Zugaben werden fast immer gerne entgegengenommen. Sie sind das leicht verdauliche Konfekt am Ende eines Konzerts, entweder melodisch einschmeichelnd oder mitreißend virtuos. Beim Melbourne Symphony Orchestra heißen sie „Act III“ – und sind eigentlich keine Zugaben. Denn es handelt sich nicht um kurze, bekannte Stücke, sondern um veritable Neuheiten, die zudem deutlich länger dauern und vom ganzen Orchester gespielt werden. Seitdem Markus Stenz damit begann, gehören Konzerte mit einem dritten Akt zu den beliebtesten MSO-Veranstaltungen.
Gleich der erste Versuch bei einem Konzert der Master Series im März letzten Jahres wurde zum durchschlagenden Erfolg. Es begann damit, dass Olli Mustonen, der Solist von Ravels Klavierkonzert, keine Zugabe spielte, aber Stenz auf eine Überraschung, ein Surprise Present, am Ende verwies. So kam es, dass nach Mahlers vierter Symphonie, dem „offiziellen“ Schlussstück, nur wenige Zuhörer den Saal verließen. Die meisten waren neugierig auf das, was der Dirigent ihnen mit einigen Worten beschrieben hatte, ohne Titel und Komponist zu verraten.
Nach einer Umbaupause wurde die Bühne dunkel, bis nur noch wenige Scheinwerfer den Flügel beleuchteten. Auf ihm spielte Olli Mustonen ein vertrautes Stück: den „Quasi una fantasia“ überschriebenen ersten Satz von Beethovens Mondscheinsonate op. 27. Ohne Pause folgte darauf ein zweites, allerdings kaum bekanntes Werk. Die neuen Klänge, die aus verschiedenen Richtungen ertönten, sich verdichteten und wieder entfernten, packten die Zuhörer. Durch Projektionen erfuhren sie, dass es sich um György Kurtágs Beethoven-Hommage „... quasi una fantasia“ op. 27 handelte. Am Ausgang erhielten sie weitere Informationen über Komponist und Werk.
In gemeinsamen Gesprächen hatte Stenz das Orchester langfristig für die Idee des 3. Akts gewinnen können. Er wusste, dass sie nur als gemeinsames Projekt aller Musiker Aussicht auf Erfolg haben würde. Nur so konnte auch die notwendige Geheimhaltung gelingen. Die Überraschung besteht allerdings nicht nur in der Wiedergabe eines nicht angekündigten Werks, sondern auch in unerwarteten Bezügen zum Vorangehenden. Zu solchen Querverbindungen gehörte der Ton E, mit dem das „Himmlische Leben“ der Mahler-Symphonie endete und mit dem dann die Kurtág-Komposition begann. Das Entwickeln solcher Bezüge bedeutet eine ähnliche Herausforderung an die Phantasie der Programmmacher wie an die der Zuhörer. Für die Veranstalter hat „Act III“ den Vorteil, dass auch kurzfristige Ideen noch berücksichtig werden können. Grenzen gibt es nur hinsichtlich der Länge; das Konzert darf insgesamt nicht mehr als zwei Stunden dauern, um die Geduld des Publikums nicht überzustrapazieren.
Schon vor einem Jahr konnte der Rezensent zu Beginn der Saison 2003 die zustimmenden Reaktionen der Zuhörer und Musiker im Arts Center Melbourne miterleben. Als Stenz ein Jahr später, im März 2004, wieder eine neue Saison eröffnete, entdeckte er erneut das magische Wort „Act III“ im Programmheft. Der Abend begann mit Maurice Ravels „Le Tombeau de Couperin“, gefolgt von Gershwins „Rhapsody in Blue“. Nach der Pause sollte das Orchester ein Werk spielen, das wegen seiner grellen Dissonanzen andernorts nicht selten zum Exodus des Publikums führt. Nicht so in Melbourne. Nach sechs Jahren als Chefdirigent besitzt Markus Stenz hier bei seinen Hörern einen solchen Vertrauensbonus, dass er es wagen konnte, „Amériques“ von Edgard Varèse ins Abonnementskonzert zu integrieren. Das riskante Programm führte sogar zu verstärktem Andrang, so dass alle drei Abende ausverkauft waren. Dabei musste das Orchester an diesem Wochenende mit dem nur wenige Kilometer entfernten Grand Prix konkurrieren. Aber Markus Stenz konnte sich gegen Michael Schumacher überraschend gut behaupten.
