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 Lullys Tragédie lyrique „Atys“ am Grand Théâtre de Genève. Foto: © GTG / Gregory Batardon
Lullys Tragédie lyrique „Atys“ am Grand Théâtre de Genève. Foto: © GTG / Gregory Batardon
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Am Ende ist der Held ein Baum – Lullys Tragédie lyrique „Atys“ am Grand Théâtre de Genève

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Es hat per se den Reiz des Exklusiven, die französische Oper bis zu des Sonnenkönigs Starkompositeur Jean-Baptiste Lully (1632-1687) auf ihre Bühnentauglichkeit für heute auszuloten. Nun ist Genf nicht Frankreich, aber doch recht französisch. Und Intendant Aviel Cahn ist clever genug, sein quasi royales Opernprojekt „Atys“ als Koproduktion mit der Opéra royal de Versailles gleichsam durch den genius loci sekundieren zu lassen. Das verspricht eine Art Operntraum, der im günstigsten Falle einen silbern schimmernden Abglanz jenes goldenen Zeitalters aufscheinen lässt, in dem der König selbst so gerne eine Sonne tanzte. Um dann der Sonnenkönig zu sein, an dem sich auch Lully zumindest viele Jahre erwärmte.

Freilich muss heute bei der Einrichtung einer Tragédie lyrique Lullys für die Bühne die grundlegende Veränderung von Hör- und Sehgewohnheiten bei der Zuhörerschaft in Rechnung gestellt werden. Eine ausgedehnte Schlummermusik wie im vorliegenden Fall kann für anders geeichte Ohren auch zur realen Gefahr werden. …

„Atys“ wurde 1676 uraufgeführt – Jean Philippe Rameau wurde erst sieben und Georg Friedrich Händel neun Jahre später geboren. Während in Deutschland zumindest Rameau kollegial von Händelrenaissance und davon befördertem Barockboom profitiert, braucht es in Frankreich (bzw. dem französischen Sprachraum) immer noch erhebliche Ambition für das eigene historische Erbe (was erstaunlicherweise analog auch für die Grand Opéra gilt).

In Genf jedenfalls hat man nicht nur diesen Ehrgeiz fürs Besondere, sondern auch ein Händchen für die entsprechenden Protagonisten. Im wieder mit nur freiwillig maskiertem Publikum gut gefüllten Haus ging jetzt Lullys Spektakel „Atys“ über die Bühne. So kurz der Titel, so lang das Stück. Es ist eine dreieinhalb Brutto-Stunden währende, exemplarische Melange aus französischer Wortmelodik, hauteng damit verbundener, aber auch separat erklingender Musik und (der Vorliebe des royalen Auftraggebers entsprechend) ausgedehnter Tanzeinlagen.

„Atys“ ist ein genregemäßer Fünfakter mit Prolog und ausgedehnten Balletteinlagen, der zwar mit einer Huldigung an den König begann, aber erstmalig tragisch für den Titelhelden enden durfte. Musikalisch können sich der barockmusikbewährte Argentinier Leonardo García Alarcón und seine Capella Mediterranea bei ihrem Lully-Engagement durchaus an William Christie und Les Arts Florissantes messen lassen, die einem zuerst einfallen würden, wenn man an eine Auffrischung von über 350 Jahre altem Musiktheater denkt. Das Orchester umschmeichelt die Worte, lässt sich von dem verführerischen Charisma eines Dauerparlandos mit gelegentlichem Aufschäumen leiten, ohne sich darin zu verlieren, atmet mit den Sängern und den Tänzern. In dem Falle auch umgekehrt. Die mustergültig gelungene, spezifisch französische Symbiose von Wort und Musik wird zu einer Wortmusik, die in ihrer Klarheit an Monteverdi erinnert.

Für ein Regieteam ist es eine besondere Herausforderung, heutige Erwartungen an einen durchgängigen, dramaturgisch schlüssigen Handlungsverlauf und eine nachvollziehbare Figurenpsychologie unter den Schichten höfischer Musiktheaterkonvention aufzuspüren und mit einem originellen Zugriff freizulegen.  Anders als bspw. Robert Carsen 2008 in Paris bei Lullys später „Armide“ überschreibt Regisseur und Choreograf Angelin Preljocai die mythische Geschichte nicht mit einer Alltagsgeschichte von heute. Er reduziert sie vielmehr auf den Kern des durchdeklinierten beziehungstechnischen Auf und Ab, das hier verhandelt wird. Durch die Einhegung der Freiheit der Herzen (wie es an einer Stelle kühn formuliert wird) und die Verbindung von Macht und Obsession wird „Atys“ die erste Tragédie lyrique, die tragisch endet.

