Ein flüchtiger Lufthauch bebildert von Beginn an eine Musik, in deren klangesteuerter Szenerie, die an filmmusikalische Sequenzen erinnert und griechische Landschaften, kleine Täler und tiefe Felsschluchten, zerstörte antike Tempel, Statuen und alte Dörfer zeigt, die Mythen der Antike den Status der Wiederauferstehung besetzen. Scheinbar im Ungefähren verortet sich ein Klangbild und illustriert ein königliches Areal an der Ostküste des Schwarzen Meeres.
Die verhalten erscheinende, in sich selbst ruhende Klanggeschichte erzählt von Medea, der Tochter des Königs Aietes von Kolchis, die etwas von Zauberei versteht und aus Liebe zum Argonauten Jason das von Aietes gehütete Goldene Vlies der Heldentruppe aushändigt. Medea flieht mit den Männern, heiratet Jason und hinterlässt eine Blutspur, indem sie mehrere Menschen ihrer Umgebung ermordet, erneut flieht und in Athen König Aigeus heiratet. Durch diese Heirat wird sie zur Stiefmutter von Theseus, dem sie in einem Konflikt aber nicht gewachsen ist. Sie verlässt erneut ihren Aufenthaltsort in Richtung Asien.
Wie sich dieser antike Stoff aus dem Geist und der Feder des Euripides, der die Tragödie erstmals 431 vor Christus als Bühnenstoff konzipierte, als Soundgeschichte, als Klangereignis entwickelte und breiten Zugang in die gegenwärtige Kultur erlangte, zeigt aktuell das von Eleni Karaindrou für das „Athens and Epidaurus Festival 2011“ komponierte musiktheatralische Werk. Als zeitgenössische Replik auf eine mystische Geschichte verkörpert die Musik eine dem Humanismus und der Aufklärung verpflichtete Versprechung: Erkenntnisgewinn durch Klang. Eleni Karaindrou konzipierte griechische Begegnungen mit orientalischer Soundsprache, wiedergeborene archaische Klänge im Gewand folkloristischer, volksnaher Musik. Die Wiederholungen des Hauptmotivs – wie alle anderen „Songs“ dargestellt mit teils exotischen Instrumenten wie die Konstantinopellaute und die Lyra, die arabische Längsflöte Ney oder das griechische Saiteninstrument Santouri – erscheinen wie das Statements eines Rufers, der stets von neuem mit kleinen Erweiterungen den Fortgang der Geschichte erzählt.
Der „Medea“-Stoff existiert seit Euripides' Version in vielen Bearbeitungen. Als während seines Direktoriums von 1795 bis 1799 der Antikenkult wieder aufflammte, komponierte Luigi Cherubini seiner Oper „Médée“ (1797). Etwa einhundertvierzig Jahre später benutzte Darius Milhaud den antiken Stoff für seine Oper „Médée“ (1939) und beschrieb darin den quälenden Seelenzustand der hauptsächlich Handelnden in diversen musikalischen Themen. Das handelnde Personal dieser griechischen Sage – von Medea und Jason über Creon bis Aegeus – besetzt auch bei Eleni Karaindrou die Rahmenhandlung. Die Komponistin arbeitete den Stoff auch sprachlich aus, indem sie die lyrischen Texte des Euripides, die Giorgos Cheimonas in eine moderne griechische Form adaptierte, als erzählenden Strang benutzte. Karaindrous Gesangsstimme ist etwa in den beiden „Medea“-Klagen zu hören. Bis zum finalen „Silence“ beschäftigen sich die letzten vier Stücke mit dem Ende der Tragödie, das mit Verzweiflung und Tod einhergeht.
„Was bleibt nach einem Auftritt? Der Nachhall seiner Erinnerung. Der Zusammenstoß mit der Poesie, dem Regisseur, mit den Stimmen, Charakteren und Gesichtern, Bewegungen, Farben, Gefühlen,“ schreibt Eleni Karaindrou im Begleittext zur CD. Ihr Statement beschreibt punktgenau die Verinnerlichung eines antiken Stoffes, der den Blick zurück nimmt vom aktuellen Tagesgeschehen hin in eine Zeit, die der unsrigen in Bezug auf fehlgeleitete Gesellschaftserscheinungen und individuelle Defizite ziemlich ähnlich ist.