Seine „Lehre von den Tonempfindungen“ (1863) lieferte der Musiktheorie ein wichtiges, belastbares Fundament. Hermann von Helmholtz (1821–1894) gab, so schrieb er, „die wissenschaftliche Begründung der elementaren Regeln für die Konstruktion der Tonleiter, der Akkorde, der Tonarten“.
Er war ein lebendes Bollwerk gegen die Spezialisierung der wissenschaftlichen Disziplinen. Einerseits Mediziner, Anatom, Chirurg, Physiologe, andererseits ein Physiker, dem die Welt etliche bleibende Entdeckungen und Erfindungen verdankt, und schließlich auch Philosoph, Erkenntnistheoretiker, Musikwissenschaftler, unter anderem Mitglied der Königlich Schwedischen Musikakademie. Hermann von Helmholtz war imstande, ganz im Alleingang ein interdisziplinäres Wissenschaftsprojekt durchzuziehen. Und genau das wurde sein Buch „Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik“ (1863). In diesem Werk treffen Anatomie, Physik und Musiktheorie aufeinander, gestützt und belegt von Laborversuchen und mathematischen Berechnungen. Helmholtz selbst nannte es einen „ungewöhnlichen Versuch, von Seiten der Naturwissenschaft in die Theorie der Künste einzugreifen“. Manches darin mag heute (zumindest unter Musikverständigen) Allgemeingut sein, manches auch überholt oder fehlerhaft erscheinen. Für die Entwicklung der Musikwissenschaft und der musikalischen Akustik wurde Helmholtz’ Veröffentlichung zum Markstein und Tragpfeiler.
Acht Jahre lang hat er an seinem 600-Seiten-Werk gearbeitet, zahlreiche Experimente dafür unternommen. Unter anderem entwickelte er für seine Versuche den heute so genannten „Helmholtz-Resonator“, mit dem er Obertöne messen konnte. Auch ließ er sich eine „Doppelsirene“ bauen und ein Harmonium in reiner Stimmung. Mit der Gewissenhaftigkeit des Naturwissenschaftlers beschreibt er seine Apparaturen und seine Versuche und liefert dazu immer wieder die mathematischen Grundlagen. Seine Erkenntnisse zur Obertonstruktur von Klaviersaiten inspirierten übrigens die Firma Steinway & Sons in New York dazu, für die Saitenaufhängung die so genannte „Duplex-Skala“ zu entwickeln, der die Steinway-Flügel einen Teil ihres Nimbus verdanken sollten. 1881 bekam Helmholtz ein Versuchsinstrument von Steinway nach Berlin geliefert – es steht heute im Deutschen Museum in München. Auch das Telharmonium oder Dynamophone, das der Amerikaner Thaddeus Cahill 1897 patentieren ließ, war direkt von Helmholtz’ Erkenntnissen angeregt – eine Art Prä-Synthesizer.
Innenohr und Wahrnehmung
Im ersten Teil seines Buches („Die Zusammensetzung der Schwingungen“) wechselt Helmholtz mehrfach zwischen der Physik der Töne und der Anatomie des menschlichen Hörorgans. Als einer der Ersten beschreibt er wissenschaftlich exakt den Aufbau sowohl der Obertonstruktur wie des menschlichen Innenohrs. Was die Physik betrifft, so sind komplexe Schwingungen (nach Fourier) die Summe einfacher (sinusförmiger) Schwingungen. Unser Ohr nun, so lautet Helmholtz’ These, zerlegt diese komplexe Wellenform des Tons in ihre Bestandteile und „misst“ die einfachen Einzelschwingungen. Nach dem Resonanzprinzip reagieren dabei verschiedene Nervenfasern im Innenohr (bewegliche Haarzellen) auf die verschiedenen Schwingungsfrequenzen (Tonhöhen). Für Helmholtz ist das Klavier, das für jede Tonhöhe eigene Saiten hat, eine Art Nachahmung des Innenohrs. Wie das Hörorgan die einzelnen Frequenzen von Grundton und Obertönen registriert, wurde zum Prinzip der Spektralanalyse. (Zu Helmholtz’ Zeit wurden die Partialtöne vielfach noch für Täuschung und Einbildung gehalten.)
