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Vom Schrittmacher zum Schlusslicht

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Musikschulen in Berlin nach 1945 · Von Isabel Herzfeld
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ls folgte die Geschichte dem Gang der Ideen, so erscheint die historische Entwicklung des deutschen Musikschulwesens wie eine Entfaltung seiner eigenen grundlegenden Widersprüche. Seine „Erfinder“ –, Fritz Jöde, spiritus rector der Jugendmusikbewegung, und Leo Kestenberg, Musikreferent im preußischen Kulturministerium, – waren in der Weimarer Republik zur Quadratur des Kreises angetreten: es ging um nichts weniger als die Versöhnung von Musik und Gesellschaft, von „hoher“ und „niedriger“ Kunst, von aktivem Künstler und passivem Hörer, entwickelter Technik und spontanem Musizieren, Individuum und Gemeinschaft, Arm und Reich, Jung und Alt. Das hieß Öffnung für alle Schichten und zugleich Anstreben eines hohen künstlerischen Niveaus. Zwischen diesen beiden Polen hatte die Musikschule immer wieder hart um die Realisierung ihrer Ziele zu kämpfen – heute mehr denn je. In den 70er-Jahren als Ergänzung der allgemeinbildenden Schule und unerlässliche Basis der Berufsqualifikation hoch gelobt, rangiert sie heute am untersten Ende der kulturellen Skala, Manövriermasse des wirtschaftlich-politischen Vermögens. In Berlin, der nur noch mit ihren „Leuchttürmen“ (pro Tenor ein Opernhaus!) beschäftigten Hauptstadt, zeigt sich das besonders krass, von Erblasten und Versäumnissen der Nachkriegs- und Wendezeit gezeichnet. Spaltungen im Kalten Krieg Zur Stunde Null gab es erst einmal gar nichts. Wie überall hatten die Nazis auch hier gründlich aufgeräumt, die Musikschulen ihren eigenen Organisationen einverleibt und überdies verfügt, dass „besonders veranlagte und fortgeschrittene“ Schüler nach ein- bis zweijährigem Gruppenunterricht an die Konservatorien oder in den privaten Einzelunterricht überzugehen hätten.1 In Berlin hatte es davor zwei Institute gegeben (von insgesamt fünf im Deutschen Reich), die 1923 von Fritz Jöde gegründete „Musikschule Nord“ in Charlottenburg und die „Musikschule Süd“ in Neukölln, die der dortige Stadtrat für Volksbildung Kurt Löwenstein drei Jahre später ins Leben rief. Hier entstanden in zunächst locker gefügten Spielkreisen exemplarische Grundlagen für kreatives, von keinerlei „Podiumsehrgeiz“ beeinträchtigtes Laien-Musizieren, sorgten Lehrkräfte wie Paul Hindemith (in Charlottenburg Hanns Eisler) für Offenheit gegenüber der Moderne.2 Schon damals wurde eine Verbindung zur VHS Groß-Berlin angestrebt, im Bemühen um die Vielseitigkeit der Volksbildung: „Das Volksbildungsamt wird und kann sich natürlich nicht auf die musikalischen Veranstaltungen beschränken. Erfreulicherweise sind auf dem Gebiet des zeichnerischen, malerischen und des Schriftausdrucks eine Reihe von Arbeitsgemeinschaften bereits vorhanden, die die Zusammenarbeit mit dem Volksbildungsamt suchen und vielleicht später zu einer ähnlichen Volkspflegeschule für das Gebiet des Visuellen und Manuellen sich auswachsen können. Auch die Volkshochschule und die Stadtbücherei werden mit ihrer Winterarbeit enger als bisher miteinander verknüpft werden.