Es war ein leiser Startschuss: Sechzehn Musikschullehrkräfte aus fünf Berliner Bezirksmusikschulen vernahmen ihn und meldeten sich zum Seminar „Kollegiale Fallberatung“ in der Landesmusikakademie Berlin (LMAB) an. Sie interessierten sich, größtenteils ohne weitere Vorkenntnisse, für diese Methode, die der gegenseitigen Beratung beruflich Gleichgestellter dient. Dabei wird der Erfahrungsschatz, werden die unterschiedlichen Kenntnisse und Blickrichtungen der Gruppenmitglieder systematisch genutzt, um die Sichtweisen auf einen konkreten Fall zu ergänzen und Lösungsansätze zu entwickeln.
Mit diesem Seminar griff die Landesmusikakademie Berlin die wiederholten Anfragen nach Fortbildungen zu schwierigen Situationen im Musikschulalltag auf und versuchte damit, einmal eine andere, individuellere und konkretere Antwort auf alltäglich entstehende Fragen und Bedürfnisse zu geben. Zudem schien der Zeitpunkt günstig – im Rahmen der Initiative „20 Prozent Festanstellung von Musikschullehrkräften“ verbesserte sich die Personaldecke und ein frischer Blick auf die Qualitätsentwicklung wurde möglich.
Zwischen Euphorie und Ernüchterung
Im Seminarraum trat rasch Euphorie ein: Bereits nach einem halben Tag wurde formuliert, dass hier doch genau die Methode vorläge, die man immer schon gesucht hatte und genau die Form der Zusammenarbeit, die für eine Musikschule so grundlegend sei. Diese schnelle Entwicklung war auch der Referentin Sandra Tirre vom Artop-Institut zu verdanken, die fundiert und geschickt in die Thematik einführte und dann das Lernen am Fall in den Vordergrund stellte. In den ersten zwei Tagen wechselten die Teilnehmenden je nach Wunsch durch sämtliche Rollen des Prozesses und sammelten Erfahrungen als Fallgeber/-in, Berater/-in, Beobachter/-in und natürlich als Moderator/-in. Dadurch wurde offensichtlich, welche immensen Ressourcen die Kollegiale Fallberatung aktivieren kann und wie selbstermächtigend sie wirkt. Nicht nur die Beratungskompetenz liegt in den Händen der Gruppe, sondern es ist bei einer längerfristigen Etablierung der Gesprächsrunden erwünscht, dass auch die Moderation rotiert.
Ausgestattet mit Handwerkszeug und ersten Erfahrungen stieg die Seminargruppe voll motiviert in die Phase der Übung und Erprobung ein, möglichst in der eigenen Musikschule. Bald aber machte sich Ernüchterung breit, denn die Mehrzahl der Kolleg/-innen zeigte zwar durchaus Interesse, das aber nicht so weit ging, sich tatsächlich an den Gesprächsrunden zu beteiligen. Die Erklärungsversuche dazu spannten einen Bogen von zu knapper Zeit und Nichtvorhandensein von Fällen bis hin zur Überlegung, dass nicht jede/-r eine Fallbesprechung in der Gruppe für das passende Vorgehen hält. Dagegen ließe sich halten, dass eine Fallbesprechung recht zuverlässig nur 60 Minuten benötigt, da die klare Zeitsteuerung ein Teil der Methode ist. Zum Kennenlernen der Methode hätte es keines eigenen Falles bedurft und schlussendlich wird für die Beratung Vertraulichkeit vereinbart. Allerdings waren einige Seminarteilnehmer/-innen als Fachgruppenleitung tätig, so dass in diesen Fällen nicht die Voraussetzung der beruflichen Gleichstellung eingehalten werden konnte. In zwei Musikschulen kam dennoch eine Beratung zustande und die anderen Übungssitzungen wurden innerhalb der Gruppe der Seminarteilnehmer/-innen organisiert.
Keine Verquasseleien
Der dritte Fortbildungstag galt dem Aufarbeiten der Übungsphase und ganz wesentlich verschiedenen Fragen zur Nachhaltigkeit: Wie können die frisch gewonnenen Fähigkeiten lebendig gehalten werden? Was kann getan werden, damit auch andere Kolleg/-innen die Methode kennenlernen? Welche Settings wären sinnvoll, um die Fallberatung in die Musikschularbeit zu integrieren?
Um Fälle auch außerhalb des eigenen Kollegiums besprechen zu können, legte die LMAB eine angeleitete Beratung auf, die von Teilnehmer/-innen des Moderationsseminars übernommen wurde. 2018 ergab sich die Durchführung eines Inhouse-Seminars an der Musikschule Steglitz-Zehlendorf. Die Musikschule sorgte dafür, dass die freiberuflichen Lehrkräfte für die aufgewendete Zeit mit dem Honorarsatz für sonstige Tätigkeiten bezahlt wurden.
Die anonymen Rückmeldungen nach den ersten fünf Doppelstunden waren mehr als ermutigend, wie ein paar Zitate andeuten können: „Die Kollegiale Fallberatung gefällt mir sehr gut. Sie ist gut strukturiert und es kommt zu keinen Verquasseleien.” „Es ist eine gute Sache, in den gemeinsamen Austausch zu kommen. Sonst ist man ja immer alleine.“ „Die Fallberatung ist ausgezeichnet, weil sie (…) sehr strukturiert ein gut nutzbares System eintrainiert, mit dessen Hilfe tatsächlich Lösungen gefunden werden. Persönlich konnte ich damit schon drei Fälle in die Spur bringen.“ Die Moderation von Susanne Pudig, einer Absolventin des ersten Seminars, wurde sehr wertgeschätzt und nach der ersten Runde bildeten sich weitere Gruppen, um die Arbeit kennenzulernen und fortzusetzen.
Nachhaltige Wirkung entfacht
2019 wurde die Kollegiale Fallberatung vom VdM-Musikschulkongress an prominente Stelle gerückt und 2020 organisiert die LMAB für zwei weitere Musikschulen ein Inhouse-Seminar zum Kennenlernen der Kollegialen Fallberatung. Nicht zu vergessen ist an dieser Stelle, dass die Honorarmittel für alle Fortbildungen vom Senat für Bildung, Jugend und Familie beziehungsweise für Kultur und Europa bereitgestellt wurden.
Mit der Implementierung der Workshops wurden sogar mehr als die ursprünglichen Absichten verwirklicht: Die Lehrkräfte in der Musikschule profitierten nicht nur direkt für ihre Arbeit von der Methode, sondern sie fanden neue Verbindungen im Kollegium; die Fortbildung der LMAB entfaltete nachhaltige Wirkung; die Zusammenarbeit der Berliner Bezirksmusikschulen und der LMAB regte Qualitätssicherung und -entwicklung an, denn die Methode führt langfristig bei allen Beteiligten zu erhöhter Problemlösungskompetenz, zu Dialog- und Selbstreflexionsfähigkeit und damit zur Unabhängigkeit von externen Ratgebern.