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Millionenmetropole mit Kreml: 800 Kilometer östlich von Moskau sucht Kasan nach seiner kulturellen Identität
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Mit Schostakowitsch zurück in die Zukunft

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Wie sich das Tatarische Nationalorchester in Kasan erneuert und unter welchen Bedingungen
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In Kasan erlebt das Tatarische Nationalorchester gegenwärtig eine neue Blüte. Dafür steht auch ein Schostakowitsch-Zyklus, der jetzt auf CD erschienen ist. Und dies in einer Stadt, die für Orchester kein einfaches Pflaster ist.

Kasan im November. Das Thermometer zeigt offiziell 3 Grad Celsius an, aber gefühlt wähnt man sich weit unter dem Gefrierpunkt. Ein rauer, strammer Wind weht durch die Straßen, und am späten Abend begegnet man kaum einer Menschenseele draußen, vor der Tür. Doch hinter den Türen brodelt es selbst zu dieser Jahreszeit in der Millionenmetropole an der Wolga, 800 Kilometer östlich von Moskau. Für die „Staatliche Konzerthalle Saydashew“ gilt das ganz besonders. Hier wirkt das Tatarische Nationalorchester (TNO). Der Klangkörper ist der kulturelle Stolz von Tatarstan. Die frühere Sowjetrepublik ist heute ein autonomer Teil der Russischen Föderation. An diesem tristen Novembertag endet das große Gubaidulina-Festival des TNO. Die Komponistin Sofia Gubaidulina, von Dmitri Schostakowitsch persönlich gefördert und heute bei Hamburg wohnhaft, stammt ursprünglich aus Tatarstan. Als Ausklang des Festivals tönt die klanggewaltige Sinfonie Nr. 12 „Das Jahr 1917“ von Schostakowitsch durch die Halle.

Damit wird zugleich die Kasaner Gesamtaufnahme der Sinfonien Schostakowitschs gefeiert, die jetzt beim Label Melodiya erschienen ist. Über die schöpferische Qualität der Zwölften lässt sich vortrefflich streiten, die Interpretation aber nimmt durchaus gefangen. Es ist staunenswert, was die Musiker aus der recht einfältigen, bombastisch tönenden Partitur an Atmosphäre zaubern. Was hier in Kasan, der Hauptstadt Tatarstans, in den vergangenen siebeneinhalb Jahren herangewachsen ist, gleicht einem kleinen Wunder. In kurzer Zeit hat es Sladkovsky geschafft, den 1967 gegründeten Klangkörper aus seinem Dornröschenschlaf zu erwecken. Abseits der großen Musikmetropolen Moskau und St. Petersburg konnte sich das Orchester fraglos zu einem Kulturbotschafter mausern: nicht nur für Tatarstan, sondern für Russland insgesamt. Schon ist von einem „Tatarischen Perm“ die Rede, in Anspielung auf Teodor Currentzis, der seit 2011 in Perm das Opern- und Balletthaus aufwirbelt.

Natürlich hinken solche Vergleiche, zumal der „wilde Grieche“ Currentzis interpretatorisch eben nicht die Sowjet-Ära gewissermaßen in sich trägt. Als einstiger Assistent von Mariss Jansons und Mstislaw Rostropowitsch ist Sladkovsky von diesem Erbe geprägt, was auch der neue Schostakowitsch-Zyklus verrät. Wie eine Art Retrospektive erscheint die Gesamtaufnahme. Eine persönlich engagierte, schärfende Bilanz, die gewichtige Interpretationen des Gestern in sich vereint und zugleich in das Morgen trägt.

Doch vor allem ist Kasan nicht Perm. Die Hauptstadt Tatarstans ist ein Schmelztiegel der Kulturen, der tiefe Widersprüche in sich vereint: mit gewaltigen Konfliktpotentialen. Wer die achtgrößte Stadt Russlands besucht, spürt eben schnell, dass es allenthalben brodelt. Im Positiven wie im Negativen, mehr oder weniger unterschwellig. Die Stadt gilt als Zentrum der islamischen Kultur in Russland. Zusammen mit dem russisch-orthodoxen Christentum ist der muslimische Glaube am stärksten vertreten, gefolgt von Juden, Bahain und Krishna sowie Katholiken und Protestanten.

