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Eine Frau im mittleren Alter gibt einer jungen frau Klavierunterricht.

Notgedrungen nur noch am heimischen Flügel: Klavierunterricht bei Kathleen Dinius (r.). Foto: privat

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Luftnot vor geöffnetem Fenster

Untertitel
Berliner Umgang mit dem Herrenberg-Urteil schafft vor allem Verlierer – ein Beispiel
Vorspann / Teaser

Abgewürgt von jetzt auf gleich. Das erlebten in den vergangenen Monaten Berliner Musikschullehrer:innen, die eine vertragliche Zusatzvereinbarung nicht akzeptierten. Die hauptstädtischen Bezirksämter hatten von den zahlreichen auf Honorarbasis tätigen Lehrer:innen Zustimmung zu der Übergangsregelung gefordert, die ihre fingierte Selbstständigkeit verlängert. Nicht alle unterschrieben. Kathleen Dinius ist eine von ihnen. 32 Wochenstunden unterrichtete die Klavierpädagogin bis dahin an der Musikschule Berlin-Pankow. Zu Ende September wurden ihr sämtliche Einzelaufträge gekündigt.

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ver.di: Sie waren jahrzehntelang an der Pankower Musikschule tätig und haben viel Erfahrung im Beruf …

Kathleen Dinius: Stimmt. Im April 1993 begann ich als Schwangerschaftsvertretung an der Musikschule Pankow, Standort Prenzlauer Berg, und war dafür fest angestellt. Als die Vertretung auslief, habe ich auf Honorarbasis weitergemacht. Das geschah quasi eins zu eins: Ich behielt meine Schüler:innen, nur war ich eben von einem Tag auf den anderen nicht mehr angestellt. Anfänglich habe ich mir darüber noch nicht so viele Gedanken gemacht. Ich hatte dann selbst ein kleines Kind, alles lief ja weiter. Über den Riesenunterschied zwischen einer Honorarkraft und Festangestellten bei Bezahlung und der sozialen Absicherung war ich mir gar nicht so bewusst. Das kam erst nach und nach. Inzwischen weiß ich, dass ich als angestellte Lehrkraft in meiner Erfahrungsstufe rund 1.500 Euro brutto mehr bekäme. Jeden Monat. Für die gleiche Arbeit.

ver.di: Trotzdem haben Sie nicht nur unterrichtet, sondern auch Aufgaben im Interesse der gesamten Schule übernommen …

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Dinius: Geraume Zeit habe ich als Instrumentenverantwortliche die Klaviere am Standort Prenzlauer Berg betreut. Ich verwaltete ein bestimmtes Jahresbudget, beauftragte damit die Stimmungen und kleinere Reparaturen. Für den Arbeitsaufwand bekam ich eine Abminderungsstunde.

ver.di: Der Musikschulstandort Prenzlauer Berg verdankt Ihnen auch die Praxis „Kollegialer Fallberatung“?

Dinius: Ja, das ist etwas sehr Interessantes, ein strukturiertes Beratungsgespräch unter Kolleg:innen zu verschiedenen beruflichen Themen. Jemand bringt dazu einen „Fall“ ein. Das kann ein fachliches Problem sein, aber auch zwischenmenschliche Fragen im Kollegium, das Verhältnis zu Schülereltern oder Kommunikationsfragen betreffen. Mit einer Kollegin gemeinsam habe ich dazu 2017 eine Weiterbildung an der Landesmusikakademie absolviert und konnte dann an unserer Schule viermal jährlich solche kollektiven Beratungen organisieren. Anfänglich haben wir sie meist auch moderiert. Das Angebot ist sehr niedrigschwellig, folgt aber klaren Regeln. Ziel ist nicht die eine Lösung für ein Problem, sondern es geht darum, die reichlich vorhandenen Erfahrungen des Kollegiums zu nutzen. An Musikschulen gibt es ja keine Supervision. Unsere Leitung war gegenüber der Fallberatung sehr aufgeschlossen. Es ist ein Angebot auf Augenhöhe. Wir fanden in dem Format oft erstaunlich praktikable Lösungen, selbst unter Corona-Bedingungen. Es war wirkungsvoll und auch sehr teambildend.

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ver.di: Solche Fallberatungen haben Sie laufend organisiert?

Dinius: Ja. Die letzten gab es im März und Mai 2025.

ver.di: Um Ihren beruflichen Weg der vergangenen Monate nachzuvollziehen, ist Ihr Antrag zur Statusfeststellung bei der Deutschen Rentenversicherung ein wichtiger Punkt. Warum haben Sie ihn gestellt?

