Naomi Pinnock gehört nicht gerade zu den Komponistinnen, die durch verstiegene Theoriegebäude, provokante Aktionen oder spektakuläres Multimedia auf sich aufmerksam machen. Im Vergleich zu vielen ihrer jüngeren Kollegen verkörpert die in Berlin lebende Engländerin einen eher unprätentiösen, geradezu „klassischen“ Habitus von Tonsetzer: Es werden Klänge imaginiert, Noten geschrieben, Musiker spielen sie. Nicht mehr, nicht weniger. Und dies geschieht weitestgehend im traditionellen Instrumentarium. Langweilig? „Contemporary Classic“? Ganz und gar nicht.
Unabhängig davon, dass ein solcher Begriff nicht weniger albern ist als sein terminologisches Mutterschiff „Klassik“, ist die Neue Musik von Naomi Pinnock keine, die sich in ihren Sprachmitteln und Stereotypen gemütlich eingerichtet hätte. Das kann sie gar nicht, denn ihr Thema ist in Klang transformierte Verunsicherung ...
Geschlagene drei Minuten braucht es, bis der Sänger in „Words“ (2010/11) für Bariton und Ensemble das erste Wort draußen hat, ein zögerliches Stammeln, das sich nur mühsam zu verständlichen Konturen verfestigt. Eine schattenhafte Klangwelt umgibt ihn, nach unvermittelten Ausbrüchen (manchmal eine rausgebrüllte Hilflosigkeit im Staccato) fällt er in der Mitte des Stücks zusammen mit dem ganzen Ensemble in ein dunkles Loch aus Stille. Danach geht dieser Versuch, sich auszudrücken, wieder von vorne los, aber noch zaghafter und verlorener als zuvor.
Dekonstruktionen herkömmlicher Koordinaten von Sinn und Normalität frönt auch „The writings of Jakob Br.“ für Vokalensemble (2013): ein a cappella-Stück, das zwischen asemantischer Lautartikulation, manischen Loops, sphärischen Vokalisen und Klang-Flächen à la „Lux aeterna“ alle vokalen Register zieht. Grundlage sind Texte aus der Sammlung Prinzhorn, die künstlerische Erzeugnisse von Psychiatriepatienten archiviert. Einen ähnlich fragmentarisierenden Umgang mit Sprache offenbaren auch „Nostos“ für Sopran, Violine und drei Ensemblegruppen (2007) und „Oscillare“ für sechs Sänger, Akkordeon und Tape (2010), beide nach Texten des englischen Lyrikers W.N. Herbert. Während sich in „Nostos“ der Text erst allmählich aus einem phonetischen Trümmerfeld zu einem syntaktischen Gebilde formt, findet sich in „Oscillare“, Pinnocks bisher einzigem Stück, das Elektronik einbezieht, Material aus Ovids Metamorphosen und Zeugenaussagen zum Massaker von Srebrenica, zur Unkenntlichkeit zusammengemischt. Per Tape werden immer wieder kleine Textschleifen in dieses oszillierende Geflecht mikrotonal gefärbter Klangflächen verwoben, abgespielt und rückgespult und abgespielt wie beim Abhören eines Diktiergerätes – als würden da seltsame Dokumente des Grauens das Begreifen verweigern, aber der eigentliche Sinn bleibt verborgen.
