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Foto: © Vincent Pontet
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Baustellen-Party mit Glamour: Palazetto Bru Zane spielt die rekonstrierte Urfassung von Offenbachs „Pariser Leben“

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In einer Aufführungsserie an französischen Theatern präsentiert Palazetto Bru Zane, das Zentrum für französische Musik der Romantik, Jacques Offenbachs Opéra-bouffe „Pariser Leben“ in der rekonstruierten Fassung vor Freigabe durch die Zensur zur Uraufführung im Pariser Théatre des Variétés 1866. Roland H. Dippel war bei der Premiere im Pariser Théâtre des Champs-Élysées am 21. Dezember 2021 dabei und hält die musikalische Leistung für weitaus gelungener als die Inszenierung, Bühne und Kostüme von Christian Lacroix. Die Produktion wurde von arte aufgezeichnet.

Da wunderten und freuten sich Paris-Besucher nach dem Vierten Advent 2021: „Paris scintille“ („Paris leuchtet“) auf dem Weihnachtsmarkt am Jardin des Tuileries – ohne Impfnachweise zum dichten Drängeln. Das rote, silberne, goldene Leuchten geht weiter auf den Champs Elysées und den Straßen hinunter zur Seine. Für die Premiere von Jacques Offenbachs „La Vie Parisienne“ am 21. Dezember gab es im Théâtre des Champs-Élysées das ausverkaufte Platzangebot von 100% für 3G und Maskenpflicht mit Ausnahme der wenigen Stehtische des stark eingeschränkten Barbetriebs. Bis zur Pause perlte der Applaus, versiegte in den von mehreren musikalischen Unbekannten unterbrochenen Dialogpassagen des vierten Aktes und explodierte am Ende. Die bis zum 9. Januar 2022 laufende Serie folgt Aufführungen in der Opéra de Rouen Normandie und in der Opéra de Tours seit November.

Schon Jean-Christophe Keck hatte eine kritische Edition von „Pariser Leben“ herausgebracht (Erstaufführung Stockholm 2001). Diese enthält die Aufführungsversionen von Paris 1866 und 1873, Brüssel 1867 und der deutschsprachigen Aufführung in Wien 1867. Dagegen liefert die bei der jetzigen Aufführungsserie erstmals gespielte Neuedition von Palazetto Bru Zane die Fassung vor Probenbeginn zur Uraufführung im Théatre des Variétés am 31. Oktober 1866. Es handelt sich um die in einem in der Bibliothèque Nationale de France gefundenen Noten-Konvolut folgende Rekonstruktion. Wichtigste Quelle war das Particell der Streicherstimmen für den dirigierenden Konzertmeister sowie Stimmen mit dem originalen Text Ludovic Halévys und Henri Meilhacs vor der Zensurfreigabe, dazu viele kleinere Übergänge und Modifikationen. Wesentliche Veränderungen bis zur Uraufführung betrafen die gestrichene Partie des Urbain sowie gefährlich lange Dialoge im vierten und fünften Akt. Die Liste von Palazetto Bru Zane unterscheidet nicht zwischen selten aufgeführten und neu entdeckten Musiknummern. Zu letzteren gehören die ursprüngliche Gestalt des zweiten Finales, im dritten Akt die Arie des Urbain „C’est ainsi, moi, que je voudrais mourir“, das militärische Terzett „Rien ne vaut un bon diplomate“ im Stil der analogen Nummer aus „Die schöne Helena“ sowie mehrere Melodramen, ein Terzett und ein Quartett im vierten Aufzug. Spätere Fassungen beabsichtigten offenbar eine straffere Dynamik Richtung Ende und die damit einhergehende Konzentration auf die pikanten bis platten Abenteuer der Baronin und den Barons Gondremarck bei ihrem vorzeitig abgebrochenen Paris-Besuch.