“3 1945 wurden in allen 20 Berliner Bezirken Bezirks-Volkshochschulen neu gegründet, 1946 Musikschulen als einer ihrer Bestandteile schrittweise eingerichtet, „zusammengefaßt... in einer überschaubaren, bürgernahen und kommunalen Bildungseinrichtung“.4 Für den Westteil sollte sich das bald als verhängnisvoll erweisen: durch die „Käseglockensituation“ ergab sich die einmalige Möglichkeit, die Lehrkräfte als spottbillige Honorarempfänger einzusetzen. Das Geld wurde vom Schüler direkt an den Lehrer gezahlt, eventuelle Ermäßigungen als Zuschüsse vom Senat direkt ausgeglichen. Neue Konkurrenz Die Musikschulen fungierten – trotz engagierter, auch inhaltlich anspruchsvoller Aufbauarbeit – als bloßes Vermittlungsinstitut von Schülern und Unterrichtsräumen, eine Art „kulturelles Sozialamt“, so Klaus-Jürgen Weber, derzeitiger Leiter der Neuköllner Einrichtung. VHS und Musikschule gerieten bald in Konflikt: das semesterweise neu anlaufende VHS-Kurssystem widersprach dem Bedarf des Musikunterrichts an langfristiger, kontinuierlicher Arbeit; in der VHS steht Erwachsenenbildung, im Musikunterricht Arbeit mit Jugendlichen im Vordergrund, und über allem thronte ein finanz- und weisungsmächtiger Direktor, der je nach Interesse den einen oder anderen Bereich fördern konnte. Bereits 1971 forderte der Musikschulkongress des VdM die Herauslösung der Musikschulen aus der VHS als eigenständige städtische Einrichtung, Auszahlung der Vergütung durch die Stadt mit entsprechender Überweisung der Schüler an die Stadtkasse, eine angemessene Anzahl von Planstellen für den Aufbau eines Stamms von hauptamtlichen Lehrkräften, Vollanstellung und entsprechende Einstufung der Musikschulleiter.5 Doch dies wurde erst 1978 ansatzweise erreicht, mit einem äußerst bescheidenen, im einstelligen Bereich schwankenden Prozentsatz an festen Stellen. Anfang der 80er-Jahre kam es dann nach einem Musterprozess des GdMK zu neuen Dienstverträgen, die den Lehrern den Status einer „arbeitnehmerähnlichen Person“ gewährten – durch die Künstlersozialkasse war nun eine gewisse Absicherung im Krankheits- und Rentenfall möglich, ebenso tariflich geregelter Urlaubsanspruch und eine Art 13. Monatsgehalt. All das wurde aus den Honorarmitteln abgezweigt, selbstverständlich nicht ohne Gebührenerhöhung. Trotz dieser Misere hatten die Musikschulen im Westteil durchaus überzeugende Leistungen vorzuweisen. Ihre Akzeptanz lässt sich an ihrem Wachstum ablesen: So stieg von 1972 bis 1982 die Lehrerzahl beispielsweise in Neukölln um zirka 75 Prozent, die Schülerzahl wuchs von 1.200 auf 4.500 bis 5.000. Das war auch zehn Jahre später kaum anders: Steglitz etwa brachte es bei 4.357 Schülern auf 224 Lehrkräfte, in Schönberg kamen 140 Lehrer auf 3.250 Schüler, in Charlottenburg 173 auf 3.259. Das Angebot hatte sich ebenfalls enorm erweitert; Neukölln versuchte durch die Einbeziehung von „Weltmusik“ seiner multikulturellen Einwohnerschaft Rechnung zu tragen und hatte überdies das erste Musical-Studio, bevor ein entsprechender Studiengang an den Hochschulen eingerichtet wurde, in Kreuzberg erblühte der Jazz, Charlottenburg glänzte mit historischen Tänzen, Ensembles schossen in den buntesten Kombinationen aus dem Boden, überall entwickelte sich die musikalische Grundausbildung mit so wichtigen Inhalten wie Hörerziehung, Improvisation, Beschäftigung mit Alter und zeitgenössischer Musik,6 und ab etwa 1975 wurden auch noch die Aufgaben der studienvorbereitenden Ausbildung übernommen. Alles in allem eine Bereitstellung umfassender Möglichkeiten für kulturelle Selbstbestätigung, unverzichtbar in der wachsenden „Freizeitgesellschaft“, deren Träume vom „eigentlichen Leben“ sich zunehmend in die Scheinwelten des Fernsehens, der Computerspiele und Kaufhaustempel verflüchtigen. Dennoch hatte man sich durch die Priorität des Einzelunterrichts – alle Gruppenaktivitäten laufen unter dem Etikett „Ergänzungsfächer“ – vom Kestenberg’schen Gemeinschaftsgedanken entfernt. Geblieben war der freie, nicht-elitäre Zugang ohne die Barriere eines Aufnahmetests