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Vertane Chancen nach der Wende

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Musikschulen in Berlin nach 1945, Teil 2 · Von Isabel Herzfeld
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Die vom Landesverband Berlin im Verband deutscher Musikschulen (VdM) 1994 herausgegebene und vom Berliner Jugend- und Familiensenator Thomas Krüger befürwortete Broschüre „Musikschule für die Zukunft“ betonte deren „hohe gesellschaftliche Bedeutung sowohl für das kulturelle Leben als auch für soziale Identität und Zusammenleben der Menschen in dieser Stadt“, bescheinigte ihr die Herausbildung von „Schlüsselqualifikationen für die Zukunft unserer Gesellschaft“, falls es im Unterricht gelinge, „Kreativität, Flexibilität und das ganzheitliche Herangehen an die Probleme zu fördern“, forderte ihre Offenheit für Schüler unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft, für alle Altersstufen und Unterrichtsformen. Die Musikschulen sollten in Gruppen- und Einzelunterricht, Workshops und Projektarbeit die musikalische Vielfalt gewährleisten, verstärkt Träger von Kinder- und Jugendkulturarbeit sein und die Integration von Behinderten vorantreiben. In Anbetracht der Kosten solcher Vorhaben wies der Senator darauf hin, „dass es gerade in Zeiten drastischer Sparmaßnahmen der Öffentlichen Hand wichtig ist, zukunftsorientiert zu denken und zu handeln.“ Da war dann auch die Forderung des VdM nicht unbillig, 80 Prozent der Monatswochenstunden von festangestellten, die restlichen 20 Prozent von freien Mitarbeitern erteilen zu lassen, und die gesamten Kosten nach der „Drittelfinanzierung“ (je ein Drittel von Land, Kommunen und Schülern/ Eltern aufzubringen.11 Angesichts der leeren Kassen war das nicht zu erreichen, jedoch wurde im Abgeordnetenhaus von Berlin zunächst ein „kostenneutraler“ Beschluss zum Strukturausgleich zwischen West und Ost gefasst: Demnach sollten im Ostteil frei werdende Stellen in den Westteil verlagert werden, die entsprechenden Honorarmittel von West nach Ost zurückfließen, um für eine Ausweitung der zu geringen Kapazität und des Angebots zu sorgen. Das funktionierte leidlich, bis 1996/97 die „Globalhaushalte“ eingesetzt wurden: da die Bezirke nun die ihnen zugestandenen Gelder nach Gutdünken für ihre verschiedenen Aufgaben verwenden konnten, hütete jeder egoistisch sein Budget; die Honorare wurden so einfach eingespart, die Stellen gestrichen. Sonderfall Pankow Doch bis dahin waren tatsächlich geringfügige Verbesserungen zu erreichen. Als Beispiel einer gelungenen Ost-West-Integration kann die Musikschule Pankow gelten. Sie ist insofern ein Sonderfall, als sie kurz vor der Wende mit der Bezirksmusikschule Berlin zusammengelegt worden war und mit diesem frischgebackenen Status plötzlich das Etikett einer roten Kaderschmiede erhielt. Die schon eingeleitete Abwicklung wurde in letzter Minute verhindert; Musikschulleiter Dieter Pohl konnte zielstrebig die Ausweitung angehen. Die Schülerzahl wuchs rasch von 410 bei der Übernahme 1991 auf 1.500, was angesichts saftiger Gebührenerhöhungen, welche ihrerseits die langen Wartelisten ausdünnen sollten, umso bemerkenswerter ist. Nachdem der Druck, alles auf eine Studienvorbereitung ausrichten zu müssen, weggefallen war, drückte sich die neue Lust am Zusammenspiel in einer Fülle neuer Ensembles aus, vom Sinfonieorchester bis zur Pop-Band. Gleichzeitig behielt Pohl gewisse frühere Strukturelemente bei, die Einteilung in Unter-, Mittel- und Oberstufe etwa, für deren Abschluss die Schüler jeweils Leistungsnachweise erbringen können. Gerade die Jüngeren sollen geradezu danach verlangen. Das Privileg eines eigenen, großzügig ausgestatteten Hauses erlaubt Pankow den Aufbau eines kommunikationsfreudigen, aktiven Kollegiums, in das auch die freien Mitarbeiter eingebunden sind – welches momentan allerdings aufgrund der jüngsten Bestimmungen zur Scheinselbständigkeit vor neue Probleme gestellt wird. Der drohenden Inzucht selbstgenügsamer Klassen beugt ein spezielles Vorspielsystem vor: hier können sich bei Fachvorspielen Schüler eines