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Daniel Müller-Schott beim Schulbesuch. Foto: Tobias E. Mayer
Daniel Müller-Schott beim Schulbesuch. Foto: Tobias E. Mayer
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Der Bernstein-Effekt

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Klassikstars im Klassenzimmer
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Jugendlichen klassische Musik näherzubringen ist nach wie vor eine Herausforderung, falls das Interesse nicht bereits von Kindheit an vorhanden ist. Wie können Lehrer in dieser Aufgabe unterstützt werden? Vor allem in Mittelschulen fehlen häufig Musiklehrer und Instrumente sowie die finanziellen Mittel und ausreichend Zeit für die Durchführung von Projekten zur Vermittlung klassischer Musik. Darüber hinaus wollen sich Jugendliche möglicherweise in einem solchen Projekt zunächst gar nicht einbringen, weil ihnen der Zugang fehlt und Mitmachen eine höhere Hemmschwelle hat als einfach zuzuhören.

Seit 2005 setzt die Initiative „Rhapsody in School“ auf die persönliche Begegnung als Initialzündung für das Interesse an klassischer Musik. Dabei besuchen renommierte Musikerinnen und Musiker Schulen, um dort Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, Klassik und Klassikstars live zu erleben. Dieses Vermittlungsmodell wurde in einer Studie zum „Bernstein-Effekt“ im Fokus auf 13- bis 16-Jährige Jugendliche in Haupt- beziehungsweise Mittelschulen untersucht.1

Der Name geht auf Leonard Bernstein zurück, der dieses Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte und der insbesondere durch seine „Young People’s Concerts“ in den 1960er-Jahren einen Meilenstein in der Musikvermittlung gesetzt hat. Zugespitzt formuliert wurde in der Studie folgende Hypothese untersucht: „Klassikstars können bei Jugendlichen ohne Affinität zur klassischen Musik ein Interesse für Klassik wecken.“ Die folgenden Abschnitte enthalten die wesentlichen Ergebnisse dieser Untersuchung.
Exposition – Um was geht es und wer war beteiligt?

Am Anfang des Forschungsprozesses stand die Frage: Wie kann ich das Konzept von „Rhapsody in School“ untersuchen, bei dem renommierte Musikerinnen und Musiker Schulen besuchen? Mein Fokus fiel bald auf Jugendliche in Hauptschulen und hier auf die Altersgruppe der 13- bis 16-Jährigen. Mich interessierte zum einen, welche Auswirkungen solche Schulbesuche haben und zum anderen, wie „Klassikstars“ diese Begegnungen vorbereiten und gestalten. Die Wahl fiel auf ein Längsschnittdesign mit drei Erhebungsmomenten, in dem quantitative und qualitative Erhebungs- und Auswertungsverfahren kombiniert sind: Zentrales Element ist ein Schülerfragebogen, für die Lehrer- und Starperspektive erschienen Interviews und für mich als wissenschaftlichen Begleiter Beobachtungsprotokolle sowie Audio- und Videoaufzeichnungen zum besseren nachträglichen Nachvollziehen der Stundenabläufe geeignet.

Die Schülerbefragungen fanden circa vier Wochen vor, einen Tag nach und nochmal sechs Monate nach dem Schulbesuch statt. Die Interviews mit den Klassikstars wurden vor dem Schulbesuch zur Vorgehensweise und den Zielen sowie direkt danach zur eigenen Einschätzung der Begegnung und der Wahrnehmung der Schüler geführt. Mit den Lehrern wurde nach dem Schulbesuch und noch einmal ein halbes Jahr später gesprochen – zum beobachteten Verhalten der Schüler, zu Reaktionen im Nachhinein und zu möglichen Folgeprojekten/-aktionen. Darüber hinaus wurden Beobachtungsprotokolle sowie Audio- und Videoaufzeichnungen der Schulbesuche zur nachträglichen Analyse von Abläufen, Aufbau und Reaktionen angefertigt.

