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Alois Hába. Foto: Alois Hába Information Centre, Prague

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Der Meister der Mikrotöne

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Ein Essay zum 50. Todestag von Alois Hába
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Mehr als 100 Werke hat er geschrieben, davon rund die Hälfte unter Verwendung von Mikrointervallen. Während viele in diesem Bereich nur theoretisierten und experimentierten, war Alois Hába (1893–1973) der große Praktiker der Mikrotonalität.

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Eigentlich hatte er das Studium schon beendet – das 1. Streichquartett (op. 4) war seine Abschlussarbeit. Doch sein Lehrer Franz Schreker erlaubte ihm, weiterhin die Kompositionsklasse zu besuchen, und schon bald legte Alois Hába die Noten für ein 2. Streichquartett vor. Er hatte es in nur zwei Wochen komponiert, zum Teil in einer Gaststube, neben dem wärmenden Ofen. „Meine musikalischen Vorstellungen waren dank meines absoluten Gehörs innerlich so eindeutig, dass mich das neben mir ertönende Orchestrion und die laute Unterhaltung der Gäste nicht störten.“ Das ist umso bemerkenswerter, weil Hába etwas damals Unerhörtes niedergeschrieben hat: ein Streichquartett mit Viertelton-Intervallen. Die Lektüre von Ferruccio Busonis Schrift „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ hatte ihn auf die Idee gebracht. Darin schreibt Busoni, das „12-Halbtonsystem“ sei ein „Fall von Zurückgebliebenheit“ und die Abstufung der Oktave eigentlich „unendlich“. Was Hába daraufhin mit sicherem Gehör komponierte, konnte sich selbst sein Lehrer Schreker nur schwer innerlich vorstellen. Dennoch empfahl er das neuartige Viertelton-Werk umgehend Wiens größtem Musikverlag zur Veröffentlichung.

Abgenützte Tonalität

Nicht nur Busoni hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Gefühl, das Halbtonsystem habe sich überlebt. Der Komponist Ernst Toch schrieb später, die Tonalität sei damals „erschöpft“ gewesen, die Harmonik „abgenützt“. Arnold Schönberg behielt zwar die chromatische Tonleiter bei, ersetzte Tonalität aber durch Reihentechnik. Andere fanden, dass es für die zwölftönige Oktave keine Begründung mehr gäbe, wenn die herkömmliche Harmonik aufgelöst war. Schon Debussy konnte sich eine 21-stufige Tonleiter vorstellen. Der Wissenschaftler Heinrich von Helmholtz baute ein Harmonium in „reiner“ Stimmung, das 30 Tasten pro Oktave besaß. Der Physiker Arthur von Oettingen entwickelte ein „Orthotonophonium“ mit 53 Oktavtönen, der Erfinder Jörg Mager ein „Sphärophon“ mit sogar 72. Auch der Komponist Willy von Möllendorff präsentierte ein bichromatisches (vierteltöniges) Harmonium. Silvestro Bag­lioni in Italien oder Julián Carrillo und Hans Barth in den USA propagierten ebenfalls Mikrotonskalen. Komponisten wie Bartók und Ives waren sich sicher, dass der Mikrotonalität die Zukunft gehöre.

Alois Hába war der Kreative unter den Mikroton-Pionieren – keiner hat so viel Mikrotonmusik komponiert wie er. Sie nannten ihn daher den „kühnsten Modernisten“ (Hans Heinz Stuckenschmidt) und den „mutigsten Experimentator“ (Vladimír Helfert). Dabei war gerade er – anders als die meisten auf diesem Gebiet – weniger ein Experimentator als vielmehr ein Expressionist. Hába besaß nämlich einen „natürlichen“ Zugang zur Mikrotonalität, und zwar durch die mährische und walachische Volksmusik, die seine Eltern praktiziert hatten. In dieser vom Ostbalkan beeinflussten Musiktradition hörte er von klein auf auch „ein wenig kleinere oder größere Intervalle“ und entwickelte einen sehr feinen Sinn dafür. Weit entfernt davon, „atonal“ zu komponieren, hielt er Mikrotöne einfach für ein zusätzliches Ausdrucksmittel – eines, das der Musik Nuance, Würze und Farbe gibt, eine besondere Klanglichkeit und eine besondere Kraft. „Oft genügt es, den Höhepunkt einer Melodie um einen Halbton, Viertelton oder Sechstelton anzuheben, um eine befriedigende musikalische Expressivität zu erreichen“, schrieb Hába 1945. „Das ist, als ob man einen Edelstein schleifen würde.“ Als besonders ausdrucksstark schätzte er das Viertelton-Intervall („bedrückend“), die um einen Viertelton erhöhte Dur-Terz („hell“), das Intervall zwischen Moll- und Dur-Terz oder das Alphorn-Fa (zwischen Quart und Tritonus).