Auch architektonisch äußert sich dieser Mix, eine bunte Mischung aus Okzident und Orient, und selbst das Konfliktpotential lässt sich optisch nachvollziehen. Da ist der „Spasski-Turm“ im Kasaner Kreml, auch „Erlöser-Turm“ genannt: Ihn krönt ein Stern, weil ein Kreuz die muslimischen Tataren beleidigen könnte und ein Halbmond die christlich-orthodoxen Russen. Dies soll um jeden Preis vermieden werden, zumal die Geschichte Tatarstans ohnehin schon reich an Konflikten ist.

So durfte zur Sowjetzeit in Kasan nur eine einzige Moschee aktiv sein. Erst nach dem Zusammenbruch des religionsfeindlichen Kommunismus wurden weitere Glaubenshäuser eröffnet, zuletzt 2005 die Kul-Scharif-Moschee als größte in Europa. Bis zum Zusammenbruch der UdSSR wurde zudem die tatarische Sprache unterdrückt und zurückgedrängt, ganz zu schweigen von den zahllosen Pogromen gegen Tataren im Laufe der russisch-sowjetischen Geschichte.

Stets dieselbe Antwort

Natürlich sind diese historischen Tatsachen bestens bekannt, allerdings redet man nicht gerne mit Fremden offen darüber. Das passt insgesamt zu einer Politik in Russland, die sich gegenwärtig recht verschlossen und restaurativ geriert. Manche Minderheiten sehen sich erneut massivem Druck ausgesetzt und an den gesellschaftlichen Rand gerückt. Und in Kasan? Wer beim tatarischen Kulturministerium nachfragt, ob es eine Herausforderung darstelle, auf den besonderen Schmelztiegel der Kulturen in der Stadt kulturpolitisch zu reagieren, hört stets dieselbe Antwort: „Es ist unser Ziel, alle diese unterschiedlichen Identitäten zu unterstützen und zu entwickeln“, heißt es. Eine Herausforderung sei das nicht, und es gebe auch keine Probleme: „weil bei uns die Religionen von der Kultur getrennt sind.“ Diese Argumentation lässt faktisch kaum Spielraum für Diskussionen zu und wird überdies auch in der Praxis konsequent durchgeführt. An einem gesellschaftlich und kulturell derart speziellen Ort wie Kasan sollte es eigentlich umfassende Studien über die Zusammensetzung des Klassikpublikums geben.

Diese Studien müssten nicht nur das Alter erfassen, sondern eben auch die jeweilige Zugehörigkeit der Religion und anderes. Auch dies wird vonseiten des Kulturministeriums glattgebügelt. Solche Studien gebe es nicht, weil es „bei uns eben keine Frage der Religion ist“. Ob in manchen muslimischen Gemeinschaften die Klassik womöglich als kultureller Imperialismus betrachtet wird? Auch diese Frage wird in Kasan offiziell nicht gestellt. Stattdessen wird die Einheit betont und zugleich heraufbeschworen. Diese Argumentationen erscheinen mehr wie ein Relikt aus der Sowjetära.

Ob sich Religion und Kultur tatsächlich strikt voneinander trennen lassen, bleibt fraglich. Für das TNO betont Sladkovsky auf Nachfrage, dass viele Programme mit tatarischer Musik kreiert würden. „Musik ist eine große Kraft, weil man keine Worte braucht, um Menschen zu verbinden und Grenzen zu überwinden“, sagt er. Wie aber ein großes Orchester zeitgemäß, nachhaltig und umfassend in die unterschiedlichen Gemeinschaften einer Gesellschaft wirken soll, wenn bestimmte Fragen erst gar nicht gestellt werden, das bleibt ein Rätsel.

Es geht darum, eine soziale Verantwortung zu übernehmen und diese tief in die unterschiedlichsten Gemeinschaften eines Ortes zu tragen. Für westliche Orchester ist dies größtenteils auch eine Frage des Überlebens, weil erst dadurch erfolgreich private Geldmittel akquiriert werden können. In Tatarstan stellt sich auch diese Frage derzeit nicht, zumal bei staatlich geförderten Kultur-Einrichtungen ein zusätzliches privates Sponsoring gesetzlich nicht vorgesehen ist.