Mit seinem Libretto greift Phillippe Quinault auf Ovid zurück. Nach dem vorgeschalteten, quasi an den König gerichteten Prolog (auf dessen direkte Adressierung man wie schon früher so auch hier verzichtet) beginnt eine tragische Liebesgeschichte, in der die Göttin Cybèle den Jüngling Atys liebt. Der aber ist in die Nymphe Sangaride verliebt, die wiederum den mit Atys befreundeten König Celænus heiraten soll. Obwohl sie eine Göttin ist, hat Cybèle von Atys’ Neigung zur Nymphe nichts mitbekommen und macht ihn zu ihrem Hohepriester. Die Tragödie nimmt Fahrt auf, als Cybèle Atys ihre Liebe gesteht, der aber bei seiner Herzensentscheidung für Sangaride bleibt. Wovon die wiederum nicht rechtzeitig genug erfährt und so der vorgesehenen Hochzeit mit Celænus zustimmt. Ein auch szenisch ergiebiger Coup ist der dramatische Aufritt, mit dem Atys die Hochzeit platzen lässt. Er behauptet, Cybèle habe die Heirat untersagt und verschwindet mit Sangaride. Ein Triumph der Leidenschaft, der natürlich schnell mit der Wirklichkeit kollidiert. Cybèle rastet aus, ruft die Furie Alecton herbei, die Atys verhext, so dass er im Wahn Sangaride für ein Ungeheuer hält und tötet. Nachdem er wieder zur Vernunft gekommen ist, ersticht er sich selbst, wird von Cybèle in eine Pinie verwandelt und ausgiebig betrauert.

Nachdem die betont minimalistische Bühne der jungen französischen bildenden Künstlerin, Performerin, Bildhauerin und Videografin Prune Nourry davor nur durch eine leicht wandelbare Mauer aus riesigen Quadern einen martialischen Hintergrund erhielt, dem auch die phantasievollen Kostüme von Jeanne Vicérial entsprachen, dominiert in den letzten Szenen florales Schwarz Weiß, das auf Wurzelwerk und die finale Metamorphose von Atys voraus weist. Dass dessen Körper dann allerdings gen Schnürboden entschwebt, ist in der Übertreibung vielleicht ein Ausgleich für sein aus dem sonst höchst geschmackvollen Rahmen fallendes Jogginghosen-Outfit.

Der Charme der Inszenierung besteht aber in ihrer insgesamt überzeugenden und stimmigen minimalistischen Opulenz, die viel Raum dafür lässt, die Musik zur Bewegung werden zu lassen. Die singenden Protagonisten werden von tanzenden Alter Egos gedoubelt. Eine unmittelbar der Musik abgelauschte Bewegungschoreographie des fabelhaften 18köpfigen Ballet du Grand Théâtre de Genève und ein halbes Dutzend weiterer Protagonisten in 15 kleineren Rollen ergänzen das Personaltableau. Bewusst verzichtet Preljcaj auf eine Unterteilung in eine getanzte und eine gesungene Geschichte. Die Tänzer singen zwar nicht, aber die Sänger sind allemal imponierend in den tanzenden Ausdruck der Gefühle eingebunden. 

Der US-amerikanische Tenor Matthew Newlin (Atys) ist der Mann zwischen der mezzoberedten Giuseppa Bridelli, der als Cybèle ebenso eine Herrscherattitüde zu Gebote steht, so wie sie auch in der Wut noch die verletzte Frau durchscheinen zu lassen vermag. Auf der anderen Seite muss sich auch Sopranistin Ana Quintans als Sangaride neben der gefühlvoll liebenden eine kämpferische Seite zulegen. Bassbariton Andreas Wolf schließlich darf als der sowohl vom Freund als auch von der Braut hintergangene Célénus mit markanter Eloquenz seine Enttäuschung zelebrieren. 

Dem Grand Théâtre de Genève ist mit dieser Produktion ein vom Premierenpublikum einhellig bejubeltes Gesamtkunstwerk der französischen Art gelungen. Vor Beginn der Vorstellung war es für Aviel Cahn ein Anliegen, mit Vehemenz Solidarität mit der Ukraine zu bekunden. Auf Schweizer Neutralität unter allen Umständen behaarte nur ein Zwischenrufer.

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