Mithilfe eines Online-Fragebogens mit Audiodateien und Videoclip wurde das Interesse der Schüler an klassischer Musik, genauer gesagt an der Musik des jeweiligen Klassikstars, in drei Bereichen gemessen:

Gefallen von klassischer Musik

Dies wurde mithilfe von fünf halbminütigen Klangbeispielen überprüft – nach dem Prinzip des klingenden Fragebogens, der vom Musikwissenschaftler Vladimir Karbusicky in den 1960er-Jahren entwickelt wurde. Auf einer sechststufigen Skala von „überhaupt nicht“ bis „sehr gut“ bewerteten die Jugendlichen, wie ihnen das jeweilige Musikbeispiel gefallen hat. Die ers­ten beiden Klangbeispiele stammten dabei aus Stücken, die der jeweilige Musiker bei seinem Schulbesuch live vorgespielt hat. Anschließend wurde danach gefragt, ob das Stück bekannt war.

Hören von klassischer Musik

In dieser Kategorie wurden Fragen zum Interesse am Hören von Klassik im Konzert und in der Freizeit gestellt. Dabei konnte das Etikett „Klassik“ vermieden werden, indem sich direkt auf die Klangbeispiele bezogen wurde. So unter anderem durch folgende Formulierung und daran angeschlossene Frage: „Du hast gerade fünf Klangbeispiele gehört. Hast du schon einmal ein Konzert besucht, bei dem solche Musik gespielt wurde?“

Interesse am Musizieren

Es waren mehrere Fragen zu instrumentalen Vorerfahrungen und zum Interesse am Erlernen eines Instruments und zum Spielen in einem Orchester oder einer Band enthalten. Darüber hinaus gab es eine Liste von Ins­trumenten, die hinsichtlich des Gefallens ihres Klanges bewertet wurden.

Überdies waren noch Fragen zum Musiker enthalten: Wie der Schulbesuch insgesamt gefallen hat sowie die differenzierte Abfrage, wie die vorgetragene Musik des Klassikstars, dieser als Person und das, was er gesagt hat, angekommen sei. Persönliche Attribute des Musikers (Sympathie, Coolness, Aussehen und Interessant-finden) wurden mithilfe eines kurzen Videoclips abgefragt und schließlich überprüft, ob das Interesse an Konzerten des Musikers gestiegen ist. Die Untersuchung wurde anhand von vier Einzelprojekten mit jeweils einem Klassikstar an unterschiedlichen Schulen mit je circa 100 Schülern durchgeführt: Mit Cellist Daniel Müller-Schott in Augsburg, mit Pianist Martin Stadtfeld in Herne/Ruhrgebiet, mit Pianistin Evgenia Rubinova in Frankfurt am Main und mit Violinis­tin Arabella Steinbacher in München.

Durchführung – Was wurde erwartet und wie war der Ablauf?

Die Vorgehensweise war bei allen vier Studien vergleichbar. Die Erwartungen der Lehrer reichten von offen bis hin zu Skepsis. Insbesondere vor dem Schulbesuch von Daniel Müller-Schott wurde befürchtet, dass ein Cello ohne Begleitinstrumente zu Unruhe bei den Schülern führen würde – entsprechend positiv waren die Reaktionen im Nachhinein, da sich diese Sorge nicht bestätigte. Den Zielen und Vorgehensweisen der Musiker war gemeinsam, dass sie eine Mischung aus Stücken, Erklärungen und Fragen an die Schüler stellten beziehungsweise von ihnen erhielten. Die Schwerpunkte der Musiker bei ihren Schulbesuchen unterschieden sich jedoch.