Sowjet-Relikt Kulturförderung

Auch die Finanzierung von klassischer Musikkultur erscheint wie aus Sowjet- zeiten übrig geblieben, was nicht unproblematisch ist. Jedenfalls ist das Risikopotenzial für ein Orchester wie das TNO enorm. Mag sein, dass die gegenwärtige Regierung in Tatarstan das Nationalorchester gewissenhaft hegt und pflegt; die Zukunft aber kann niemand voraussehen. Auf Nachfrage wird vonseiten des Kulturministeriums betont, dass „niemand den Wert dieses Orchesters bestreiten“ werde. Eine Garantie ist das freilich nicht.

Beim Orchester selber betrachtet man das mit einer würzigen Brise Humor. „Wenn sich die politischen Verhältnisse ändern, können wir nichts tun“, erklärt Sladkovsky. „Es ist eine Frage des Gesetzes und des Gesetzgebers. Wir werden uns an unsere tollen CD-Aufnahmen erinnern und an unsere schönen Zeiten.“ Sladkovsky lacht laut. „Das ist natürlich nur ein Scherz.“ Trotzdem ist allen Seiten bewusst, dass die Gesetze diesbezüglich unbedingt flexibilisiert werden müssen. Auch aus dem Kulturministerium ist zu hören, dass diese Maßnahme begrüßt würde.

Gleichwohl hat sich gewaltig viel getan, seitdem Sladkovsky beim TNO wirkt. Seit seinem Amtsantritt 2010 beim TNO konnte die Situation der Musiker deutlich verbessert werden. Die Monatsgehälter wurden verdreifacht, und die reiferen Semester brauchen sich heute um ihre Rente nach dem Austritt aus dem Orchester nicht zu sorgen. Auch die Versorgung im Krankheitsfall ist geregelt, und damit ist das TNO mit anderen Orchestern in Russland wettbewerbsfähig.

Sonst aber wird die Aufmerksamkeit mit Social Media, Tourneen und internationalen Solisten geschärft. Oder eben mit den inzwischen sieben Festivals des TNO und CD-Aufnahmen. Der jetzige Schostakowitsch-Zyklus ist dabei ziemlich gewagt und steht im Grunde für ein neues Selbstbewusst des TNO, denn: Es gibt schon viele Gesamtaufnahmen der Sinfonien des Sowjetrussen. Mit Valery Gergiev in St. Petersburg wirkt überdies in Russland ein einflussreicher Dirigent, der gegenwärtig zu den zentralen Exegeten der Musik Schostakowitschs zählt.

Wie man in Russland mit dem „Übergewicht Gergiev“ umgeht? „Um Herbert von Karajan herum gab es damals in Deutschland auch keinen Dirigenten, das ist normal“, erwidert Sladkovsky. „Ich habe absolut nichts gegen Gergiev, im Gegenteil: Ich habe in St. Petersburg studiert.“ Am Anfang seiner Laufbahn sei Gergiev eine „Autorität“ gewesen, die „wichtigste Person für mich“. Gergiev habe kurz vor und nach der Wende in den 1990er-Jahren Ideen im Klassikleben entwickelt, die in Russland seinerzeit Neuland gewesen seien.

„Was ich heute in Kasan mache, die Festivals, die CD-Aufnahmen, die interkulturellen Beziehungen: Das alles habe ich von ihm gelernt. Wir sollten alle dankbar sein für das gute Beispiel, mit dem er vorangegangen ist. Ich mag und liebe Valery Gergiev ganz klar.“ Sladkovsky hat bereits weitere Pläne für das TNO, und dies berührt gerade auch das Repertoire. Nach den Sinfonien von Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms und Schostakowitsch liebäugelt er mit einer Gesamtaufnahme der Sinfonien von Gustav Mahler.

„Ich denke, die Zeit Mahlers muss erst noch kommen“, erläutert Sladkovsky. „Weil die Menschen jetzt erst beginnen, seine Musik zu verstehen und zu fühlen. Unser Orchester ist bereit für diese Musik“, und auch Anton Bruckner steht ganz oben auf der Wunschliste. Für das CD- und Tournee-Geschäft wäre es indessen wichtig, ebenso auf vernachlässigtes, vergessenes Repertoire zu setzen. Das Musikerbe Russlands und Tatarstans ist reich an versunkenen Schätzen, die gehoben werden wollen. Dafür wäre dieses Orches­ter prädestiniert. 


Der Autor reiste auf Einladung des tatarischen Kulturministeriums.

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