Der nächste Schritt, wenn wir Musik hören, ist aber der von der Perzeption (Empfindung) zur Apperzeption (Wahrnehmung). Diese erkenntniskritische Unterscheidung zwischen Reiz und Wahrnehmung war für Helmholtz wesentlich – schließlich hatte er als Erster die Nervenleitgeschwindigkeit gemessen. In unserem Gehirn nun, unserem „geistigen Ohr“, nehmen wir in der Regel nicht die Obertöne selbst wahr, wohl aber das „Timbre“ eines Tons, und genau dieses ändert sich je nach der Struktur der Partialtöne. Mit anderen Worten: Das Gehirn setzt die im Organ „gemessenen“ Einzelfrequenzen wieder zu einem Gesamtbild zusammen und übersetzt dabei das Obertonspektrum in Klangfarbe. „Die Obertöne sind nämlich ein Phänomen, welches der reinen Empfindung des Ohres angehört; die Zusammenfassung einer Reihe von Partialtönen zu einem Klange […] ist ein Vorgang, welcher in das Gebiet […] der Wahrnehmungen fällt“ (Kap. 4). Unser Hörorgan analysiert die Schallwellen – unser Gehirn interpretiert die Analyse. Es macht daraus Musik.
Das Wesen der Dissonanz
Im zweiten Teil seines Buches („Die Störungen des Zusammenklangs“) leitet Helmholtz aus dem Gesagten die physikalisch-physiologische Begründung ab, warum wir Klänge als konsonant oder dissonant empfinden. Von zentraler Bedeutung sind hier die Kombinationstöne, die unter anderem schon vom Organisten Georg Andreas Sorge (1703–1778) und vom Geiger Giuseppe Tartini (1692–1770) beschrieben wurden. Kombinationstöne entstehen aus der Differenz oder der Summe zweier (oder mehrerer) Tonschwingungen – und zwar nicht nur der Grundtöne, sondern auch der Töne im Obertonspektrum. Zwei Töne konsonieren, wenn ihre Obertonspektren weitgehend übereinstimmen (Oktave, Quinte) – hierin liegt die physikalische Erklärung für die ganzzahlige Harmonieformel des Pythagoras. Liegen Grundtöne oder deutliche Obertonfreqenzen jedoch nahe nebeneinander, kann es zu einem Konflikt in den resonierenden Nervenzellen des Innenohrs kommen, den wir als klangliche „Rauigkeit“ wahrnehmen. Je höher die Töne (je schneller die Schwingung), desto dichter und deutlicher wird dieser Konflikt. „Das Wesen der Dissonanz beruht auf sehr schnellen Schwebungen“, schreibt Helmholtz. „Zwei konsonierende Töne fließen in ruhigem Flusse nebeneinander ab, ohne sich gegenseitig zu stören, dissonierende zerschneiden sich in eine Reihe einzelner Tonstöße.“
Der Autor gibt dazu nicht nur mathematische Erläuterungen, sondern auch musikpraktische Tipps. Ein Beispiel: Verschiedene Instrumente – zum Beispiel Klarinette und Oboe – produzieren unterschiedliche Obertonstrukturen. Spielen diese Instrumente zwei verschiedene Töne, so kann der Dissonanzeffekt unterschiedlich sein, je nachdem, welches Instrument den oberen und welches den unteren Ton spielt. Die Dissonanz wird – so Helmholtz – grundsätzlich schon bei einem Mollakkord deutlich, weshalb wir ihn als „rau“ oder „traurig“ empfinden. „Die Mollakkorde lassen sich nie ganz frei von falschen Kombinationstönen halten […]. Dadurch kommt in die Mollakkorde etwas Fremdartiges hinein, was nicht deutlich genug ist, um die Akkorde ganz zu zerstören, was aber doch genügt, dem Wohlklange und der musikalischen Bedeutung dieser Akkorde etwas Verschleiertes und Unklares zu geben“ (Kap. 12).
