Seit 2013 besteht laut Arbeitsschutzgesetz die gesetzliche Pflicht des Arbeitgebers, psychische Belastungen am Arbeitsplatz für Beschäftigte im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung zu erfassen. Obwohl am Arbeitsplatz von Musikschullehrkräften eine Vielzahl psychischer Belastungen zutreffen, die zu einem erhöhten Gesundheitsrisiko führen, gibt es bisher nur sehr wenige Forschungsarbeiten zu diesem Thema. Darüber hinaus steht kein geeignetes Werkzeug zur Gefährdungsbeurteilung zur Verfügung. Allein die Definition „Arbeitsplatz“ stellt schon die erste Herausforderung dar, denn in der Regel gibt es mehrere. Das nahm die Autorin dieses Beitrags 2023 zum Anlass, im Rahmen ihrer Masterarbeit (Studiengang Kommunikationspsychologie) darüber zu forschen und ein entsprechendes Werkzeug auf Grundlage von Experteninterviews an deutschen Musikschulen zu entwickeln („Psychische Belastungen am Arbeitsplatz von Musikschullehrkräften“, veröffentlicht unter https://www.grin.com/document/1501712#summary-details).

Traumberuf Musikschullehrkraft?
Warum entscheiden sich immer weniger junge Leute dafür, ein musikpädagogisches Studium aufzunehmen? Warum verlassen gestandene Lehrkräfte ihr bisheriges Tätigkeitsfeld und „wandern ab“? Die Frage nach der Attraktivität des Berufsfeldes rückt zunehmend in den Vordergrund, denn sowohl im schulischen als auch im außerschulischen Bereich (z. B. an Musikschulen) ist ein eklatanter Fachkräftemangel festzustellen. Mittels Studien wie der MULEM-EX-Studie (veröffentlicht unter miz.org) oder der MiKADO-Musik-Studie (veröffentlicht unter www.alms-musik.de) werden Ursachen ermittelt. Auch die genannte Masterarbeit hat den Charakter einer Bestandsaufnahme: Worunter leiden Musikschullehrkräfte am meisten?
Zur Studie
Für die Entwicklung des Fragebogens bildeten neben gesetzlichen Grundlagen folgende arbeitspsychologischen Modelle den theoretischen Rahmen: die Salutogenese (A. Antonovsky), das Anforderungs-Ressourcen-Modell der Gesundheit (P. Becker), das transaktionale Stressmodell (R. Lazarus und S. Folkmann), das Konzept psychischer Belastungen durch Regulationsbehinderungen sowie das Modell beruflicher Gratifikationskrisen (J. Siegrist).
Die Experteninterviews hatten zwei Dimensionen. Erstens wurde gefragt, wie die Fragen gestellt sein müssen, um hilfreich zu sein und zweitens galt es, die jeweils größten psychischen Belastungen zu ermitteln. Natürlich handelt es sich bei 23 Befragten nicht um repräsentative Ergebnisse, sondern um Tendenzen.
Psychische Belastungen in einer Gefährdungsbeurteilung zu erheben bedeutet laut DIN EN ISO 10075-1 „die Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn einwirken“ zu erfassen. Dabei werden fünf Merkmalsbereiche untersucht:
- Arbeitsinhalt/Arbeitsaufgabe
- Arbeitsorganisation
- Soziale Beziehungen
- Arbeitsumgebung/Arbeitsort
- Neue Arbeitsformen und zusätzliche Belastungen
Jeder Einfluss von außen kann zur psychischen Belastung werden. Es wird also zugleich ein Gesamtbild des Arbeitsalltags erhoben.
Anzumerken ist, dass umgangssprachlich „psychische Belastung“ laut Begriffsdefinition „psychische Fehlbeanspruchung“ meint, das heißt die Folge einer dauernden psychischen Fehlbelastung.
Wichtigste Faktoren psychischer Belastung
Im Merkmalsbereich „Arbeitsinhalt/Arbeitsaufgabe“ kristallisierten sich zwei Faktoren heraus: mangelnde Qualifikation aufgrund der unzureichenden pädagogischen Ausbildung an den Musikhochschulen (zu geringer Praxisbezug) und unklare Zuständigkeiten vor allem im Hinblick auf Tätigkeiten, die über vertragliche Vereinbarungen hinausgehen sowie Rollenirritation.
Im Merkmalsbereich „Arbeitsorganisation“ wurden hinsichtlich der Arbeitszeit zahlreiche Faktoren deutlich: die Verteilung derselben (extreme Schwankungen, Entgrenzung etwa durch Digitalisierung, Zersplitterung), die Lage (die oft zur Unvereinbarkeit von Familie und Beruf führt) sowie deren Umfang (hohe Unterrichtsbelastung bei Vollbeschäftigung, die Teilerfassung der Arbeitszeit – Stichwort Zusammenhangstätigkeiten –, Zeitdruck). Im selben Merkmalsbereich wurden im Hinblick auf die Verwaltung fehlende Leitfäden und Prozessdefinitionen sowie mangelnde Unterstützung des Lehrbereichs beklagt.
