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Utopie – Musik – Bildung

Untertitel
Zum Tagungsband der GMP-Tagung 2022
Vorspann / Teaser

Welchen Erkenntniswert bietet der Utopiebegriff für die Musikpädagogik? Die Frage nach der Relation von Utopie, Musik und Bildung gibt Gelegenheit, nach Beweggründen und grundlegenden Werten zu fragen, die hinter musikpädagogischen Begriffen und Konzepten stehen. Es lassen sich dabei Motive entdecken, die in der musikpädagogischen Geschichte und Gegenwart in unterschiedlichen Formen auftreten und wiederkehren. Solche Motive spielen auch in dem nun vorliegenden Tagungsband eine Rolle – als Motive des gelingenden Lebens, der Neuheit und des gesellschaftlichen Aufbruchs. Ergänzt um den Aspekt des Verhältnisses zwischen Möglichkeit und Norm bilden sie die Kapiteleinteilung des Bandes. Im Folgenden werden die einzelnen Beiträge kurz vorgestellt.

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Gelingendes Leben: utopisches Motiv

Dem Motiv des gelingenden Lebens folgt Nicole Besse in ihrem Beitrag, indem sie auf Glückserfahrungen beim Musizieren Bezug nimmt. Mit Verweis auf die Bedeutung der Stille im Daoismus argumentiert sie für eine musizierpädagogische Praxis des Lassens. Nur in einer ent-didaktisierten Haltung, mit der Idee der Ergebnisoffenheit und durch das Zulassen von Stille kann Instrumentalunterricht einen Raum für glückhaft erlebte Selbstbegegnung öffnen. 

Die Frage nach dem Musizieren als Vor-Schein von gelingendem Leben bildet auch im Beitrag von Nora Leinen-Peters und Helene Niggemeier den Anknüpfungspunkt. Mit dem Begriff der Mediopassivität greifen sie auf die Resonanztheorie Hartmut Rosas zurück und leiten die These ab, dass mediopassives Musizieren als Ausdruck einer resonanten Weltbeziehung gelten kann, indem es ermög­licht, sich selbst als handelnd zu erfahren ohne das Geschehen zu kontrollieren. Mit dem Phänomen Heimat nehmen Dorothee Barth und Lars Oberhaus auf einen Bereich Bezug, der einerseits die Ferne und Nichterreichbarkeit individueller Sehnsuchtsorte thematisiert und andererseits direkt in gesellschaftlichem Kontext steht. Im Rahmen eines hochschulübergreifenden Projektseminars, an dem drei Standorte (Kassel, Oldenburg, Osnabrück) beteiligt waren, konzipierten die Studierenden in wechselseitigem Austausch von Material digitale Klangkompositionen und hatten dabei Gelegenheit, die Verschränktheit individuell-ideosynkratischer und öffentlich-diskursiver Perspektiven künstlerischer Gestaltung zu erfahren.

Neuheit 

Andreas Höftmann fragt in seinem Beitrag, ob wir bereits im Metaversum angekommen sind und inwieweit posthumane Soundproduktionen oder intraaktionale Klanginstallationen musikpädagogische Beachtung verdienen. Anhand von Beispielen wie „Pa­rallel Metaverse“ zeigt der Autor Formen kollaborativer Kreativität, bei der über permanente Eindruck-Ausdruck-Rückkoppelungen ungewöhnliche Real-­Time-Kompositionen beziehungsweise -Klänge entstehen. 

Peter W. Schatt sieht in der Verbindung von künstlerischem und pädagogischem Denken utopisches Potenzial. Seine Überlegungen spannt er zwischen Adornos Utopie-Gedanken und Beispielen Neuer Musik auf und fragt darüber hinaus, ob nicht auch die Parodie als künstlerische Handlungsmaxime die (utopische) Auflösung von Zwängen ermöglichen kann; und dies sowohl künstlerisch als eben auch pädagogisch. Moderner Musikunterricht sollte nicht nur die Schüler*innen sondern ebenso den Freiheits-Begriff ernst nehmen, will er das Unvorhersehbare und Unverfügbare als Grundlage für Emergenz von Möglichem nutzen und damit sein utopisches Potential ausschöpfen. 

Aus einer historiographischen Perspektive zeigt Dierk Zaiser, inwieweit die Ideen des Totaltheaters von Gropius und Piscator eine Art Utopie-Theater darstellten, in dem nicht nur die räumliche Trennung von Bühne und Publikum aufgehoben werden, sondern auch mit besonderen Lichteffekten und Projektionen das Publikum stärker emotional (und körperlich) miteinbezogen werden sollte. Viele dieser damals revolutionären Überlegungen finden sich in aktuellen Theaterproduktionen wieder und zeigen deren (ehemals) utopisches Potential.