Fachbereichs zum Austausch treffen, sich auch dem Urteil anderer Kollegen als nur dem des eigenen Lehrers stellen, was sich in gemischten Vorspielen wiederum fächerübergreifend abspielt. Regelmäßige größere Projekte, etwa fast alle Gruppen einbindende Weihnachtskonzerte, runden diese mehrdimensionale Arbeit ab.12 „Musikschule der Zukunft“ könnte, trotz aller Mängel, daran ansetzen. Doch ein düsteres Szenario bedroht die bescheidenen Errungenschaften. Im Zuge der Bezirksreform, welche die jetzigen 23 Bezirke zu zwölf zusammenschmelzen wird, sollen auch die ungeliebten, ihrem Anspruch nach so kostenintensiven und in ihrer Wirkung so unspektakulären Basisinstitute verringert werden. Schlankheitswahn Letzter Coup des Abgeordnetenhauses auf dem Weg zu einer „schlanken Verwaltung“ soll sein, die Musikschulen gemeinsam mit Volkshochschulen, Kunstamt und sonstigen kommunalen Kultureinrichtungen in einem sogenannten LUV („Leistungs- und Verantwortungszentrum“) zusammenzufassen.13 Das bedeutet zunächst einmal riesige Gebilde, mit mehr als 5.000 Wochenstunden, für die es jedoch keine spezielle Leitung mehr geben wird. Zu befürchten ist ein LUV-Leiter, „wie der Obergeschäftsführer einer Firma“14, der eine bloße Verwaltungskraft sein wird. Frei werdende Leitungspositionen der einzelnen Einrichtungen braucht man dann nicht mehr zu besetzen: So wird bereits jetzt schon die Volkshochschule Neukölln nach Ausscheiden des Direktors von einem hauptamtlichen pädagogischen Mitarbeiter kommissarisch geleitet. Im jüngsten „Ressourcenpapier“ des Senats werden als Mindeststandard für Musikschulen 6,5 Planstellen festgeschrieben – man stelle sich zwei Leitungspersonen vor und 4,5 Fachbereichsleiter, die dann vielleicht für 1.000 Personen zuständig sein werden, nach den geltenden Richtlinien aber immer noch Lehrkräfte mit geringen Abminderungen am Unterricht sind. Wie in ihren prekären Anfängen nach dem Krieg in Westberlin dürfte die Musikschule so wieder zum bloßen Vermittlungsinstitut herabsinken, das die attraktiven „Ergänzungsfächer“ entweder einsparen müsste oder nur noch zu horrenden Gebührensteigerungen anbieten könnte. Da stehen die Privatinstitute schon in den Startlöchern. Einen Vorgeschmack auf diese Situation gibt vielleicht die Musikschule Reinickendorf, wo nach dem Ausscheiden des früheren Leiters Gert Sell der Kulturamtsleiter gleichzeitig Musikschulleiter wurde und daraufhin chaotische Zustände ausbrachen. Der Geigenlehrerin Agnes Stein von Kamienski, welche dieses zu kritisieren wagte, wurde nach 16-jähriger Tätigkeit mit zweiwöchiger Frist gekündigt.15 Ob bei so delikater Personalunion die angekündigte Prüfung auf Berechtigung ihrer Vorwürfe durch das Bezirksamt wirklich objektiv ausfallen wird, bleibt abzuwarten. Ein bedrückendes, nicht hinzunehmendes Signal jedenfalls in der Geschichte der Berliner Musikschule vom einstigen Vorkämpfer einer progressiven Jugendmusikbewegung zum Schlusslicht der Entwicklung in der gesamten Bundesrepublik. Isabel Herzfeld (Teil 1 des Textes in nmz 10/99, S. 24) Anmerkungen 1 Völkische Musikzeitung, 5. Jg. 1939, Heft 3, S. 136 ff. 2 3 Jahre Volksmusikschule, Berlin-Neukölln 1949, S. 7 ff. 3 Musikschule Neukölln, Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum, Berlin-Neukölln 1977, S.18 f. 4 A.a.O. 5 neue musikzeitung, 20. Jg., Nr. 2, April/Mai 1971, S. 23 6 Dieter Wucher, Kinder finden im Spiel zur Musik, Archiv des VdM, 1974 7 neue musikzeitung, 19. Jg., Nr. 2 April/Mai 1970, S. 23 8 Neue Berlinische Musikzeitung, 9. Jg, Heft 1/1994, S. 19 9 A.a.O., S. 22 10 Gespräch mit Hans-Ludwig Wollong, ehemaliger Musikinspektor und Leiter der Bezirksmusikschule Berlin-Pankow, 1.8.1999 11 Neue Berlinische Musikzeitung, 9. Jg.,Heft 1/1994, S. 29 12 Gespräch mit Dieter Pohl, Leiter der Musikschule Pankow, 13.7.1999 13 Sprachrohr, Zeitung der IG Medien Berlin-Brandenburg, 9. Jg., Nr. 2. April 1999, S. 12 14 Klaus-Jürgen Weber, Leiter der Musikschule Neukölln, im Gespräch am 12.7.1999 15 Sprachrohr, Zeitung der IG Medien Berlin-Brandenburg, 9. Jg., Nr. 3, Juni 1999, S. 5
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