Dinius: Auslöser war ganz klar das Herrenberg-Urteil. Zwar hatte ich schon öfter über einen solchen Antrag nachgedacht, lange wurden aber die Erfolgsaussichten – auch von ver.di – eher gering eingeschätzt. Nach dem Herrenberg-Urteil war die Lage dann eine andere. Es gab zusätzliche gewerkschaftliche Informationen und Beratung, was so eine Statusfeststellung bewirkt. Da sah ich auch für mich ein Fenster geöffnet, aus der Altersarmutsfalle noch etwas herauszukommen. Ich hätte mich dazu gern mit anderen Honorar-Kolleg:innen an der Schule verständigt, leider wurden nur wenige aktiv. Zwei, drei haben sich doch entschlossen. Den Antrag muss freilich jeder für sich stellen. Das habe ich dann im Sommer 2024 getan.

ver.di: Der Bescheid fiel erwartungsgemäß aus?

Dinius: Ja, den Bescheid, dass ich seit 32 Jahren im sozialrechtlichen Sinne eine abhängige Beschäftigung ausübe, erhielt ich im März 2025. Er wurde aber nicht umgesetzt. Das Bezirksamt hat Widerspruch eingelegt. Offenbar ist das in ganz Berlin übliche Praxis und Politik des Senats, jeder positiven Statusfeststellung zu widersprechen. Und zwar ohne Begründung. Die nachzufordern, kostet die Rentenversicherung dann zusätzlich Zeit. Die Strategie dahinter ist wohl, alle diese Fälle möglichst weit in die Länge zu ziehen. Ich selbst habe bisher noch keine Mitteilung, ob inzwischen eine Begründung vorliegt. Ich kann also leider nur warten …

ver.di: Als Ihr Bescheid kam, war die sogenannte „Übergangsregelung für Lehrtätigkeiten“ schon in der Welt, die den Musikschulträgern Rechtssicherheit und zeitlichen Aufschub für eine Festanstellung schafft – vorausgesetzt, die Lehrkraft stimmt zu …

Dinius: Die Übergangsregelung war ganz frisch. Zuvor gab es von Seiten des Berliner Senats ja vielfach Versicherungen, dass Festanstellungen im Prinzip gewünscht seien. Aber praktisch wurde und wird eher alles getan, Anstellungen von Musikschullehrern und damit verbundene Nachzahlungen möglichst zu verhindern. Es sei kein Geld da, hieß es gebetsmühlenartig. Das Herrenberg-Urteil beträfe nur einen Einzelfall. Aber ich hatte doch inzwischen Schwarz auf Weiß, dass ich – genau wie die Kollegin aus Herrenberg – als abhängig beschäftigte Musiklehrerin anzusehen bin. 

ver.di: Die Zustimmung zur Übergangsregelung wurde auch von Ihnen verlangt. Sie haben aber nicht unterschrieben. Warum?

Dinius: Mit meiner Unterschrift hätte ich akzeptiert, dass ich zuvor Honorarkraft war und das – nach jetziger Lesart – zumindest bis Ende 2026 weiter bleiben würde. Ich habe meinen Status ja aber feststellen lassen, weil ich eben nicht mit der Einstufung als Selbstständige einverstanden bin. Ich hätte mir also selbst widersprochen. Außerdem: Mit meiner Zustimmung zu der Vertragsergänzung sollte ich auf eventuelle rückwirkende und zukünftige Ansprüche verzichten, die sich aus dem Bescheid der Rentenversicherung ergeben würden – etwa Rückzahlungen von der Künstlersozialkasse. Auch dazu wollte ich mich nicht zwingen lassen.

ver.di: Sie fühlten sich genötigt?

Dinius: Ja, das war so. Wie ganz viele meiner Kolleg:innen hier in Berlin. Ich bin gut vernetzt und weiß von vielen, dass sie das Vorgehen von Politik und Ämtern nicht gutheißen und sich erpresst fühlen. Aber entweder trauen sie sich nicht, das Risiko zu tragen, wollen nicht anecken oder sie können sich das wirklich existenziell nicht leisten – haben Familie, kleine Kinder, sind alleinerziehend.

Ich hatte schon zuvor für mich beschlossen, dass ich unter den bisherigen Bedingungen als Honorar-Lehrerin nicht mehr weiterarbeiten will. Ich möchte meine Arbeitskraft so billig nicht mehr verkaufen.

ver.di: In der Konsequenz bedeutete das die Kündigung …

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Eine Abschiedskarte mit ungeübter Jugendschrift.

Abschiedsgrüße. Foto: privat

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Dinius: Damit musste ich rechnen. In Pankow wurde darüber relativ spät entschieden, deshalb habe ich im September noch unterrichtet. In anderen Berliner Bezirken war schon vor dem Sommer klar, dass alle, die nicht unterschreiben, Kündigungen bekommen. Die Musikschulleiterin, mit der ich immer gut zusammengearbeitet habe, riet mir, die Statusfeststellung ruhen zu lassen. Die Bezirksbürgermeisterin, die letztlich über meine Kündigung entschieden hat, bot ein Gespräch an. Wozu? Ich versprach mir nichts mehr davon, ich wollte keine Kompromisse mehr.

ver.di: Und wie ging es Ihnen, nachdem das definitive Aus kam?