Glanzpunkt der Premiere am 21. Dezember war die fulminante Leistung von Les Musiciens du Louvre unter dem Offenbachs Esprit phänomenal einfangenden Romain Dumas. Der Klang hat Witz, Esprit und Verve. Die tiefen Streicher wirkten auffallend akzentuiert. Das Orchester gab dem Abend die bei Offenbach so wichtige Signifikanz und Pointensicherheit. In seiner Gesamtverantwortung für Regie, Bühne und Kostüme erachtete Star-Couturier Christian Lacroix dekorative Augenfälligkeit, Outfits und Ambientes für bedeutsamer als ein theatral und musikalisch kohärentes Tempo. Gerechtfertigt war das allenfalls im Chargieren von Ingrid Perruche (Madame de Quimper-Karadec) und Caroline Meng (Madame de Folle-Verdure), die sich von einem dialogischen Knallbonbon zum nächsten mopsten. Während spätere Fassungen von Offenbachs Opéra-bouffe durch verknappte Dialoge und die damit einhergehende Konzentration auf die Musiknummern ‚operettiger‘ wirken, bewegt sich die Urfassung eher in der Offenheit zwischen Lustspiel, Vaudeville und Operette. Sogar bei diesem Gipfeltreffen von Spezialisten erweist sich die komplexe Balance zwischen Wort und Ton, zwischen Kalauer und Musik als schwierig. Der Abend bestätigt einmal mehr, dass die Anforderungen und die Ansprüche beim intensiven Ringen um „authentischen Offenbach“ äußerst hoch sind.

Ganz viel Zeit ließ sich Lacroix im Ausstellen von viel Belle-Époque, etwas Vintage-Gegenwart und wenig Zweitem Kaiserreich, erst recht bei der Präsentation seiner hochklassigen Kostüme. Alle Paris-Klischees verrührte er in einer Manege, wo sich Spezifikationen von Boudoir-, Bordell- und Mode-Sehnsüchten auflösen. Am Bahnhof herrscht im ersten Akt neben Passanten- auch heftiger Baustellenbetrieb mit Rohren und Wellblech à la Centre Pompidou. Die Handschuhmacherin Gabrielle und der Schuhmacher Frick tragen, was deren Duett nahelegen würde, nicht elsässische Trachten, sondern luxurierende Textilgebilde, mit denen Lacroix betuchte Edelklientel für Champagner-Empfänge rüstet. Ankleidende und schminkende Heerscharen halten den prallen Mischmasch am Rotieren.

Die Aufführung gerät auch zum Triumph feinster Materialien. Im Gegensatz zu den Myriaden nackter Frauen in der Foyer-Ausstattung des Théâtre des Champs-Élysées sind die Protagonistinnen unterhalb ihrer freien Schultern von ganzen Stoffbahnen begraben. Details verschwinden im Dauerorgasmus der Farben – so die subtile Gestaltung der Lebemänner Bobinet (Marc Mauillon) und Gardefeu (Rodolphe Briand), die sich im Wettstreit erotischer Routiniers auszustechen versuchen und zugleich umwerben. Schneidernd reflektiert Lacroix Wunschfiktionen über die Seine-Metropole. Seine Kostüme intonieren das tausendstimmige Kauderwelsch eleganter und vulgärer Phantasien.

Das betrifft auch die drei zentralen Frauenfiguren. Die derzeit stark gefragte Jodie Devos (Gabrielle), Sandrine Buendia (La Baronne Christine de Gondremarck) und Aude Extrémo (Kurtisane Métella) sind gleichwertig ausstaffierte Laufsteg-Models mit moussierenden Gesangsqualitäten. Stil zählt mehr als vokale Individualität. Das Ensemble zeigt darstellerische Homogenität und delikates Dialog-Gebaren, was allzu grobe Akzente der Personenregie ausbügelt. Ganz im Sinne Offenbachs überwiegt beim Gesang zum Glück die musikalische Feinarbeit. Unter den Mitwirkenden findet sich mit Eric Huchet in gleich zwei wichtigen Partien (Le Brésilien und Frick) sowie des Gontran ein exponierter Könner des Genres. Huchet zeichnet sich mit ebenso großer Bescheidenheit aus wie Laurent Kubla in der wieder eingefügten Partie des Urbain. Riesenapplaus gab es für Franck Leguérinel als Baron Gondremarck, dessen rauschend graue Haarwelle und Zwirbelbart einen wirklich feinen Darsteller überkleben.

Am Ende ist der Jubel groß. Gegen die in den Werkstätten der Opéra Royal de Wallonie-Liège angefertigten Dekorationen und Kostüme behauptet sich Romain Dumas am Pult mit bezaubernder Plastizität. Auch der Choeur de Chambre de Namur glänzt und spart nicht an passenden Grobheiten. Mit genrespezifischer Frivolität präsentiert der Choreograph Glyslein Lefever schlanke Männer und andere Geschlechter mit Tüll, Spitze und Boas. So wird Offenbach zum durch musikwissenschaftliche Akribie veredelten Porträt einer Spaßgesellschaft, bei dem die Musik weitaus schlauer ist als die Szene.

 

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