Anfang der 1920er-Jahre ging sein Lehrer Franz Schreker nach Berlin – und Hába ging mit. In Berlin wirkten damals auch Schönberg und Busoni, zwei seiner Helden. Zudem gab es dort auch das Phonogramm-Archiv, die musikethnologische Sammlung von Tondokumenten aus aller Welt – hier lernte Hába weitere Beispiele für die Ausdruckskraft der Mikrotöne kennen. (1931 soll er sogar in Kairo einen Kongress für arabische Musik besucht haben.) Hábas vierteltöniges Streichquartett Nr. 2 (op. 7) wurde 1921 in Berlin durch das Havemann-Quartett uraufgeführt. Für das folgende, ebenfalls vierteltönige Streichquartett Nr. 3 (op. 12) konnte gar das Amar-Quartett gewonnen werden (mit Paul Hindemith an der Bratsche), das das zweisätzige Werk selbstständig einstudiert und in Salzburg 1923 beim allerersten IGNM-Musikfest aufgeführt hat. In diesem Werk verwendet Hába erstmals keine Themen mehr, keine Wiederholungen; an die Stelle thematischer Entwicklung treten eigenständige Episoden. Das Leben selbst, meinte Hába, sei dabei sein Vorbild: „Nicht zwei Augenblicke, die wir erleben, sind gleich. Nichts wiederholt sich im Leben.“

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Literaturhinweis: Vlasta Reitteroá, Lubomir Spurný: Alois Hába zwischen Tradition und Innovation, Schriftenreihe des Sudetendeutschen Musikinstituts/ConBrio Verlag

Literaturhinweis: Vlasta Reitteroá, Lubomir Spurný: Alois Hába zwischen Tradition und Innovation, Schriftenreihe des Sudetendeutschen Musikinstituts/ConBrio Verlag

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Mit Ferruccio Busoni, dem Berliner „Musik-Guru“, von dessen Schrift Hába ursprünglich inspiriert war, verstand er sich offenbar gut. (Busoni soll den Namen Alois Hába liebevoll zu „Ali Baba“ verballhornt haben.) Nachdem Hába schon drei vierteltönige Streichquartette komponiert und auch einen ersten Aufsatz zum Viertelton­system veröffentlicht hatte, fragte Busoni ihn aber nach Sechsteltonmusik. (Schon in seiner Schrift zur „neuen Ästhetik der Tonkunst“ hatte Busoni die Sechsteltöne favorisiert.) Hába antwortete mit einem weiteren Streichquartett (op. 15), seiner ersten Komposition im Sechsteltonsystem. Offenbar konnte er sich in diesem System genauso mühelos bewegen – nur mit seiner inneren Tonvorstellung, ganz ohne Hilfs-Instrument. Seine „Neue Harmonielehre“ von 1927 behandelte dann auch nicht mehr nur die Vierteltonmusik, sondern umfassend das „diatonische, chromatische, Viertel-, Drittel-, Sechstel- und Zwölfteltonsystem“. Eine echte Harmonik der Mikrotöne liefert diese Schrift freilich nicht, eher eine Theorie der Modalität, basierend auf Tonzentrum und Tonleiter, ähnlich wie in der arabischen Musik.