Dinius: Es war heftig und sehr schwierig. Am traurigsten war die Verabschiedung von meinen knapp 30 Schülern. Schüler:innen und Eltern haben ihr Bedauern vielfach zum Ausdruck gebracht. Da sind auch Tränen geflossen. Ohne Not wurden enge, teilweise langjährige Bindungen zerstört. Das trifft auch die Kinder hart. Alle mussten kurzfristig entscheiden: Lehrerwechsel beantragen? Ganz aufhören? Weiter privat bei mir Unterricht nehmen, obwohl ich weiter weg wohne? Ich hoffe, dass die Schüler:innen, die an der Musikschule bleiben, in gute Hände kommen. Für mich selbst ist viel verloren, da lässt sich auch nichts zurückholen.

ver.di: Man kann bei Ihnen zu Hause weitermachen?

Dinius: Privatunterricht, ja. Obwohl es etwas ist, das ich nie machen wollte, weil ich die Institution Musikschule sehr schätze. Der Austausch mit den Kollegen, das soziale Gefüge fehlen in meinem Leben schon jetzt. Und: An Musikschulen können auch Eltern mit wenig Geld ihren Kindern musikalische Bildung und Musikmachen ermöglichen. Ich allein kann das nicht anbieten. Trotzdem kommt eine reichliche Handvoll bisheriger Schüler:innen jetzt zu mir nach Hause. 

ver.di: Das wird für eine Vollbeschäftigung nicht reichen. Wie sieht die Zukunft aus?

Dinius: Sie ist ungewiss. Ich habe keinen Plan B in der Tasche, aber noch einige Jahre bis zur Rente. Sich nochmals neu zu orientieren, ist mit 58 schon eine Herausforderung. Aber ich nehme sie an. Und meine Familie steht hinter mir, das kann ich sagen. Ich bin einerseits ziemlich offen für alles, würde auch in einer Bäckerei Brötchen verkaufen oder mir ein anderes Teilzeit-Standbein schaffen. Am kommenden Wochenende besuche ich eine Jobmesse für Bildungsangebote. Die Situation zwingt mich, auch etwas innezuhalten und darüber nachzudenken, wohin ich künftig möchte, ob 32 Stunden in der Woche nicht sogar ein bisschen zu viel waren.

ver.di: Und andererseits?

Dinius: Ich spiele seit meinem 4. Lebensjahr Klavier. Ich habe eine lange, teure und qualifizierte Ausbildung erhalten, besitze einen Abschluss als Diplommusikpädagogin und viel Berufserfahrung. Solche Ressourcen sollten ja nicht völlig brachliegen. Ich möchte schon gerne weiter unterrichten.

ver.di: Auch deshalb haben Sie gegen die Kündigung geklagt?

Dinius: Ja, Ende September habe ich Klage gegen die Kündigung eingereicht. Ich möchte, dass sie vom Arbeitsgericht für unwirksam erklärt wird und dass mein sogenannter Honorarvertrag als Arbeitsvertrag anerkannt wird. Ich weiß, das wird schwierig. Im Juli wurde in Berlin eine ähnliche Klage in erster Instanz abgewiesen. Aber ich bin fest entschlossen, den Rechtsstreit durchzustehen, solange meine finanziellen Rücklagen dafür reichen.

ver.di: Sie klingen nicht hoffnungslos … 

Dinius: Nein, bin ich nicht. Aber ich finde nicht richtig, wie mit mir und dem Problem der fälligen Festanstellungen speziell in Berlin umgegangen wird. Ich kann es ja offen sagen: Momentan habe ich nach drei Jahrzehnten qualifizierter Vollzeit-Tätigkeit in prekärer Beschäftigung im öffentlichen Dienst eine Rentenerwartung von 850 Euro. Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Für mich ist das Motivation genug, etwas zu tun. – Und von mir persönlich abgesehen, kann man es auch so sehen: Der Staat schafft seine eigenen Armen. In anderen Bundesländern, in anderen Großstädten wird das zum Glück etwas anders gesehen und mehr Honorarkräfte werden angestellt. In Berlin drohen diejenigen zu dominieren, die das Herrenberg-Fenster möglichst ganz wieder schließen wollen. 

ver.di: Das ist auch ein Appell an die Gewerkschaft?

Dinius: Ich sehe für ver.di und generell das Problem, dass die mehr als berechtigte Forderung nach mehr Festanstellung von einer recht kleinen Menge von Betroffenen vorangetrieben werden muss. Wenn auf Demonstrationen ein überschaubares Häuflein mit seinen Instrumenten möglichst laut auf sich aufmerksam macht, bewegt das die Politik und die Öffentlichkeit zu wenig. Die Gewerkschaften müssen noch mehr Druck erzeugen und Informationen möglichst breit streuen. Ich weiß: Die allermeisten meiner Kolleg:innen mit Honorarstatus wollen eine Festanstellung. Aber ohne mehr eigenes Engagement wird sie wohl nicht kommen.

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