Müller-Schotts Anliegen war primär, den Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, einen Musiker hautnah erleben zu können und die Klangvielfalt des Cellos aufzuzeigen. Dabei ließ er viele Rückfragen zu und vermittelte durch sein nahbares Auftreten eine Begegnung auf Augenhöhe. Es gab intensive Momente des Zuhörens, wobei das Stück „Gebet“ von Ernest Bloch einen Höhepunkt darstellte. In den Interviews nach dem Schulbesuch wurde darauf Bezug genommen; ein Lehrer fasste dies wie folgt in Worte: „Was mich wirklich fasziniert hat, war zum Teil die Andacht der Kinder, wenn er [der Cellist Daniel Müller-Schott] gespielt hat, zum Beispiel bei diesem „Gebet“ [von Ernest Bloch]. […] Einige waren entrückt, also das hab’ ich so bei unseren Kindern noch nie gesehen.“

Martin Stadtfeld verknüpfte seine Vortragsstücke, die fast ausschließlich von J.S. Bach stammten, mit biografischen und zeitgeschichtlichen Hintergründen, wobei es ihm primär um den emotionalen Gehalt der Stücke ging. Evgenia Rubinova legte Hintergründe zu den Werken dar und ging auf die motivische Arbeit ein; dazu war ihr der Dialog mit den Schülern wichtig. Beiden gelang es, diese Ziele anschaulich näherzubringen, jedoch gab es wenig Interaktion mit den Jugendlichen. Bei den meisten Vortragsstücken war bei beiden eine konzentrierte Atmosphäre zu erleben. Als ein Highlight nennen mehrere Lehrer nach dem Schulbesuch von Stadtfeld dessen anschauliche Erklärung des Fugenprinzips als eine Unterhaltung anhand der Fuge c-Moll aus dem WTK, Bd. 1 von J.S. Bach. Arabella Steinbacher ging es darum, den Schülern Musik als etwas Positives zu vermitteln. Dabei räumte sie den Fragen der Jugendlichen viel Zeit ein und ließ sich auch spontan auf Stückwünsche ein. Darüber hinaus sprach sie, wie Stadtfeld, auch das herausfordernde Thema „Trauer und Tod“ an. Anders als Stadtfeld verknüpfte sie dies nicht mit der Komponistenbiografie, sondern mit eigenen Erfahrungen dazu, wie Musik in solchen Momenten Trost spenden kann.

Reprise – Was kam heraus und was ist geblieben?

Die zweite Befragungsphase (einen Tag nach dem Schulbesuch) zeigt die kurzfristigen Veränderungen und die Umfrage ein halbes Jahr später die längerfristigen, für die sich allerdings nur für das Gefallen der Klangbeispiele schlüssige Aussagen tätigen lassen. Insgesamt ist eine höhere Offenheit für klassische Musik erkennbar geworden. In folgenden Bereichen haben sich positive Veränderungen gezeigt:

  • Die Musiker werden nach ihrem jeweiligen Schulbesuch nicht nur öfter wiedererkannt, sondern auch als Person besser bewertet. Zudem steigt die Bereitschaft, ein Konzert des jeweiligen Klassikstars zu besuchen.
  • Am besten schneidet die Musik beim Schulbesuch ab, sogar noch besser als die Person und deutlich besser als das, was der Klassikstar gesagt hat.
  • Die meisten Musikbeispiele, vor allem die vorgespielten, werden positiver beurteilt als vor dem Schulbesuch.
  • Die meisten Klangbeispiele werden nach dem Schulbesuch besser bewertet als davor und darauf hat der Klassikstar überwiegend auch einen direkten Einfluss als Person.
  • Auch das Interesse am Klassikhören im Konzert vergrößert sich, beim Hören von Klassik in der Freizeit gibt es zumindest positive Ansatzpunkte.

