Die koreanische, seit 1974 in Deutschland lebende und zuletzt als Professorin an der Bremer Hochschule für Künste lehrende Komponistin Younghi Pagh-Paan wird 80 Jahre alt. Lange waren ihre zunächst wenigen Werke so eine Art Geheimtipp.
Die FEM-Nadel des DKV ging 2018 in Donaueschingen an Younghi Pagh-Paan. Foto: Juan Martin Koch
„Der Mensch ist mein Thema“
Je älter sie wurde, desto deutlicher wurde ihr: „Ich möchte mich auf eines verlassen können: dass ich keine Musik schreiben werde, die mich von dem entfernt, was mir als Wurzel unserer Kultur bis heute innewohnt.“ Auf dieser Basis entwickelte sie in Freiburg zunächst als Schülerin von Klaus Huber (den sie später heiratete) ihre kompositorische Technik. Immer wieder zitiert sie dafür Friedrich Hölderlin: „Aber das Eigene muss so gut gelernt sein wie das Fremde“. In Bezug auf die koreanische Musik heißt das: Diese Musik existiert nur in der Horizontale. Bei mehreren nebeneinander laufenden Stimmen, der so genannten Heterophonie, entstehen dann Akkorde, die nicht in einem funktionalen Bezug zu verstehen sind; sie bilden einen harmonischen Raum, der rein atmosphärisch verstanden wird und „das schwierige Problem der harmonischen ‚Vertikalisierung‘ einer an sich horizontalen, linearen Musikkonzeption löst“. So erklärte sie einst ihren Weg zu den dann so von ihr genannten „Mutterakkorden“.
So hat auch die koreanische Musik keine Melodien in unserem Sinne, sondern so genannte Modi. Daraus bilden sich Artikulationen, Klangfarben, Intonationsdifferenzierungen, vor allem auch die Entfaltung des Einzeltones. Er lebt in der Musik nicht wie bei uns in der Verbindung mit einem anderen, sondern für sich. Isang Yun, der ebenfalls in Deutschland lebte, sagte einmal: „Man kann unsere Töne mit Pinselstrichen vergleichen im Gegensatz zur Linie des Zeichenstiftes. Vom Ansatz bis zum Verklingen ist jeder Ton Wandlungen unterworfen; er wird mit Verzierungen, Vorschlägen, Schwebungen, Glissandi und dynamischen Veränderungen ausgestattet, vor allem wird die natürliche Vibration jedes Tones bewußt als Gestaltungsmittel eingesetzt“. Pagh-Paan ergänzt diese Ausführung: „Die Farbgebung ist das Lebenselement eines jeden erklingenden Tones.“
Auch der Rhythmus hat eine andere Bedeutung. Er meint nicht die Erfassung und Strukturierung der Zeit, sondern er gebiert bei Pagh-Paan einen permanenten Fluss. Jedes Werk von Pagh-Paan verdankt sich außermusikalischen Einflüssen, besonders Literatur – Rose Ausländer, Anna Achmatowa, Louise Labé –, philosophischen und religiösen Strömungen – Simone Weill, Edith Stein, Teresa von Avila, Meister Eckehart, der Mystiker Heinrich Seuse – und konkreten politischen Ereignissen wie Unterdrückung und Aufständen. Damit klinkt sie sich ein in die mündlichen Traditionen ihres Landes, sie erzählt, sie hält Erinnerung wach, schafft Assoziationen mit unbewusst gewordenem Wissen und verweist damit auf die Gestaltungsmöglichkeiten von Zukunft. Uralte materiale Symbole aus dem taoistischen Kosmos tauchen in ihren Werken auf: Wasser, Steine, Holz, Seide, Fell. „Durch den Prozess der Kompositionsarbeit versuche ich mir selbst die Erinnerung an vergangene Zeiten und Geschehnisse wachzuhalten, die man gerne und andauernd verdrängt.“
In diesem Sinne erinnern wir an einige Werke. In „Man-Nam“ für Klarinette und Streichtrio verarbeitet sie 1977 nach dem Umzug nach Freiburg ihren Kulturschock: Ein chinesisches Gedicht „In mir ist meine Heimat, wo meine Mutter lebt“ ist die Grundlage des mehrfach preisgekrönten Werkes. 1982 entstand „Pyon Kyong“ für Klavier und Schlagzeug, in dem sie die Materialien des taoistischen Denkens nachbildet. Mit „Ta-Ryong IV“ für Schlagzeug solo (1991) will sie die „Kraft der Erinnerung“ wecken und nennt das Stück im Untertitel „Die Rückseite der Moderne“. Mit „U-Mul“ (Der Brunnen) für sieben Instrumentalisten (1992), geht es ihr um das ewig aktuelle Thema der „gerechten Verteilung des Wassers als eine Grundbedingung für den Frieden“. So setzt sie ein vegetatives Musizieren in Gang, das ein Bild für dauerhaftes Verteilen sein könnte.