Als Musikdirektor von Henzes Montepulciano-Festival hat er die Kommunikation mit dem Publikum gelernt und danach weiter ausgebaut. Dass Konzerte nicht nur kulinarische Genüsse, sondern auch Lernprozesse bedeuten, ist ihm inzwischen selbstverständlich. Natürlich muss Ungewohntes eingeführt und vermittelt werden. In Melbourne gab es dazu einen Kurs „Wer fürchtet sich vor dem 20. Jahrhundert?“, Einführungsveranstaltungen vor den Konzerten oder die Avantgarde-Reihe „Metropolis“ im intimen Malthouse. Unmittelbar vor der Aufführung von „Amériques“ griff der Dirigent noch einmal zum Mikrophon und verwies auf die erstmals in Australien gespielte Originalbesetzung mit 129 Musikern, darunter zehn Trompeter und fünfzehn Schlagzeuger. Es folgte eine bestens vorbereitete Wiedergabe mit präzisen Ostinati und genau koordinierten Raumwirkungen. Man war neugierig, was nach so gewaltigen Klangwogen als 3. Akt folgen würde. Gemeinsam mit Jean-Yves Thibaudet, dem Solisten der „Rhapsody in Blue“, hatte Stenz wieder etwas Besonderes ausgeheckt: ein Werk für Klavier und Orchester, das Gershwins Synthese von Popularmusik und Symphonik weiterführte und zugleich den Titel der Ravel-Komposition aufgriff. Michael Daughertys Klavierkonzert „Le Tombeau de Liberace“ (1996) ist eine Hommage an den 1993 verstorbenen Pianisten Wladziu Valentino Liberace, der in seinen spektakulären Las Vegas-Shows ebenso Broadway-Hits wie klassische Werke spielte. Banales und Bedeutendes präsentierte er mit gleichem Pomp als etwas Künstliches, das er so dem amerikanischen Massengeschmack anpasste. Während der 1954 geborene Komponist mit seinem für London Sinfonietta entstandenen Werk eine wirkliche Hommage im Sinne hatte, gingen Stenz und Thibaudet mit Ironie an die Sache heran. In Anspielung auf „Candelabra Rhumba“, den letzten Satz, schwebten zwei riesige Kronleuchter vom Schnürboden herunter und tauchten die jazzig schillernde Einleitung („Rhinestone Kickstep“) in goldenes Licht. Im langsamen Satz, einer Huldigung auf den Swimming Pool Liberaces, wurde die Beleuchtung noch intimer. Die ganze Komposition, die vom Pianisten höchste Virtuosität erforderte, basierte auf Klischees und leeren Formeln. Als Triumph der Verpackung über den Inhalt ist dieser „Tombeau“ ein Kommentar zur Kulturindustrie. Siebzig Jahre nach den visionären und enthusiastischen Amerika-Bildern von Gershwin und Varèse entstand damit ein nicht weniger farbiges, jedoch realistischeres Porträt der USA.
Unter der Ägide von Stenz haben die bis dahin konventionellen Programme des MSO erheblich an Attraktivität gewonnen. Zeitgenössische Musik besitzt dabei einen hohen Stellenwert. Als Glücksfall erwies sich die Zusammenarbeit mit dem composer-in-residence Brett Dean. Der ehemalige Bratscher der Berliner Philharmoniker, der seit dem Jahre 2000 wieder in seiner australischen Heimat lebt und dort inzwischen zu den meistgespielten Komponisten gehört, hat zwei größere Stücke für das Orchester geschrieben. Dean betreute außerdem ein Projekt mit vier Uraufführungen von jungen Komponisten und spielte Kammermusik mit Mitgliedern des Orchesters. Er konnte so zu einer offeneren, neugierigeren Haltung gegenüber neuer Musik beitragen.
Der Geschäftsführer des Orchesters, Trevor Green, verglich die Tätigkeit von Stenz in Melbourne mit der Simon Rattles in Birmingham. Sein erstes Programm als Chefdirigent hatte Stenz 1998 mit einer auskomponierten Frage begonnen, mit „The Unanswered Question“ von Charles Ives, gefolgt von Mahlers Auferstehungssymphonie. Wenn er im Dezember sein letztes Konzert als Chefdirigent leitet, steht wiederum Mahlers Zweite auf dem Programm, nun aber eingeleitet durch die Uraufführung der Komposition „Moments of Bliss“, die Dean für das Orchester schrieb. Nicht wenige Glücksmomente hatte es in den zurückliegenden Jahren für Stenz und das MSO gegeben. Nicht zuletzt die Mahler-Aufführungen zum Olympic Arts Festival und zum Federation Jubiläum sowie Auslands-Tourneen nach St. Petersburg, Mitteleuropa (darunter auch Köln) und China haben dem Ansehen des Orchesters sehr geholfen. Einige der Höhepunkte greift Stenz in seiner letzten Konzertsaison auf. 2004 ist für ihn ein „Ernte-Jahr“. Aber auch das Publikum der Kölner Gürzenich-Konzerte darf von den in Melbourne gesammelten Erfahrungen profitieren. Die Programme des jetzt von Stenz geleiteten Gürzenich-Orchesters enthalten inzwischen ebenfalls „dritte Akte“ und wurden soeben mit dem Musikverleger-Preis ausgezeichnet. Zu hoffen ist, daß sich die Kölner als ebenso spontan und entdeckungsfreudig erweisen wie ihre Antipoden in Melbourne.