Das Medienverhalten von Kindern und Jugendlichen verändert sich ebenso stetig und schnell wie ihre soziokulturelle und biologische Umwelt. Diese Veränderungen und die damit verbundenen Herausforderungen für die musikalische Bildung sind vielfach angemerkt, angemahnt und diskutiert worden. Sie müssen auch weiterhin kritisch betrachtet werden, denn der vermehrte Umgang der Kinder und Jugendlichen mit den digitalen Medien wird sich nicht aufhalten lassen.
Das Gegenteil ist wahrscheinlich der Fall: Die Nutzungszeiten von digitalen Endgeräten und digitalen Tools zur Kommunikation mit der Umwelt werden größer. Das bedingt die Frage für alle Menschen, die sich mit musikalischer Bildung von Kindern und Jugendlichen beschäftigen: Wieviel Digitalität kann und möchte ich in meine musikalische Arbeit integrieren und wieviel Raum kann und muss ich für nicht digitale Inhalte sicherstellen?
Basisstudie Medienumgang
Seit 1998 wird mit der JIM-Studie im jährlichen Turnus eine Basisstudie zum Medienumgang der 12- bis 19-Jährigen veröffentlicht. Durchführende Organisation ist der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest als eine Kooperation der Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg, der Medienanstalt Rheinland-Pfalz in Zusammenarbeit mit dem Südwestrundfunk. Alle Ausgaben der JIM-Studie von 1998 bis 2021 sind als PDF auf www.mpfs.de abrufbar. Die JIM-Studie, als Langzeitprojekt angelegt, bildet zum einen allgemeine Entwicklungen ab und fokussiert zum anderen in den einzelnen Ausgaben gleichzeitig einzelne spezifische Fragestellungen. 2020 wurde in der JIM-Studie die Auswirkung von Corona auf das Medienverhalten untersucht. Der Titel der Pressemitteilung zur Veröffentlichung der Studie beschreibt, was wir alle schon in der eigenen Arbeit erfahren haben: „Deutlich mehr Medienzeit im Coronajahr 2020“ (PM 4/2020, www.mpfs.de/fileadmin/files/Presse/2020/PM_04_2020_JIM-2020_final.pdf). Die Studie von 2020 konnte aufzeigen, dass die erzwungenen Beschränkungen der Kontakte zu einer höheren Ausstattung mit Mediengeräten führten. Dem entsprechend resultierten daraus deutlich höhere Mediennutzungszeiten sowohl in der Internetnutzungsdauer, in der Fernsehdauer und in der Nutzung von digitalen Spielen. Schwerpunkt der Nutzung war vor allem der Unterhaltungsbereich. Spannend wird sicherlich, in welcher Art und Weise sich das Medienverhalten im zweiten und im dritten Jahr von Corona entwickelt hat. Wie wünschenswert wäre es, wenn eine Müdigkeit in der Nutzung von digitalen Medien entstehen würde. Wie segensreich wäre ein gesteigerter Wunsch nach Begegnungen in Präsenz. Bei den Kinder- und Jugendchören spüren viele tatsächlich nach zwei Jahren WhatsApp, Instagram, Zoom, Jamulus und anderen digitalen Kommunikationstools den Wunsch nach gemeinschaftlichem Singen im Chor in der analogen Welt.
Doch was hat die Corona-Zeit mit den Chören, mit den Chorleitungen und mit den Stimmen gemacht? Es wird von deutlichen Einschnitten in der Quantität und der Qualität gesprochen, zum Teil subjektiv empfunden, zum Teil aber auch durch großangelegte Studien wissenschaftlich untermauert. Die momentan häufig gebrauchten Begriffe wie „Neustart“, „Aufholen“ oder „Aufleben“ machen deutlich, dass Corona in der Chorszene eine Zäsur hervorgerufen hat.