Die Ästhetik der Dissonanz
Im dritten Teil seines Buches („Die Verwandtschaft der Klänge“) überträgt Helmholtz seine Erkenntnisse auf die Musikgeschichte. Es geht ihm darum aufzuzeigen, dass sich die verschiedenen Tonsysteme zwar aus den Dissonanz/Konsonanz-Regeln entwickelt haben, aber dann eigenen ästhetischen Kriterien folgten. Helmholtz ist weit davon entfernt, die Konsonanz oder die Dur-Harmonik zu einer ästhetischen Norm zu erklären, nur weil sie „natürlich“ oder „naturgegeben“ wären. Einerseits bildet die Konsonanz zwar die Basis der Musikästhetik, weshalb Oktave und Quinte in praktisch allen Musikkulturen eine wichtige Rolle spielen. Andererseits aber sind Gehörempfindungen und das ästhetische Empfinden streng voneinander zu trennen: „Wie viel Rauigkeit […] der Hörer als Mittel des musikalischen Ausdrucks zu ertragen geneigt ist, hängt von Geschmack und Gewöhnung ab“ (Kap. 13). In der Musik sind Dissonanzen unverzichtbar, sowohl als Mittel des Kontrasts (zur Konsonanz) wie auch als Mittel des Ausdrucks (von Leidenschaft, Zorn oder Schmerz).
Helmholtz erweist sich hier als ein historisch und global Denkender. Das „unkörperliche“ Material der Musik, die Töne, beschreibt er als unendlich, ungeformt und frei. Tonleitern sind für ihn willkürlich gewählte Maßstäbe, Tonstufen nur eine Frage des kulturell und historisch geformten Geschmacks. Er betont, „dass die Konstruktion der Tonleitern und des Harmoniegewebes ein Produkt künstlerischer Erfindung [sei] und keineswegs durch den natürlichen Bau oder die natürliche Tätigkeit unseres Ohres unmittelbar gegeben“ (Kap. 19). Die Eigentümlichkeiten des Innenohrs dienten – historisch und interkulturell gesehen – als „Grundlage sehr verschiedener musikalischer Systeme“. Es ist die Gewöhnung, die den musikalischen Geschmack prägt. Helmholtz schreibt: „Einstimmiger Gesang will uns nicht mehr recht gefallen, er erscheint uns leer und unvollkommen. Wenn auch nur das Klimpern einer Gitarre die Grundakkorde der Tonart hinzufügt […], fühlen wir uns dagegen befriedigt“ (Kap. 15).
Musik sind nur Töne
Vieles, was Helmholtz in seinem Buch darstellt, war zu seiner Zeit keineswegs neu, etwa der Aufbau der Obertonstruktur, die Anatomie des Innenohrs oder die Rolle der Konsonanz für die Entwicklung der Tonleitern. Helmholtz jedoch war der Erste, der diese Dinge systematisch und wissenschaftlich dargelegt hat, sie aus eigener Anschauung belegte, sie mit Laborversuchen, Messergebnissen, mathematischen Formeln und Tabellen stützen konnte. Eine Anregung für seine naturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Musik kam aus der Musiktheorie von Eduard Hanslick (1825–1904), auf den er mehrmals Bezug nimmt. Gegen den Musikidealismus seiner Epoche hatte Hanslick darauf bestanden, dass Musik lediglich aus „Tonreihen, Tonformen“ bestehe, die keinen anderen Inhalt hätten als sich selbst. Helmholtz’ Arbeit erforscht im Grunde die strukturellen Grundlagen dieses Inhalts – den Ton selbst, die tonale Organisation, den Tonreiz und die Tonwahrnehmung. Seine faktische, historische und kulturelle Neutralität gegenüber verschiedenen Tonsystemen und Traditionen war am Ende auch ein wichtiger Impuls für die Entstehung der Musikethnologie in Berlin.