Fragt man Pinnock nach ihren Einflüssen aus der Gegenwartsmusik, nennt sie vor allem Harrison Birtwistle, bei dem sie studierte, und Gérard Grisey als wichtige Impulsgeber. Die Initialzündung für Pinnocks Komponieren verdankt sie jedoch der Begegnung mit der Musik Wolfgang Rihms. Die Komponistin im Gespräch mit der nmz: „Ich erinnere mich sehr gut daran, wie ich mich dabei gefühlt habe, als ich ‚Jagden und Formen‘, aufgeführt von der London Sinfonietta und George Benjamin, gehört habe. Bei dieser Aufführung habe ich eine unglaubliche Energie gespürt, ich war euphorisiert! Als ich später bei Rihm studiert habe, habe ich meinem Material und meiner Musik viel mehr vertraut – ich bin wie Rihm eine eher intuitive Komponistin, und sein Unterricht hat mir viel Selbstvertrauen gegeben.“
Die Frage nach dem Schaffensprozess hat Pinnock damit schon fast beantwortet. Er geschieht sprunghaft und subjektiv, ohne vorgefertigte Systeme oder computergesteuerte Fahrpläne, geht jedoch von klaren Klangvorstellungen aus, häufig mit dem Ziel, alles Klingende auf das Notwendige und Essentielle zu reduzieren. Klangvorstellungen, die mit der Idee einer über sich selbst hinausweisenden Sprachkraft von Musik verbunden sind. In Huddersfield äußerte die Komponistin: „Gérard Grisey hat mal in einem Interview gesagt, dass es zwei Lager von Komponisten gäbe: diejenigen, die am Klang selbst interessiert sind, und diejenigen, die an der Rhetorik von Musik interessiert sind. Ich falle definitiv in die zweite Kategorie – es ist nicht so, dass mir Klang an und für sich nichts bedeuten würde, aber ich bin mehr daran interessiert, welche Auswirkungen er innerhalb einer bestimmten Gestik hat.“
Dass Pinnock mit bereits zwei Streichquartetten eine Mustergattung konzentrierter Expressivität bedient hat, wundert in dieser Hinsicht nicht: Das Medium wird jedoch keineswegs als Projektionsfläche kompositorischer Virtuosität benutzt, auch wenn das Arditti Quartet als Uraufführungs-Interpret alle Gelegenheit geboten hätte – the medium is not the message. Pinnocks zweites Streichquartett klingt, als hätten „Cages String Quartet in Four Parts“, Morton Feldman und die urwüchsige Gestik eines Birtwistle aufs Schönste zusammengefunden: Ausdruck als ein angestrengtes Herauswollen, das im Moment des Erscheinens die Mühen des Sagens, Machens, Spielens (Komponierens?) hörbar macht. Der zweite Satz entgegnet resignativ eine fahle, schüttere Klanglichkeit aus kleinen Wiederholungsschleifen, die sich melancholisch im Kreise drehen. Vielsagend in dieser Hinsicht auch der Titel von Pinnocks neuester Komposition für zwei Klaviere und Ensemble, das Ende November beim Huddersfield Festival uraufgeführt wurde: „Always again.“ Dort stehen zwei hoketusartig ineinander verschachtelte Klavierparts im Blickpunkt, deren rhythmische Muster aggressive Obsessivität entwickeln und vom Ensemble allmählich in einen Auslöschungsprozess hineingezogen werden.
Kommen wir noch einmal zurück zu „Words“. Der selbst verfasste, enigmatische Text von Words sagt viel aus über Pinnocks Art zu komponieren: „Why solve a night without why without silence without why nothing why again nothing why.“ Eine Sprache, die sich semantischen Eindeutigkeiten entzieht und auf einer variativen Entfaltung weniger, konzentrierter Elemente beruht, die in einen selbstreferentiellen, manchmal klaustrophobischen Wiederholungsmechanismus geraten. Die Nähe zu Beckett ist mit Händen zu greifen, und dass Feldmans „Neither“ eine der „Lieblingsopern“ Pinnocks darstellt, scheint kein Zufall. Hinsichtlich ihres zweiten Streichquartettes äußerte die Komponistin: „Die Behandlung des musikalischen Materials ist ganz ähnlich meiner Manipulation von Text in meinen aktuellen Arbeiten. Es hat eine Menge zu tun mit Erinnerung – wie manchmal ein lebhaft erfahrener Traum plötzlich während des Erwachens zerfällt, und alles, was übrig bleibt, sind Fragmente. Fragmente, die schließlich ganz verschwinden.“
Vielleicht liegt der besondere Reiz der Musik Naomi Pinnocks darin, dass sie genau diesen Zustand der Ungreifbarkeit einzufangen versucht. Immer wieder neu …