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Foto: Anna Brotánková
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Befragung des Körpergedächtnisses. „The Body Memory Opera“ im Berliner Theater im Delphi

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Als „zeitgenössische Oper über die Erinnerungen, die unsere Körper in sich tragen und von denen sie getragen werden“ wurde die Produktion „The Body Memory Opera“ angekündigt. Am vergangenen Donnerstag erlebte die kooperativ erarbeitete Mischung aus unterschiedlichen Theaterformen im Rahmen des Monats der zeitgenössischen Musik im Berliner Theater im Delphi ihre Premiere.

Die Ausgangsfrage erscheint simpel: „Wenn wir alles auslöschen würden, was wir bisher wissen, woran würden wir uns dann erinnern?“ Das Nachdenken darüber offenbart komplexe Zusammenhänge: Selbst wenn ich in einer Amnesie das Wissen um meine Identität als Person verlieren sollte, bleiben Fähigkeiten wie Gehen oder Fahrradfahren erhalten. Und Neugeborene legen bestimmte Verhaltensmuster an den Tag, die darauf verweisen, dass der Mensch nicht aus dem Nichts geboren wird. Er und seine Umwelt sind vielmehr Teil einer weit zurückreichenden, sich in stetiger Bewegung und Entwicklung befindlichen Gen- und Evolutionskette. In den menschlichen Körpern stecken daher nicht nur die Erinnerungen persönlichen Erlebens, die Aneignung von Welt durch den individuellen Lebensvollzug, sondern auch die Summe aus Elementen eines langen evolutionären Weges. Und zugleich ist jeder Körper wiederum Zwischenstation und Sammelbecken von Eindrücken auf dem Weg in die Zukunft.

Das im Kollektiv von Sänger:innen (Marine Madelin, Sopran; David Ristau, Bariton; McKinley Moore, Jazz-Gesang), Tänzer:innen/Performer:innen (Martha Kröger, Faustino Blanchut, Angela Lamprianidou) und Musiker:innen (Franzi Aller, Gitarre, Kontrabass, e-Bass; Felix Demeyere, Schlagzeug) unter Regie von Selina Thüring erarbeitete Projekt „The Body Memory Opera“ mit Text von Debo Kötting und Musik von Juri de Marco spürte solchen Zusammenhängen nach.

Die Räumlichkeiten des Theaters im Delphi im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg erwiesen sich als idealer Spielort hierfür: Den kahlen Wänden des Zuschauerraums, in dem – pandemiebedingt – die Stühle weit verstreut waren, ließ den Eindruck eines Torsos aufkommen, gekrönt von einer als Schädel fungierenden offenen Bühne, über die, am Bühnenende hochgezogen, der liegende Vorhang gebreitet war, um von dieser Position aus immer wieder ins Spiel mit einbezogen zu werden. Spätestens in dem Moment, als sich Schlagzeuger Felix Demeyere daran machte, die auf den Torso reduzierten Bestandteile eines Knochengerippes zu traktieren, gewannen diese Assoziationen auch klangliche Signifikanz. Zugleich begann damit ein in mehreren Kapiteln ablaufender, humorvoll die Sprache wissenschaftlichen Dozierens aufgreifender Diskurs über den Körper und dessen Fähigkeiten.

Momente von Ironie und Reflexion

Von Anfang ging es dabei nicht nur um das, was der eigene Körper kann und erinnert, sondern auch darum, auf welche Weise das Gegenüber jeweils involviert ist. Mit anderen Worten: Es wurde die Frage danach gestellt, welche Körpercodes der zwischenmenschlichen Kommunikation zugrunde liegen und warum sie sich entschlüsseln lassen. Gerade das Nachdenken über diese Funktionsweisen des Körpergedächtnisses führte mitunter zu wunderbar komischen Momenten, die darauf verwiesen, wie stark bestimmte Wahrnehmungsarten mit spezifischen Körperbildern verschränkt sind. Schon der Prolog zielte in diese Richtung: Die von Madelin angestimmte Cavatina „Una voce poco fa“ aus Rossinis „Barbier von Sevilla“, von Kröger und Blanchut mit übertrieben graziösen Tanzbewegungen kommentiert, machte die extreme Künstlichkeit des Belcanto- und Tanzvokabulars zu Beginn des 19. Jahrhunderts deutlich und wurde in der Folge durch Auflösung in puppenartige Bewegungsverläufe und Loops ins Absurde überführt. Ein kurzes Medley aus Opernfragmenten und damit einhergehenden Bewegungstopoi führte später wiederum vor Augen, wie stark das – kulturell bedingte und auf die Operngeschichte bezogene – Erinnern von standardisierten emotionalen Situationen mit bestimmten musikalischen wie gestischen Klischees verknüpft ist.

Neben solchen ironischen Augenblicken führte das montageartige Mit- und Gegeneinander von Tanz, Bewegung, Gesang, Sprache und (teils improvisierten) Musik-Einsprengseln auch Extremsituationen vor Augen: Der Nachvollzug von Erinnerungsprozessen bei Trauma-Symptomen, der körperliche Kontrollverlust durch so unterschiedliche Ursachen wie Lachen und Fallen, das ans Publikum gerichtete quasi-gymnastische Gestikulieren oder das behagliche Anlehnen von Bariton Ristau und Kontrabassistin Aller an die mit „low-tech“-Kassenrekorderklang zugespielten Klängen von Schuberts „Forellenquintett“ ließen auf unterschiedliche Weise erahnen, wie stark der Körper auf der Bühne die Wahrnehmung leitet und Ausgangspunkt für eine emotionale Deutung der Ereignisse sein kann. Und immer wieder kam das Geschehen auch in scharf ausgeleuchteten Ruhepunkten (Lichtdesign: Tilman Agueras) oder im Wabern von die Konturen der Agierenden verschleiernden Trockeneisschleiern zur Ruhe.

Auch wenn der Abend insgesamt sehr unterhaltsam war und zum Nachdenken anregte: Nicht immer ging das, was auf der Bühne geschah, restlos auf. Das lag einmal daran, dass es gelegentlich eine Weile dauerte, bis sich das Ensemble gerade nach Momenten des konzentrierten Stillstands wieder gefangen hatte. Es lag aber auch an dem, was dann als doch zu simple erscheinendes Gegenbild am Ende herausgearbeitet und der im Prolog ausgestellten Künstlichkeit und Distanz als Kontrast gegenübergestellt würde: die intensive körperliche Nähe und ins Erotische spielende Berührung aller Mitwirkenden unter der Klangglocke von Moores samtig-rauen Jazz-Vocals.

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