oder sonstiger „Begabtenauslese“.7 Im Ostteil – vom „realsozialistischen“ Regime als „Hauptstadt der DDR“ apostrophiert – brachte die Systemkonkurrenz eine ähnliche Entwicklung mit quasi umgekehrten Vorzeichen hervor. Der Ausgangspunkt war noch der gleiche: laut Beschluss des Magistrats von Groß-Berlin, das Statut der Berliner Volkshochschule vom 24. August 1946 mit dem hohen Ziel der Heranbildung „von aktiven Menschen fortschrittlicher, demokratischer Gesinnung mit gründlichen Kenntnissen auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens, selbständigem Denken und eigener Urteilsfähigkeit und hohem Verantwortungsbewußtsein gegenüber der Gesellschaft.“8 Ziele der Volksmusikschule Der kulturelle Neubeginn wurde als „nationales Aufbauwerk“ von den schon in der Emigration gefassten Beschlüssen der Kulturkommission der KPD gestützt. Die Volksmusikschulen im sowjetischen Sektor waren zunächst das Gruppenmusizieren fördernde Einrichtungen mit sehr individuellen Schwerpunkten. Volksinstrumente wie Akkordeon, Bandoneon, Laute, Mandoline standen im Vordergrund. Dies wurde auch nach der Staatsgründung zunächst beibehalten: „Die Volksmusikschulen sind Ausbildungsstätten für die breiten Schichten der Bevölkerung. Sie wollen mit allen musizieren und singen und Freunde der Musik zu Musiziergemeinschaften zusammenführen. Das Ziel der Volksmusikschule ist die Ausbildung der Laienspieler, nicht aber die Ausbildung von Solisten. Das schließt jedoch nicht aus, dass die Volksmusikschulen außergewöhnlich Begabte zur Berufsausbildung der Fachgrundschule für Musik, dem Konservatorium oder der Hochschule für Musik überweisen.“ (aus einem Bericht des Magistrats vom 15.3.1955).9 Vereinheitlichungstendenzen waren zu diesem Zeitpunkt lediglich administrativer Natur, betrafen die Besoldungsgrundlagen für Lehrer oder die Stundenzahlen. Erst nach dem Mauerbau 1961 erfolgten tiefgreifende Umstrukturierungen, die alle bisherigen Diskussionen eines pädagogischen Beirats von Lehrern und Direktoren zu neuen inhaltlichen Zielsetzungen und Systematisierungen außer Kraft setzten. 1963 erging eine Anweisung zur Einführung des Einzelunterrichts, zu deren Durchsetzung „Musikinspektoren“ eingesetzt wurden – Fachkräfte zur Beratung von Funktionären und Direktoren, die allerdings durch eigene Lehrtätigkeit der künstlerischen Praxis verbunden blieben. Dabei ging es darum, den Nachwuchs für die 80 Orchester des Landes heranzubilden; die Ausbildung auf den entsprechenden Instrumenten geriet in den Vordergrund, der Unterricht auf Volksinstrumenten dagegen wurde abgebaut, viele Lehrkräfte entlassen. Die Musikschulen delegierten wiederum an die Spezialschulen für Musik, die sich jedoch nur jeweils am Ort der vier DDR-Hochschulen (Weimar, Dresden, Leipzig, Berlin) befanden und ihnen direkt zuarbeiteten. Dafür wurden die Fachgrundschulen und Fachschulen für Musik – den Konservatorien im Westen vergleichbar – aufgelöst, die aus den Orchesterschulen der ehemaligen Residenzen der mitteldeutschen Kleinstaaten hervorgegangen und dezentral verteilt waren. Während die musikalische Grundbildung im Kindergarten und der allgemeinbildenden Schule verkümmerte, wurden die Musikschulen zu kleinen Elite-Instituten mit begrenzten Kapazitäten und streng abgestuftem Ausbildungsplan, in welchem jährliche Prüfungen über den Verbleib eines Schülers entschieden. Höhepunkt dieser ganzen Hierarchisierung war schließlich die Einrichtung von Bezirksmusikschulen („Bezirke“ entsprachen in der DDR den „Ländern“ der alten BRD), welche die Fachberater zusammenfassten, Wettbewerbe organisierten und weitere Zentralisierungen vornahmen. So