Der Arbeitskreis Musik in der Jugend veranstaltet vom 30. Oktober bis 2. November 2003 in Zusammenarbeit mit der Stadt Aschaffenburg sowie dem Internationalen Chor Forum erstmals die „Tage der Neuen Chormusik”.
Geplant ist, mit diesem Festival ein neuartiges Forum für chorbegeisterte Sängerinnen und Sänger, aber vor allem auch Chorleiterinnen und Chorleiter zu schaffen, die sich hier stärker als bisher mit der A-cappella-Chormusik der Gegenwart auseinandersetzen können.
Denn unverkennbar hat sich im 20. Jahrhundert eine ganz neue Ästhetik des Chorsingens entwickelt, die auf den Festivals für zeitgenössische Musik nur eine untergeordnete Rolle spielt. Kurt Suttner, der als Vorsitzender eines künstlerischen Beirats dieses Festival für den AMJ mitentwickelt hat, stellt sich vor, mit diesem Forum eine Lücke zu füllen und auf dem Gebiet der Neuen Chormusik zu einer Begegnung zwischen Basis und Spitze des Chorlebens beizutragen. Leiter von Kinder-, Jugend-, Schul- und Erwachsenenchören, die mit ihren Ensembles zeitgenössischen Chorwerken oft ratlos gegenüberstehen, sollen auf Vertreter professioneller und semiprofessioneller Gruppierungen treffen, deren verdienstvolle Aufführungen neuer und neuester Kompositionen in der allgemeinen kulturellen Szene oft nur am Rande wahrgenommen werden. Dieser Austausch von Basis und Spitze soll zu einer Bereicherung der gesamten Chorszene führen.
In den Konzerten dieser Veranstaltung sind deshalb neben einem professionellen Rundfunkchor auch semiprofessionelle und Laienchöre vertreten. Das Eröffnungskonzert bestreitet eines der professionellen Spezialensembles auf dem Gebiet zeitgenössischer Chormusik, das SWR Vokalensemble Stuttgart. Unter der Leitung des in Stockholm lebenden Dirigenten Gary Graden singt es Alfred Schnittkes „Zwölf Bußverse”. Diesem ausgedehnten Chorwerk werden am 30. Oktober in der Stiftskirche Aschaffenburg Responsorien des Renaissance-Komponisten Carlo Gesualdo und zwei Chorstücke Wolfgang Rihms gegenübergestellt. Der seit über 30 Jahren auf die Neue Chormusik spezialisierte via-nova-chor aus München wird unter der Leitung von Kurt Suttner mit Günter Bialas’ Genesis-Vertonung „Im Anfang“, nach der Übersetzung Martin Bubers, eine wichtige Wegmarke der Chormusik der 60er-Jahre am 31. Oktober in einem speziellen Nachtkonzert präsentieren.
Mit dem Mädchenchor Hannover ist einer der derzeit besten Chöre im Mädchen-/Frauenchorbereich dabei. Komponisten wie der Este Arvo Pärt haben für diesen Chor erst kürzlich Werke geschrieben. Ähnlich wie beim via-nova-chor München übernimmt dieser Chor eine Vorreiterrolle, indem er immer wieder Komponisten anregt, für ihn neue Werke zu schreiben. Gemeinsam mit dem Konzertchor Darmstadt unter der Leitung von Wolfgang Seeliger werden am 1. November in der Stadthalle Aschaffenburg unter anderem neuere Werke von Arvo Pärt, Einojuhani Rauravaara und Hans Schanderl, aber auch Chorwerke der klassischen Moderne wie Pendereckis „Agnus Dei“, Brittens „Hymn to St. Cecilia“ und Schönbergs „Friede auf Erden“ aufgeführt. Den Konzertabschluss der Tage der Neuen Chormusik bildet schließlich eine Matinee am Sonntag, den 2. November. Hier wird der KammerChor Saarbrücken unter der Leitung von Georg Grün als Auftragskomposition ein neues Chorwerk des schwedischen Komponisten Thomas Jennefelt uraufführen, ein Werk das seinen Impuls nimmt von Matthias Claudius’ berühmtem Ausspruch: „Es ist Krieg, und ich begehr’, nicht Schuld daran zu sein“.
