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Adam Smith 1787 in einer Radierung von Cadell and Davies (1811), John Horsburgh (1828) oder R.C. Bell (1872)/Wikimedia Commons, auch Karikatur

Adam Smith 1787 in einer Radierung von Cadell and Davies (1811), John Horsburgh (1828) oder R.C. Bell (1872)/Wikimedia Commons, auch Karikatur

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Klang ist nicht Gefühl

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Über ein Textfragment von Adam Smith · Von Hans-Jürgen Schaal
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Friedrich Engels nannte ihn den Martin Luther der Ökonomie. Der aufklärerische Moralphilosoph Adam Smith (1723–1790) war in vielen Dingen seiner Zeit voraus – auch in Fragen der Musikästhetik.

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Was Adam Ries(e) für die Mathematiker, ist Adam Smith für die Ökonomen. Der schottische Philosoph gilt bis heute als der Vater der Nationalökonomie. Seit mehr als 200 Jahren gehört sein Werk „Der Wohlstand der Nationen“ von 1776 zur Basislektüre in Wirtschaftswissenschaft, Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsleben. Lange Zeit wurde Smith von den Neoliberalen gar als Hausheiliger der freien Marktwirtschaft gefeiert. Erst in neuerer Zeit sieht man Smiths Lehren etwas differenzierter. In seiner Adam-Smith-Biografie von 2023 wehrt sich Gerhard Streminger vehement gegen die Vereinnahmung Smiths durch den Neoliberalismus. Er sieht den Philosophen vielmehr als Vorreiter einer sozialen Marktwirtschaft, womöglich gar einer sozialdemokratischen und ökologisch verantwortlichen Ökonomie. Für Streminger war Smith „in erster Linie Moralphilosoph“. Sein anderes Hauptwerk – „Theorie der ethischen Gefühle“ von 1759 – erklärt den Zusammenhalt der Gesellschaft aus der zwischenmenschlichen Empathie. Mit einem neoliberalen Raubtier-Kapitalismus ist diese Haltung kaum zu vereinbaren.

Adam Smith – ein Zeitgenosse von Kant, Hume, Rousseau, George Washington und Moses Mendelssohn – war einer der wichtigsten Denker der Aufklärung. Mit dem Kollegen Hume war er ebenso befreundet wie mit James Watt, dem Erfinder der Dampfmaschine. Den rund 30 Jahre älteren Philosophen Voltaire hat er um 1765 auf dem Kontinent besucht. In Glasgow wirkte der Schotte einige Jahre lang als Professor für Logik und Moralphilosophie. Er schrieb aber auch Vorträge und Artikel über Themen der Rechtsprechung, Theologie, Literatur, Rhetorik, Ökonomie, Astronomie und Physik. Einer seiner Aufsätze behandelt gar englische und italienische Versdichtung, ein anderer die Ähnlichkeit zwischen Musik, Tanz und Lyrik. Auch zu einer Gedichtsammlung von William Hamilton schrieb er ein Vorwort (1748). Zeitlebens pflegte Smith seinen „Geschmack für die schönen Künste“, wie Dugald Stewart, sein erster Biograf, versichert.

Ästhetik der absoluten Musik

Seit einigen Jahren wird der Moralphilosoph und Nationalökonom Adam Smith auch in der Musikphilosophie diskutiert. Birgit Klose spricht im Zusammenhang mit Adam Smith von der „ersten Ästhetik der absoluten Musik“. Die Rede ist dabei von Smiths Essay „Of the Nature of that Imitation which takes place in what are called The Imitative Arts“. Dieser kaum 40-seitige Text stammt aus Smiths Nachlass und blieb Fragment – der Philosoph plante offenbar ein ganzes Buch zum Thema. Sein unvollendeter Essay, der wohl 1777 begonnen wurde, ist eine der wenigen unveröffentlichten Schriften, die Smith am Ende seines Lebens nicht vernichtet hat. Wie der Titel besagt, geht es darin um die „nachahmenden Künste“ – seit der Antike wird Kunst ja als „Nachahmung“ der Wirklichkeit verstanden. Teil 1 des Essays handelt entsprechend von der Malerei, Teil 3 vom Tanz. Im 2. Teil jedoch „stolpert“ der Autor über einen Sonderfall, an dem er die Grenzen des Nachahmungsmodells erkennt. Es ist die rein instrumentale Musik.