wurden die Oberstufen zusammengefasst, die Abschlussprüfungen vereinheitlicht und von einer zentralen Kommission abgenommen. Das war dem Leistungsniveau gewiss dienlich, doch von Breitenbildung und der Erfüllung „gesellschaftlicher Bedürfnisse“ konnte keine Rede mehr sein. Deshalb wurden Mitte der 80er-Jahre die sogenannten „Musikunterrichtskabinette“ eingeführt, unabhängig in ihrer Organisation und Zielrichtung, was jedoch zu neuen Problemen führte: Die ausschließlich auf Leistungsförderung geeichten Geigen- oder Klavierlehrer fühlten sich als Pädagogen zweiter Klasse, und Kräfte für die Grundlagenarbeit gab es nicht, waren auch in der Hochschulausbildung nicht vorgesehen. Eine Stagnation war eingetreten, welche es innerhalb des bürokratischen Apparats unmöglich machte, etwa die Auflösung der Fachschulebene als Fehler zu benennen und daraus Konsequenzen zu ziehen – so kamen auch die positiven Aspekte der Musikschularbeit, die immerhin jedem für „begabt“ Gehaltenen ein hohes Niveau zu erreichen ermöglichte, immer weniger zum Tragen.10 1989 Chancen vertan Im Westen konnte jeder Interessierte, gleich welchen Leistungsvermögens, die Musikschule besuchen, allerdings zu Gebührensätzen, die trotz Ermäßigungen und Stipendienregelungen in den letzten Jahren von den unteren sozialen Schichten nicht mehr ohne weiteres aufgebracht werden konnten. Schülerverluste waren die Folge, was Einbußen an Einnahmen und damit an vom Senat zugeteilten Honorarmitteln bedeutete, wiederum weniger Unterrichtsstunden und Lehrerbeschäftigung nach sich zog – ein Teufelskreis. In der DDR setzte das Geld keine Grenzen, bestand soziale, aber keine inhaltliche Offenheit. Der unschätzbare Vorteil der dortigen Einrichtungen lag jedoch in den festen Anstellungsverhältnissen der Musikschullehrer, die sozialrechtlich den Lehrern an allgemeinbildenden Schulen gleichgestellt waren. Darüber hinaus ermöglichte die feste Einbindung in ein Kollegium mit seinem Potenzial an Austausch und Auseinandersetzung die Entwicklung weitreichender pädagogischer Konzepte und künstlerischer Aktivitäten, übrigens ein Zustand, der in den alten Bundesländern schon längst die Regel war. Mit dem Fall der Systemgrenze und der anschließenden „Wiedervereinigung“ winkte endlich die Chance, auch die Vorteile beider Musikschulformen zu vereinigen. Tatsächlich enthielt die Koalitionsvereinbarung der CDU/SPD 1990 die Absichtserklärung, die Strukturen der West-Musikschulen nach Ostberliner Vorbild zu verbessern. Fortsetzung in der neuen musikzeitung, Ausgabe 11/1999. Isabel Herzfeld Anmerkungen 1 Völkische Musikzeitung, 5. Jg. 1939, Heft 3, S. 136 ff. 2 3 Jahre Volksmusikschule, Berlin-Neukölln 1949, S. 7 ff. 3 Musikschule Neukölln, Festschrift zum 50jährigen Jubiläum, Berlin-Neukölln 1977, S.18/19 4 A.a.O. 5 Neue Musikzeitung, 20. Jg., Nr. 2, April/Mai 1971, S. 23 6 Dieter Wucher, Kinder finden im Spiel zur Musik, Archiv des VDM, 1974 7 Neue Musikzeitung, 19. Jg., Nr. 2 April/Mai 1970, S. 23 8 Neue Berlinische Musikzeitung, 9. Jg, 1994, Heft 1, S. 19 9 A.a.O., S. 22 10 Gespräch mit Hans-Ludwig Wollong, ehemaliger Musikinspektor und Leiter der Bezirksmusikschule Berlin- Pankow, 1.8.1999 11 Neue Berlinische Musikzeitung, 9. Jg. 1994, Heft 1, S. 29 12 Gespräch mit Dieter Pohl, Leiter der Musikschule Pankow, 13.7.1999 13 Sprachrohr, Zeitung der IG Medien Berlin-Brandenburg, 9. Jg., Nr. 2. April 1999, S. 12 14 Klaus-Jürgen Weber, Leiter der Musikschule Neukölln, im Gespräch am 12.7.1999 15 Sprachrohr, Zeitung der IG Medien Berlin-Brandenburg, 9. Jg., Nr. 3, 29. Juni 1999, S. 5
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