Gesellschaftlicher Aufbruch

Gesa Riedel fragt nach dem Verhältnis von Utopie und Wirklichkeit bei der instrumentalpädagogischen Arbeit mit heterogenen Musiziergruppen. Da beim Ensemble-Musizieren oft die Homogenität eines Klangkörpers als wesentliches Qualitätsmerkmal gilt, möchte die Autorin (im Sinne utopischen Potenzials) empirisch nachweisen, dass die individuelle Heterogenität und die Homogenität des Ensembles sich nicht zwingend im Wege stehen müssen. Ihr Artikel gibt einen Einblick in ihr noch nicht abgeschlossenes Forschungsprojekt.

Katharina Schilling-Sandvoß geht in ihren Überlegungen der Frage nach, ob Musikunterricht, der den Anspruch Inklusion ernst nimmt, schon Wirklichkeit geworden ist – oder ob er doch eher noch in den Bereich utopischen musikpädagogischen Denkens gehört. Anhand dreier ausgewählter Zitate zeigt sie, welche Denkrichtungen den jeweiligen Begründungsansätzen – die wiederum das besondere (utopische) Potenzial inklusiven Musikunterrichtes zu legitimieren versuchen – zu Grunde liegen. Hieraus leitet sie dann Anforderungen an inklusiven Musikunterricht ab, welche gegeben sein müssen, will die Idee musikpädagogischer Inklusion nicht im Bereich des Utopischen verbleiben. 

Christiane Gerischer fragt nach Möglichkeiten und Grenzen einer di­ver­­s­itätsorientierten Musikpä­dagogik. Sie plädiert dafür, insbesondere in der hochschulischen Ausbildung die eurozentristische musikwissenschaftliche und musikpädagogische Perspektive zu verlassen, um einer diskriminierungskritischen und diversitätsbewussten Musikpädagogik, die Transkulturalität reflektiert, Raum zu geben. 

Linus Eusterbrock, Silke Schmid und Jonas Völker begeben sich auf die Suche nach einer ökologischen Musikpädagogik, indem sie prospektiv zurückblickend fragen, wie Musikunterricht zur Bewältigung der Klimakrise beigetragen haben wird. Die von der Kultusministerkonferenz allgemein formulierten BNE-Ziele gilt es demnach auf Musikunterricht zu übertragen, um somit eine auf ökologische Nachhaltigkeit fokussierte musikalische Bildung in den Blick zu bekommen. Eine ökologische Musikpädagogik hätte demnach die musikpädagogische Auseinandersetzung mit dem (krisenhaften) Verhältnis von Mensch und natürlichem Ökosystem mit Blick auf musikalische Praxen zu thematisieren. 

Felix Helpenstein beklagt in seinem Beitrag das Fehlen einer Differenzkategorie Religion im musikpädagogischen Diskurs. Eine kritische Aufarbeitung musikpädagogischer Literatur zum Thema Religion könnte diesen blinden Fleck beseitigen und das utopische Potenzial erkennbar machen, das mit dieser Differenzkategorie vebunden ist.

Zwischen Möglichkeit und Norm 

In der vierten Gruppe sind Beiträge zusammengefasst, die weniger auf einzelne utopische Motive verweisen als dass sie auf allgemeine Probleme musikpädagogisch-utopischen Denkens ausgehen. Thomas Greuel hinterfragt die Sinnhaftigkeit utopischen Denkens als bloße „Denkmöglichkeit“ für die musikpädagogische Arbeit und schlägt stattdessen ausgehend von Aristoteles eine Orientierung am „Realmöglichen“ vor. Was es heißen kann, sich in dieser Weise offen zu halten für Veränderung, wie sie im Rahmen des eigenen „Vermögens“ möglich sind, veranschaulicht er anhand einer autoethnographischen Studie, in der er den eigenen durch Corona angestoßenen hochschul-didaktischen Lernprozess reflektiert. 

Stefan Orgass thematisiert in seinem Beitrag Phänomen und Begriff der Affordanz. Affordanzen werden von ihm als das in der Musikwahrnehmung Gesollte thematisiert. Sie stellen damit Normen dar, die als konkrete Utopien im musikpädagogischen Prozess thematisch werden und auf die hin musikpädagogische Vermittlung ausgerichtet ist. Zu fordern ist jedoch, das erweist die reflexionslogische Analyse, eine „nachträgliche“ Reflexion, in der die Geltung der unwillkürlich im Rezeptionsgeschehen affirmierten normativen Implikationen einer ethisch-moralischen Prüfung unterworfen werden. 

Luise Zuther stellt eine Studie vor, in der Musikstudierende nach ihren Überzeugungen bezüglich guten Musikunterrichts gefragt werden. Für das eigene Professionsverständnis von Lehrer*innen sind Überzeugungen von handlungsleitender Bedeutung. Dabei bewegen sich die befragten Lehramtsstudierenden in einem Zwischenbereich umsetzbar-realistischer und utopischer Vorstellungen. 
 

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