Im Merkmalsbereich „Soziale Beziehungen“ wurde die Kommunikation mit der Führungsebene am stärksten kritisiert. Oft fühlten sich Beschäftigte nicht oder unzureichend wahrgenommen und wertgeschätzt und unzureichend in Prozesse einbezogen. Es mangele darüber hinaus an Kritikfähigkeit sowie angemessener Feedbackkultur der Führungsebene. Im Hinblick auf das Kollegium leiden viele am Einzelkämpfertum selbst, auch unter der daraus resultierenden Einzelkämpfermentalität der anderen.
Im Merkmalsbereich „Arbeitsumgebung und Arbeitsort“ wurden besonders das Fehlen eines festen Arbeitsortes, die Lärmbelastung im Gruppenunterricht, lange Fahrtzeiten vor allem in den Großstädten oder im ländlichen Raum sowie schwere körperliche Tätigkeit im Zusammenhang mit Konzerten, Orchesterarbeit und Gruppenunterricht benannt, die teilweise zu Haltungsschäden führen. Fehlende Arbeitsmittel (z. B. digitale Endgeräte, Hauptinstrumente, Notenständer, Büromaterial) führen ebenso zu starker psychischer Beanspruchung.
Im Merkmalsbereich „Neue Arbeitsformen und zusätzliche Belastungen“ traten Belastungen im Zusammenhang mit zunehmender Digitalisierung hervor: Arbeitsverdichtung, hoher Erwartungsdruck, Entgrenzung der Arbeitszeit, mangelnder technischer Support aber auch mangelnde eigene digitale Kompetenz, höhere Verfügbarkeit, rechtliche Unsicherheit (Datenschutz, Urheberrecht), Umorganisation von Arbeitsroutinen. Zahlreiche zusätzliche Faktoren kommen hinzu: das mangelnde Bewusstsein des gesellschaftlichen Stellenwertes musikalischer Bildung, die Diskrepanz zwischen proklamierter Bildungseinrichtung mit Bildungsauftrag (Bildung = Pflichtleistung -> Länderebene) und faktischer Behandlung als kultureller Freizeiteinrichtung mit Dienstleistungscharakter (Kultur = freiwillige Leistung auf kommunaler Ebene), die zu chronischer Unterfinanzierung von Musikschulen führt. Überdies belasten Sorgen um die Zukunft des Berufsstandes und Fachkräftemangel, unbefriedigende Vergütungssituation (prekäre Honorarbeschäftigung, falsche Eingruppierung im Anstellungsverhältnis) sowie unzureichende öffentliche Wahrnehmung und Wertschätzung.
Besonderheit Kooperationen
In den Interviews kristallisierte sich als ein weiterer wichtiger Faktor die Unterrichtstätigkeit in Kooperationen mit allgemeinbildenden Schulen heraus. Hier besteht ein großer Widerspruch zwischen den schriftlichen Vereinbarungen und der gelebten Praxis. Die Musikschullehrkraft wird nicht als gleichberechtigter Partner, sondern als nachgeordneter Dienstleister erlebt. Informationsdefizite bei Abweichungen vom regulären Schulalltag sowie die Doppelbelastung Musikschule – Schule erschweren die Arbeit. Chancen und Synergien blieben ungenutzt. Viele fühlten sich am Standort isoliert. Die Alleinverantwortung etwa für Kindergruppen belaste zusätzlich. Häufig wird die Schlüsselverantwortung auf die Musikschullehrkraft übertragen. Darüber hinaus erschwerten zum einen die Vielzahl der Unterrichtsorte, aber auch für Musikschulunterricht ungeeignete Räume das kreative Schaffen.
Das Werkzeug
Als Ergebnis der Studie folgte die Entwicklung angepasster Fragebogen-Items für eine quantitative Befragung für jeden Merkmalsbereich von Musikschularbeit. Die Idee ist, dass jede Musikschule einen auf die jeweiligen Gegebenheiten (Größe, Struktur, Lage in der Stadt oder im ländlichen Raum usw.) angepassten Fragebogen zusammenstellen kann. Zu jedem Merkmalsbereich soll es Pflicht- und Wahl-Items geben, die allerdings noch definiert werden müssen.
Sollte ein Fragebogen eher ein Werkzeug zur Bestandsaufnahme (z. B. für politische Aufklärungsarbeit) oder ein Interventionswerkzeug (im Rahmen betrieblichen Gesundheitsmanagements) sein?
Knapp 75 Prozent der befragten Teilnehmer entschieden diese Frage im Rahmen des Themenforums während des Musikschulkongresses im Mai 2025 zugunsten der zweitgenannten Funktion. Hierbei muss allerdings angemerkt werden, dass sinnvollerweise maximal fünf Aspekte gleichzeitig angegangen werden können.
Forschung als beständiger Prozess
Der Standardisierungsprozess steht noch aus und wird in Zusammenarbeit mit einem Team angestrebt, das sich aus Experten zusammensetzt, die zum Teil aus der Praxis und zum Teil aus medizinischen, arbeitspsychologischen und arbeitsschutzrechtlichen Kontexten kommen.
Wer Anmerkungen zu dem Thema oder Interesse hat, sich in die Forschungsarbeit einzubringen, Teil des Expertenteams werden möchte oder sich als Fragebogen-„Pre-Tester“ zur Verfügung stellt, kann sehr gerne an mangoldsaechsischer-musikrat.de (mangold[at]saechsischer-musikrat[dot]de) schreiben.
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