Fazit: „Klassikstars können als Musikvermittler bei Jugendlichen, die zuvor keine oder nur wenig Affinität zur klassischen Musik zeigten, durch nur einen Schulbesuch ein Interesse für Klassik wecken. Der Klassikstar steht dabei vor allem als Musiker im Blickpunkt, dessen Persönlichkeit eine entscheidende und dessen Prominenz eine untergeordnete Rolle spielt. Dieses durch den Klassikstar als Musikvermittler geweckte Interesse der Jugendlichen ist als eine neu gewonnene Offenheit für klassische Musik zu verstehen. Bildhaft ausgedrückt gelingt es den Klassikstars in ihren Schulbesuchen, die Tür zur klassischen Musik für die Jugendlichen einen Spalt zu öffnen. Damit sich aus einer solchen verstärkten oder neu entstandenen Handlungsbereitschaft auch die Handlungsmuster der Jugendlichen gegenüber Klassik ändern, braucht es jedoch eine Fortführung der Vermittlungsarbeit. Die Chancen des Bernstein-Effekts liegen letztlich in dessen Potential, als ein entscheidender Türöffner musikalische Begegnungsmomente mit begeisterten und begeisternden Musikern zu ermöglichen. Auf diese Weise kann er zu einem Wendepunkt für Jugendliche werden, sich mit klassischer Musik und dem Musizieren zu beschäftigen.“2

Coda – Was lässt sich ableiten und wie geht es weiter?

Am Schluss dieses Artikels möchte ich noch konkret einige Thesen auf Basis der Forschungsergebnisse formulieren. Denn ohne eine sich anschließende weitere Vermittlungsarbeit und vor allem ohne das Fundament eines soliden Musikunterrichts ist der genannte Türspalt wahrscheinlich bald verschwunden und die Tür wieder verschlossen:

Keine Angst vor Klassik

Klassische Musik lässt sich emotional und lebensnah vermitteln, zum Beispiel, indem einfach einmal die Frage danach gestellt wird, welche Emotionen Schüler bei einem Stück empfinden. So gibt es Berührungspunkte mit ihrer Lebenswelt.

Mut zum Musizieren

Musiklehrer, die selbst in ihrer Freizeit musizieren, dürfen musikalische Vorbilder sein und auch ihre Musik solistisch vortragen – es kommt häufig besser an als gedacht. Alternativ können Gäste zum Vorspielen eingeladen werden.

Keine Scheu vor Kooperationen

Es gibt zahlreiche Kooperationsmöglichkeiten und kulturelle Angebote. Diese häufiger zu nutzen macht sicher auch Aufwand. Dies ist es aber wert. Initiativen wie „Rhapsody in School“ oder einfach die Musikschule vor Ort können eine große Hilfe für den Musiklehrer sein und belebende Impulse von außen geben.

Verwegenheit im Alltagstrott

Im Schulalltag bietet Musikunterricht Möglichkeiten wie kaum ein anderes Fach –, um zu experimentieren, eigene Projekte zu wagen und sich dabei auch einmal mit Kollegen zusammenzutun. Das ist zwar einfacher gesagt als getan, doch geht das auch schon im Kleinen – wie beispielsweise Musik anzuhören oder die Stile wahrzunehmen (und dabei zum Beispiel mit einem Stück wie Cages 4’33 zu schockieren).

Und zu guter Letzt zusammengefasst: Das Klassenzimmer mehr als Bühne begreifen; denn Musikunterricht ist spannend, lebt davon, Musik zu erfahren und selber zu machen sowie neue kreative Wege gemeinsam zu entdecken – dafür braucht es nicht ständig Höhenflüge oder spezielle Höhepunkte, aber Impulse von außen können unterstützend wirken.

So möchte ich mit den Worten Leo­nard Bernsteins schließen, die ich meinem Buch als Motto vorangestellt habe: „Falls es eine Formulierung gibt, in der sich wie in einer magischen Kugel mein Dasein zusammenfassen läßt, so sind es die Worte ,sich mitteilen‘. Ich habe das Leben immer geliebt, dieses mein Leben für die Musik, und ich habe immer nur versucht, den anderen die Freude und den Schmerz ,mitzuteilen‘, die es bedeutet, solch ein Leben zu führen.“

Anmerkungen
1     Tobias E. Mayer (2017): Der Bernstein-Effekt. Klassikstars als Musikvermittler für Jugendliche. Mainz: Schott
2     Ebd., S. 165.

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