Im 18. Jahrhundert galt Instrumentalmusik noch vielfach als minderwertig. Denn traditionell wurde Musik als „Dienerin des Wortes“ verstanden – in der Kirche ebenso wie in der Oper. Gesang war „emphatisches Sprechen“, war „leidenschaftliche Rede“. Musik bekam Sinn und Inhalt erst durch den außermusikalischen Kontext – durch Worte, Gottesdienst, Opern-Inszenierung, Bühnenbild, Drama, Rezitation oder Tanz. Reine Instrumentalmusik, so hieß es, könne vielleicht noch vokale Musik „nachahmen“ (den Ton des Seufzens, Klagens, Lachens) oder Naturgeräusche „imitieren“ (Donner, Meer, Vogelgesang) – anderenfalls war sie bloß bedeutungsloses „Begleitgeräusch“ zu Mahlzeiten, Gesprächen oder Spielen. Auch und gerade die Aufklärer legten Wert auf eine funktionale Musik. Rousseau nannte daher reine Instrumentalmusik bloßen „Plunder“. Für Johann Georg Sulzer war sie ein reiner „Zeitvertreib“, ein „das Herz nicht beschäftigendes Geschwätz“. Gottsched sprach von „leerem Geklingel“. Kant verglich sie mit einem „Tapetenmuster“. Noch Hegel meinte, sie sei von keinem „allgemeinmenschlichen Kunstinteresse“.

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Zeitgenössische Karikatur

Zeitgenössische Karikatur

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Adam Smith dagegen erkennt in der Instrumentalmusik weit mehr als ein belangloses Geklingel oder einen sinnlichen Kitzel, nämlich ein „sehr hohes intellektuelles Vergnügen“. Ein Instrumentalkonzert, schreibt er, verlange keine Ergänzungen und Zusätze, ja erlaube sie nicht einmal. Diese Einschätzung ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Smith nicht allzuviele Musikwerke kannte. Er selbst nennt als Höhepunkte instrumentaler Musik die Ouvertüren von Händel und die Konzerte von Corelli. Neuere Entwicklungen in der Instrumentalmusik – wie die Werke von Haydn, Mozart, den Mannheimern – waren ihm unbekannt. Dennoch nimmt seine Aufwertung der Instrumentalmusik eine Tendenz voraus, die im deutschen Sprachraum erst einige Jahre nach Smiths Tod einsetzen sollte – mit den Vordenkern der Romantik nämlich. Karl Philipp Moritz, Jean Paul, J.A.P. Schulz, Wackenroder, Tieck, E.T.A. Hoffmann oder August und Friedrich Schlegel haben um 1800 den „Eigenwert“ der Instrumentalmusik entdeckt – ausgelöst jedoch von den neuartigen Sinfonien eines Stamitz (bei Jean Paul), Mozart (bei Schulz) oder Beethoven (bei Hoffmann). 

Ein originales Fühlen

Simplen Nachahmungsmodellen zufolge („Affektenlehre“) sind es die Gefühle und Leidenschaften, die von Musik imitiert, ausgedrückt, vermittelt werden. Schnelle Tonfolgen bedeuten demnach Fröhlichkeit, langsame Tonfolgen Melancholie. Smith jedoch erkennt klar, dass Tonfolgen keine Gefühle sind und dass dieser angebliche „Gefühlsausdruck“ in der Musik stets einem künstlerischen Kontext entliehen ist – durch die Kombination mit Text, Bild oder Drama. Musik, so schreibt er, „verstärke“ nur den emotionalen Effekt des Kontexts. „Ohne die Begleitung von Szene und Geschehen einer Oper, ohne die Unterstützung durch den Bühnenbildmaler oder Dichter oder beide könnte die instrumentale Musik des Orchesters keinen dieser Effekte hervorbringen. [...] Es gibt keine zwei Dinge in der Natur, die vollkommen unterschiedlicher voneinander sind als Klang und Gefühl.“ Dieser Gedanke nimmt eine bekannte Grundposition von Eduard Hanslick voraus, die er in seinem Buch „Vom Musikalisch-Schönen“ (1854) unter anderem so formulieren sollte: „Die Darstellung eines Gefühles oder Affectes liegt gar nicht in dem eigenen Vermögen der Tonkunst.“

