Anthony Turnage oder auch die Chor-oper „Angst“ von Christian Jost. Wir haben sie in den Sophiensälen und an der Komischen Oper Berlin gesungen. Uns ist klar, dass wir kein Opernchor sind, aber ich habe das Gefühl, dass wir auch mit Bewegung arbeiten und auswendig singen müssen. Wir wollen neue Impulse.
nmz: Fehlt nur noch ein Tanzprojekt?
Halsey: Oh, haben wir schon gemacht: „Der versiegelte Engel“ von Rodion Shchedrin. Und nächstes Jahr machen wir das Brahms-Requiem mit Sasha Waltz.
nmz: In „Broadening the Scope of Choral Music“ steckt noch mehr drin als Uraufführungen und Inszenierung: Ihre Profis arbeiten auch mit Amateuren?
Halsey: In Deutschland singen Millionen Menschen. Profichöre wie der Rundfunkchor Berlin stehen nur an der Spitze einer Pyramide. Deshalb haben wir Projekte entwickelt, bei denen Amateure hier in die Philharmonie kommen und mit Profis singen.
nmz: Welche Wechselwirkungen gibt es da?
Halsey: Es macht Spaß. Es geht nicht nur darum, dass die Amateure im Workshop vor dem Konzert von den Profis lernen, sondern es ist auch sehr inspirierend für uns, die Energie zu spüren, wenn 1.300 Menschen mitsingen.
nmz: Es gibt ein schönes Zitat von Ihnen: „Es wächst eine Generation heran, die viel von Computern und Popkultur versteht, aber nichts von klassischer Musik. Man muss die Musik wieder zu den Menschen bringen“. Ist das die zentrale Idee Ihrer Bemühungen?
Halsey: Genau. Diese Educationarbeit hat Simon Rattle zu den Philharmonikern gebracht. Und wir haben verschiedene Formate für Chor entwickelt. Educationarbeit ist ein britischer Import, der aber hierzulande besser umgesetzt wird. Wir haben kürzlich mit einem neuen Projekt für Grundschulen begonnen: Vorbild war das englische „Sing Up“. Dort fließen über 10 Millionen Euro jährlich von der Regierung ins Projekt. Wir haben ein Experiment namens „SING!“ mit drei Grundschulen hier in Berlin begonnen, mit Unterstützung vom Land Berlin. Im Mittelpunkt steht nicht nur das Singen der Kinder, sondern wir lehren die Lehrer, dass Chormusik nicht nur einmal eine Stunde Singen in der Woche heißt, sondern jeden Tag ein fördernder Teil der fächerübergreifenden Arbeit sein kann.
nmz: Singen in Deutschland, warum muss das gefördert werden?
Halsey: Ganz einfach: die Musikausbildung war bis in die 60er-Jahre gut – dann kam die Krise: Man sang nicht mehr. Das reichte bis weit in die 80er-Jahre hinein. Übrigens war das in England ganz ähnlich. Aber in England hatten wir die Renaissance 1985, sie kommt in Deutschland ein bisschen später.
nmz: Auf der chor.com, der ersten Messe für Chormusik diesen September in Dortmund, sind Sie und der Rundfunkchor Artist in Residence. Was bedeutet das für Sie?
Halsey: Mein Spektrum geht über die künstlerische Arbeit mit dem Rundfunkchor Berlin hinaus. Ich arbeite sehr viel mit Jugendchören, Universitätschören, Amateurchören, auch das ist meine Welt. Ich bin weiter Herausgeber für neue Musik, suche neues Repertoire und habe eine Professur für Chordirigieren in Cardiff. Das alles bringe ich mit nach Dortmund und hoffe, alle, die auf der chor.com sind, zusammenzubringen – nicht die Profis auf der einen Seite und die Amateure auf der anderen. Es wird verschiedenste Mitsingprojekte geben, Kammerchöre, neue Musik und vieles mehr. Das alles ist new blood.
nmz: In der ausverkauften Berliner Philharmonie sang im Januar ein 500-köpfiger Projektchor mit Gospelmusik unter der Leitung von André Thomas. Auch der Rundfunkchor Berlin hat unter seiner Leitung schon mehrfach Spirituals und Gospels gesungen. Inwiefern profitiert der Rundfunkchor von der Gospelmusik?
Halsey: Der Schwung, die Bewegung, die Freude, die im Gospel steckt, kann man auch bei Bach und Brahms benutzen. Ich möchte, dass alle im Chor dafür offen sind, mit Ohren und mit dem Herzen. Letztes Jahr haben der Chor und ich erstmals eine Meisterklasse für junge Chordirigenten angeboten. Der Austausch zwischen Sängern und Dirigenten hilft allen, besser zu verstehen, was ein Dirigent macht. Warum etwas so klingt oder so, und was man tun muss, um bestimmte Wirkungen zu erzielen.
nmz: Mit Ihrem LeaderChor Berlin haben Sie eine sehr sympathische Art des Fundraising erfunden.
Halsey: Wir haben ein Projekt für Businessmen: Man kann für drei bis vier Tage nach Berlin kommen und mit dem Rundfunkchor Berlin arbeiten. Am Ende steht ein öffentliches Konzert. Wir haben viele Freunde und Förderer darunter.
nmz: Der Rundfunkchor Berlin ist in die ROC, die Rundfunk-Orchester und -Chöre GmbH Berlin, integriert. Was bringt die Zukunft?
Halsey: Wir müssen positiv bleiben. Ich sprach letztes Jahr mit allen politischen Parteien in Land und Bund über unsere Zukunft. In der ROC sind wir abgesichert bis 2013/14. Und ich bin sicher, es geht weiter. Wir müssen relativ viel Geld erwirtschaften. Das ist nicht immer schlecht, denn wir leben dadurch in einer „Real World“: Wir verstehen was von Business.
nmz: Sie haben Ihren Vertrag bis 2016 verlängert …
Halsey: Die Botschaft ist klar, auch was Hans-Christoph Rademann, Chefdirigent des RIAS Kammerchores, angeht: Wir bleiben! ¢