Gepaart wird diese Uraufführung mit Bearbeitungen von Clytus Gottwald nach Kompositionen von Gustav Mahler, Alban Berg, Maurice Ravel und Claude Debussy. Clytus Gottwald, der Nestor der modernen Chormusik nach 1945, wird auch das Eröffnungsreferat der Tage der Neuen Chormusik halten, in dem er ausgehend vom Motto „Wurzel, Stationen, Ausblicke der Neuen Chormusik“ einen historischen Überblick der Entwicklung darstellen wird.
Verständnis für das Neue
Außerdem wird das seit sechs Jahren durchgeführte AMJ-Projekt „Komponistinnen und Komponisten schreiben für Kinder- und Jugendchöre” ein wichtiger Bestandteil der Veranstaltung sein. Denn das Verständnis für neue musikalische Ausdrucksmöglichkeiten entsteht nicht erst im Erwachsenenalter, sondern wird bereits beim Singen im Kinderchor angebahnt. Erneut werden in diesem Rahmen fünf Uraufführungen auf dem Programm stehen, die in enger Zusammenarbeit zwischen Komponisten und Chören entstanden sind und die Literatur in diesen Chorgattungen nachhaltig bereichern sollen. Dabei steht die enge Partizipation der Kinder und Jugendlichen am Kompositionsprozess im Vordergrund: Denn die Erfahrungen bisheriger Projekt-Durchgänge haben gezeigt, dass immer wenn die Zusammenarbeit zwischen Komponist und Chor besonders intensiv war, die geglücktesten Ergebnisse vorgestellt werden konnten.
Die Konzeption der Tage der Neuen Chormusik sieht neben den Konzerten aber auch pädagogische Veranstaltungen vor. In sogenannten „Reading-Sessions“ wird durch erfahrene und kenntnisreiche Chorleiter Literatur unterschiedlicher Schwierigkeit aus dem Bereich der zeitgenössischen Chormusik vorgestellt. Berücksichtigt werden dabei die Chorgattungen Frauenchor, Jugend- und Schulchor sowie gemischter Chor. Eine eigene Veranstaltung widmet sich dem zeitgenössischen Stilbereich Rock, Pop, Jazz und Crossover, der insbesondere in den Jugend- und Schul-Chören gleichfalls eine zunehmende Rolle spielt. Eine Notenausstellung, die Manfred Bender vom Deutschen Zentrum für Chormusik konzipiert, soll an Ort und Stelle eine zusätzliche Möglichkeit bieten, das weite Feld der Neuen Chormusik kennen zu lernen. In diesem Sinne ist auch ein Vortrag zum Thema „Neue Formen der Notation in zeitgenössischer Chormusik“ vorgesehen. Als Ergebnis eines studentischen Projektes der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf wird Raimund Wippermann dieses wichtige Thema in Klang- und Notenbeispielen erläutern und einen systematischen Überblick geben.
Vokale Avantgarde
Als besonderes Kursangebot gibt es schließlich parallel zur Veranstaltung einen Interpretations- und Dirigierkurs, der von Manfred Schreier, Professor an der Musikhochschule Trossingen, geleitet wird. Interessierte
Dirigenten- beziehungsweise fortgeschrittene und praxiserfahrene Dirigierstudenten sollen hier die Möglichkeit haben, sich mit wichtigen Stationen der Entwicklung vokaler Avantgardemusik der 50er- bis 70er- Jahre praktisch auseinanderzusetzen. Grund-lage bilden hierbei Dieter Schnebels „Für Stimmen (…missa est) dt 31,6“, Luigi Nonos „Sarà dolce tacere“, Brian Ferneyhoughs „Time and Motion Study III“ und Helmut Lachenmanns „Consolation II“.
Für die Probenarbeit und das Abschlusskonzert stehen Mitglieder des Vokalensembles „Polyphonie T voca“ zur Verfügung. Demgegenüber sollen aber auch gerade erst entstandene Partituren junger Komponisten erarbeitet werden. Sie zeigen, was aktuell für Stimmen komponiert wird und welche Fragen sich bei der Erarbeitung dieser Werke für alle Beteiligten ergeben. Das Kursergebnis wird dann in einem Abschlusskonzert präsentiert.