1974 ist sie zum Katholizismus übergetreten und erforscht seitdem die Tiefe beider Kulturen. Wie sehr sie ihre Kompositionen politisch verstanden haben will, ohne jemals propagandistisch zu sein, zeigt sie im 1983 geschriebenen „Flammenzeichen“ für Frauenstimme mit kleinem Schlagzeug: Grundlage sind die Texte der „Weißen Rose“ von Sophie Scholl, aus der Bergpredigt und dem Buch Kohelet. Ein Werk, das in der Tradition des dramatischen Sologesanges „Pansori“ steht, eine epische Erzählweise mit extremen Ausdrucksgesten. In „Flammenzeichen“ spricht, singt, flüstert und schreit der gepeinigte Mensch. „No-Ul“ 1984 für Streichtrio ist ein zorniger und trauriger Kommentar zu politischem Unrecht nach einem Gedicht von Ernesto Cardenal. Mit dem großen Orchesterstück „Sori“ (1979/80) erreichte sie ihren internationalen Durchbruch: Als erste Frau hatte sie 1980 einen Kompositionsauftrag vom Südwestrundfunkorchester erhalten und gewann mit diesem Werk den Stuttgarter Kompositionswettbewerb. 2006 wurde ihre erste Oper „Mondschatten“ in Stuttgart uraufgeführt: Die lebendig eingemauerte Antigone, für Pagh-Paan die erste Frau, die „Nein!“ (zu dem Regime von Kreon) sagte.
2012 wurde in München „Hohes und tiefes Licht“, ein Doppelkonzert für Violine, Bratsche und Orchester, uraufgeführt. 2016 findet ihr erstes Streichquartett „Auf hoher See“ seinen Weg neben den großen Werken von Luigi Nono und Helmut Lachenmann. Es geht ihr mit „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ aus dem Lukas-Evangelium und einem Text der verehrten Mystikerin Simone Weill mit geradezu magischen Klängen um Bewegung aus der Bewegungsglosigkeit. Es geht ihr um Verzeihung und Liebe, nicht zum ersten Mal versucht sie, „Gedanken in Klänge zu verwandeln“. Und: „Für mich ist lebenswichtig, was in der Welt jetzt passiert. Ich will damit eigentlich deutlich sagen: Der Mensch ist mein Thema“. Nach mehreren früheren Auszeichnungen erhielt sie 2011 die Senatsmedaille für Kunst und Wissenschaft der freien Hansestadt Bremen, 2015 den Preis der europäischen Kirchenmusik, 2020 den großen Kunstpreis Berlin und nun das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.
So lebt sie heute in einem Bremer Seniorenheim in regem Kontakt mit vielen namhaften, wenn nicht sogar berühmten Schüler:innen, darunter Jamilia Jazylbekowa (Kasachstan), Samir Odeh-Tamimi (Israel-Palestina), Brigitta Muntendorf, Tobias Klich, Joachim Heintz, Klaus Lang, Christoph Ogiermann (Deutschland), Elnaz Seyedi, Farzia Fallah (Iran), Calogero Scanio (Sizilien) und Rucsandra Popescu (Rumänien).
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