Digitale Einflüsse und Wechselwirkungen
Genau hier setzt das diesjährige 19. Leipziger Symposium zur Kinder- und Jugendstimme vom 2. bis 4. September 2022 an. Mit dem Thema „Stimme – Medien – Umwelt“ will das Symposium den vielfältigen digitalen Einflüssen auf die heranwachsende Stimme und auf ihren Gebrauch sowie den entstehenden Wechselwirkungen nachspüren. Dabei soll berücksichtigt werden, dass die digitale Welt zweifellos viele Chancen, gerade auch für die Stimmpädagogik und -therapie bietet. Viele in der Corona-Zeit erprobten Tools werden sicherlich auch weiterhin Bestandteil guter Chorarbeit sein. Andererseits kann übertriebener und falscher Medienkonsum die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen gefährden und sie krank machen. In allgemein verständlichen Vorträgen kommen Referent*innen aus Medizin, Stimmtherapie, Stimmpädagogik und Psychologie zu Wort, die sich dabei auf aktuelle Ergebnisse zum Teil sehr groß angelegter Studien beziehen können.
Leipziger Life-Child-Studie
Einen besonderen Schwerpunkt des diesjährigen Symposiums werden gleich mehrere Vorträge ausgewiesener Wissenschaftler*innen setzen, die die spannenden Ergebnisse aus der Leipziger Life-Child-Studie präsentieren. Ein großes Team um den Direktor der Leipziger Kinderklinik Prof. Dr. med. Wieland Kiess und seine Mitarbeiterin Frau Prof. Dr. med. Antje Körner hatte sich zum Ziel gesetzt, die gesunde Kindesentwicklung von der Schwangerschaft bis ins frühe Erwachsenenalter zu untersuchen. Dabei wird in vielfältigen Projekten der Frage nachgegangen, welche Faktoren die Kindesentwicklung positiv, aber auch negativ beeinflussen. Besonderes Augenmerk liegt auf so genannten Zivilisationserkrankungen, die weltweit auf dem Vormarsch sind und deren Erkrankungsrisiko wesentlich von den vorherrschenden Lebensverhältnissen abhängt. Die Studie wird unter anderem aus Mitteln der Europäischen Union und des Freistaates Sachsen gefördert. Seit Studienbeginn 2011 ist es dem Life-Child-Team gelungen, bereits über 4.500 Kinder und Jugendliche zu untersuchen. Bei circa 2.600 Kindern wurden auch Stimmuntersuchungen durchgeführt, woraus ein weltweit einmaliger Datenschatz entstanden ist, der sowohl für die stimmärztliche als auch für die gesangspädagogische Betreuung genutzt werden kann. Prof. Dr. Michael Fuchs wird erläutern, wie diese Daten als so genannte Perzentilenkurven verwendet werden können, die man aus den kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen im so genannten Gelben Heft kennt. Auch dort werden die jeweils aktuellen Körpergrößen und -gewichte von Kindern eingetragen, um direkt ablesen zu können, ob sich ein Kind normal oder verzögert entwickelt. Mit den Leipziger Daten aus den Stimmuntersuchungen ist diese Anwendung nun auch für die Stimmentwicklung nutzbar. Der Leiter der Studie, Prof. Dr. Wieland Kiess, wird über Zusammenhänge zwischen der kindlichen Entwicklung der Gesundheit und der Umwelt berichten. Die Psychologin Dr. Tanja Poulain wird in ihrem Vortrag aktuelle Ergebnisse zum Mediengebrauch bei Kindern und Jugendlichen vorstellen und Zusammenhänge mit deren Verhalten und psychischer Gesundheit erläutern. Schließlich wird sich der Vortrag von Herrn Dr. med. Dipl.-Psych. Andreas Hiemisch mit dem Thema „Die Smartphonepandemie – Machen uns Bildschirmmedien wirklich krank?“ beschäftigen, ebenfalls auf der Grundlage der Daten aus der Life-Child-Studie.
19. Leipziger Symposium zur Kinder- und Jugendstimme 2022
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