Gleichzeitig kann Smith nicht umhin festzustellen, dass auch ein Stück rein instrumentaler Musik – ohne Verbindung zu Wort, Kirche, Oper, Bild und so weiter – starke Gefühle in ihm auslösen kann, und zwar in unendlich vielen Facetten. Das aber, schreibt Smith, sind keine Empfindungen, die von der Musik imitiert, dargestellt oder ausgedrückt werden, sondern die unmittelbar im Hörenden beim Hören entstehen – durch die Schönheit der Musik. Es handelt sich um ein originales und nicht ein empathisches Fühlen [„an original, and not a symphathetic feeling“]. Smith vergleicht dabei ein instrumentales Musikstück mit einer gestalteten Parklandschaft, einem Englischen Garten, dessen verschiedene Teile mal aufheiternd, mal anheimelnd, mal düster auf uns wirken. „Die verschiedenen Szenerien können jede dieser Stimmungen hervorrufen, aber sie können sie nicht nachahmen.“ In diesem Sinne ist für ihn auch die Musik ein mal fröhliches, mal melancholisches „Objekt“. Ganz ähnlich hat das in neuerer Zeit der Musikphilosoph Peter Kivy (1934–2017) formuliert: „Das Objekt musikalischer Emotion [...] ist die Musik selbst.“

Galt die Instrumentalmusik im 18. Jahrhundert noch weitgehend als minderwertig, so beginnt mit Adam Smiths Essay ihre romantische Aufwertung zur „eigentlichen“ und „wahren“ Musik. Denn instrumentale Musik muss sich nicht mehr dem Effekt von Worten und Bildern einfügen, sondern schafft sich eine eigene, ihr angemessene, sprich: autonome Form. „Diese Musik will selten eine bestimmte Geschichte erzählen oder ein bestimmtes Ereignis imitieren oder grundsätzlich irgendein bestimmtes Objekt suggerieren“, schreibt Smith. Die Bedeutung der Instrumentalmusik liege vielmehr „komplett in ihr selbst“. Der Schotte macht ganz deutlich, dass dies kein Manko ist, dass vielmehr „ein gut komponiertes Concerto“ (er denkt wohl an Corelli) ein Ding sei, „so angenehm, so großartig, so abwechslungsreich und so interessant“, dass es das gesamte Fassungsvermögen des Geistes zu beschäftigen vermag [„occupy the whole capacity of the mind“]. Tatsächlich stellt er das intellektuelle Vergnügen beim Hören dem beim wissenschaftlichen Nachdenken gleich [„contemplation of a great system in any other science“]. Einige Jahre später sollte Friedrich Schlegel einen ähnlichen Gedanken entwickeln und die thematische Arbeit in einem Instrumentalstück mit einer „Meditation in einer philosophischen Ideenreihe“ vergleichen.

Smiths Essay macht klar, dass Wert und Bedeutung von Instrumentalmusik allein innerhalb des musikalischen Materials liegen – in den Tönen selbst und im Entwicklungsprozess des Stücks. „Das Thema solcher Musik ist lediglich [...] eine bestimmte, bestimmende Kombination von Tönen, zu der sie häufig zurückkehrt und auf die alle ihre Abschweifungen und Variationen bezogen bleiben. Es ist etwas komplett anderes als der Gegenstand eines Gedichts oder Bildes.“ Melodie und Harmonie, schreibt Smith, suggerieren nichts als sich selbst. Auch hier scheint schon Hanslicks „Formalismus“ anzuklingen: „Die Musik besteht aus Tonreihen, Tonformen, diese haben keinen anderen Inhalt als sich selbst.“

Was den hörenden Mitvollzug eines Musikstücks angeht, hat Smith ebenfalls kluge Einsichten: „Die Freude an der Musik entsteht teils aus der Erinnerung und teils aus der Antizipation.“ Der Autor führt dies auch näher aus: Ohne Wiederholung und Gliederung im Stück könnte sich der Hörer weder ans Vorangegangene erinnern, noch das Kommende vorausahnen. Gleichzeitig aber ist die „Enttäuschung“ der Antizipation durch plötzliche Veränderungen von ganz besonderem Reiz beim Hören [„more agreeable to us than the uniformity which would have gratified our expectation“]. Dieses Verständnis von musikalischem Mitvollzug entspricht den Thesen des Musiktheoretikers Leo­nard B. Meyer (1956) und deckt sich sogar mit jüngsten Resultaten aus der Neuropsychologie. Wiederum nimmt Smiths erstaunliches Essay-Fragment wichtige Elemente späterer musikphilosophischer Diskurse vorweg.

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