Tastatur hinter Tastatur

Für Hába, den gelernten Geiger, waren die Streichquartette das wichtigste Genre als Mikroton-Komponist. Auf den bundlosen Geigen sind Vierteltöne ja rein technisch machbar – ähnlich wie mit der Posaune oder der Gesangsstimme. (Dennoch bleiben die exakte Intonation und die Übertragung fortgeschrittener Spielkunst auf die Vierteltonskala für Interpreten natürlich eine Herausforderung.) Als Hába aber 1923 am Konservatorium in Prag zu unterrichten begann und ein Jahr später dort eine Abteilung für mikrotonale Musik einrichtete, hatte er auch andere Instrumente zu berücksichtigen. Unter seiner Anleitung entstanden zum Beispiel eine Vierteltonklarinette (1924), eine Vierteltontrompete (1931), eine Vierteltongitarre (1943) und sogar ein Sechsteltonharmonium (1936). Für alle diese neuartigen Instrumente hat er komponiert. Er schrieb außerdem mikrotonale Opern (etwa „Die Mutter“, vierteltönig, 1928), mikrotonale Chorstücke und mikrotonale Kammerwerke für Solovioline, Solocello, Violinduo oder Posaunenquartett. Alois Hába war in den 1920er- und 1930er-Jahren ein etablierter Name auf vielen Neue-Musik-Festivals. Zum wichtigsten und bekanntesten Musikinstrument, das Hába anfertigen ließ, wurde das Vierteltonklavier. Die Konstruktionsidee des von der Firma August Förster gelieferten Instruments war die, dass hinter der Klaviertastatur eine zweite Tastatur liegt, die mit einem zweiten Klangkörper verbunden ist. Die Saiten dieser beiden Teilklaviere sind um einen Viertelton versetzt gestimmt und decken so das ganze Vierteltonspektrum im Tonbereich des Klaviers ab. Von Iwan Wyschnegradsky, Hábas russischem Komponistenkollegen und „alter ego“, kam der Vorschlag, hinter die zweite Tastatur des Instruments noch eine dritte zu legen, die wieder auf den ersten Klangkörper zugreift, so dass die Übergänge leichter zu greifen sind. Dennoch erfordert das Spiel des Vierteltonklaviers natürlich besondere Übung und eine hoch entwickelte Fingertechnik. Zum Glück waren einige von Hábas Prager Schülern bereit, diese Technik zu erlernen. Vor allem Karel Reiner und Miroslav Ponc traten als Vierteltonpianisten in Erscheinung, aber ebenso Hábas Komponistenkollege Ervín Schulhoff. Bei den IGNM-Festivals in Prag, Frankfurt oder Siena gab es zwischen 1925 und 1928 einige beachtete Konzerte mit diesem Vierteltonklavier. Insgesamt schrieb Hába damals 15 Solowerke für das Instrument (zehn einsätzige Fantasien und fünf mehrsätzige Suiten) und setzte es außerdem zur Begleitung in etlichen Kammerwerken ein.

Rückschläge

Der fantasievolle Aufbruch von Kunst und Kultur in den 1920er- und 1930er-Jahren hat in vielen Bereichen herbe Rückschläge erleben müssen. Vor allem das NS-Regime, der Zweite Weltkrieg und der sowjetische Einfluss nach dem Krieg haben Europas Freiheit und Fortschritt stark zugesetzt. Auch Alois Hábas erfolgreiche Laufbahn wurde empfindlich ausgebremst. Ausgerechnet am 15. März 1939, als in Prag am Abend ein großes Hába-Konzert stattfinden sollte (mit Karel Reiner am Vierteltonklavier), marschierten Hitlers Truppen in die Stadt ein. Das Konzert wurde natürlich abgesagt – ein schlechtes Omen für Hába, doch immerhin sollte er seinen Lehrstuhl behalten. Offiziell war im „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“ die mikrotonale Musik natürlich verboten. Viel schlimmer noch: Viele von Hábas Schülern haben Krieg und KZ nicht überlebt. Aufgrund von Professorenpflichten und Besatzungszeit schrieb Hába 20 Jahre lang keine neuen Streichquartette oder Vierteltonklavierstücke. Erst nach der Befreiung Prags 1945 entstand die Sonate op. 62, sein bedeutendstes Werk für Vierteltonklavier. Noch einmal 14 Jahre später folgten für dieses Instrument eine letzte (elfte) Solofantasie und eine letzte (sechste) Solosuite.

Es ist vor allem dem Geiger Dušan Pandula zu verdanken, dass Hába nach dem Krieg wieder Streichquartette zu schreiben begann. Tatsächlich entstanden elf seiner 16 Streichquartette nach 1945. Volle 27 Jahre waren allerdings seit dem Sechsteltonquartett für Busoni vergangen, ehe Hába sein erstes Werk für Pandula komponierte – der taufte sein Ensemble damals hingebungsvoll Hába-Quartett. Doch die Prager Freiheit währte nur kurz – die Sowjet-Ideologie nahm die Kultur erneut an den kurzen Zügel. Daher musste Hába einige seiner nächsten Quartettstücke wieder im Halbtonsystem notieren, und selbst das Hába-Quartett wurde gezwungen sich umzubenennen – es wählte den Namen von Hábas wichtigstem Lehrer, Vítêzslav Novák. Alle späten Streichquartette Hábas erlebten ihre Uraufführung durch das Novák-Quartett, und zwar meist im Ausland (Stockholm, Hamburg, Donaueschingen usw.).

Auf einer seiner Auslandsreisen lernte Hába 1958 in Paris auch den Physiker Adriaan Daniël Fokker kennen, der sich im reiferen Alter überwiegend mit Musikmathematik und Musiktheorie beschäftigte. Fokker hatte ein 31-töniges Oktavmodell entwickelt und dafür 1950 eine Orgel mit neuartiger Tastatur bauen lassen. Natürlich war der Mikroton-Meister Alois Hába von Fokkers Ideen fasziniert. Sein letztes Streichquartett (1967) komponierte Hába 74-jährig nach Fokkers besonderem Fünfteltonsystem.

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