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Marisol Montalvo als „American Lulu“ an der Komischen Oper. Foto: Iko Freese/drama-berlin.de
Marisol Montalvo als „American Lulu“ an der Komischen Oper. Foto: Iko Freese/drama-berlin.de
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Berg-Paraphrasen: Uraufführung von Olga Neuwirths „American Lulu“ an der Komischen Oper Berlin

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Was seit dem Anbruch des Regietheaters den Regisseuren recht ist, die Handlung in ihren Inszenierungen an andere Orte und in eine andere Zeit zu verlegen, dies ist Olga Neuwirth in ihrer vierten Oper billig: angeregt durch Otto Premingers Film „Carmen Jones“, einer freien Adaption von Bizets „Carmen“, verlegte die 1968 in Graz geborene Komponistin Alban Bergs Opernhandlung in ihrer Paraphrase ins New Orleans der Fünfziger- und ins New York der Siebzigerjahre.

Bergs Integration von Jazzelementen als Bühnenmusik dominiert nunmehr in den von Neuwirth neu instrumentierten, drastisch verkürzten ersten beiden Akten, wie auch im textlich und kompositorisch völlig neu gefassten dritten Akt. Der pausenlose, knapp 150-minütige Opernabend „American Lulu“ erntete in der Komischen Oper Berlin einhelligen, wenn auch nicht überschwänglichen Zuspruch. Die erstmals an der Komischen Oper nicht in Landessprache erfolgende Premiere ist eine Koproduktion mit The London Opera Group. Die Rückübersetzungen auf der Übertitelungsanlage schaffen eine größere Entfremdung vom Wedekindschen Original als die Übersetzungen dieser Texte durch Catherine Kerkhoff-Saxon ins Englische.

Konzeptionsbedingt zu Schwarzen geworden sind in Olga Neuwirths Fassung Lulu, wie auch ihr Vater Schigolch, der nun Clarence heißt, und die lesbische Gräfin Geschwitz, aufgewertet zur musikalisch dominanten Bluessängerin Eleanor, und mit deutlichem Bezug zur afroamerikanischen Swing-Legende Billie Holiday. Aus Dr. Schön wurde nun der stets von Bodyguards begleitete Zeitungsmogul Dr. Bloom, aus dessen komponierendem Sohn Alwa der junge Jimmy. Der Maler Schwarz wird zum namenlosen Fotografen, sein Bild zu einem tanzenden Lulu-Double. Auch der Athlet Rodrigo verliert den Namen, erhält aber drei Muskelmänner beigeordnet. Der Prinz wird zum Polizeipräsidenten und der Medizinalrat zum Professor. Die Nachricht von der Revolution in Paris mutiert zur Meldung über die Wasserstoffbombe, von der Komponistin charakterisiert durch ein col legno der in ihr Jazzensemble integrierten Streicher (ohne die bei Berg verwendeten Trichter!).

Da die Cholera-Episode entfällt, dient sich die lesbische Eleanor dem Staatsanwalt an und erreicht (in der Filmhandlung des Zwischenspiels) Lulus Freilassung durch eigene Erniedrigung. In New York von Lulu zurückgestoßen („Ich halte diesen romantischen Scheiß nicht aus!“), thematisiert sie Lulus Narzissmus, vergisst dann ihre große Liebe und geht.

Anstelle des Prologs des Tierbändigers, der jüngst auch in der Produktion der Staatsoper Berlin gestrichen war, tritt ein mikrofonverstärktes Gespräch zwischen Lulu und Clarence (vormals Schigolch) in New York; melodramatisch begleitet wird es von einer eingespielten Calliope, einem dampfbetriebenen Tasteninstrument mit Pfeifen. Als Rückblende folgt sodann die Handlung der ersten beiden Akte, wobei zwischen die Szenen Ansprachen von Martin Luther King und Gedichte der afroamerikanischen Lyrikerin June Jordan geschnitten sind. Allerdings sind die Ansprachen nicht im Original zu erleben, sondern von Sprechern nachproduziert. Die US-amerikanischen Protestbewegungen der 60er- und 70er-Jahre, hier zur Grundlage der verlagerten Handlungsebene erhoben, bleiben Beiwerk.

Wie zuvor schon in den „Lulu“-Bearbeitungen durch Eberhard Kloke und David Robert Coleman, ist das Paris-Bild des dritten Aktes gestrichen. Die neue Handlung des 25-minütigen Schlussaktes – mit Lulu als politisch einflussreicher Lebedame im Schmelztiegel der Macht, zwischen 12 einflussreichen Männern auf Barhockern, darunter dem aus Paris nach New York verlagerten Bankier (Hans-Peter Scheidegger) – bringt nur noch marginale Berg-Zitate.

Die spezifisch Neuwirthsche Tonsprache, mit schwebenden Tonflächen und flirrendem Flageolett, bietet im Schlussakt wenig Spannung und auch – außer einem sich aus Bergs Todesakkordfolge lösenden Ragtime und den Soul-Phasen der Eleanor – wenig musikalisch Faszinierendes. Ein letzter Orchesterschlag steht für Lulus unaufgeklärten, anonymen Mord. Denn Neuwirths American Lulu stirbt nicht durch Jack the Ripper, als dem Widergänger von Schön/Bloom. Eine letzte Projektion zeigt die New Yorker Luxushure nackt, mit Exkrementen überhäuft.

Der auch für die Ausstattung verantwortliche Regisseur Kirill Serebrennikov operiert mit einem monochrom grauen, verfahrbaren Raum à la Hopper. Der auch als Filmer bekannte russische Regisseur setzt bei seiner ersten deutschen Inszenierung Filme ein, in denen er Animation und Filmsequenzen der animierenden Darsteller(innen) mischt. Am besten gelungen ist ihm der Film zu Bergs spiegelförmigem Zwischenspiel im zweiten Akt, absolut synchron zur Musik, denn die wurde von Steven Waidhof und Steven Beck auf einer Mississippi-Morton-Wonder-Orgel vorproduziert. Die Briefszene im zweiten Akt, der dem Liebhaber abgerungene Abschiedsbriefs an seine Verlobte, gerät zur Luftnummer, wenn Dr. Bloom diesen vor sich ins Leere schreibt.

Vergleichsweise ausführlich erfolgt in Neuwirths Fassung die verbale Abrechnung Lulus mit ihrem Gemahl. Von Clarence geohrfeigt und von Lulu in die Genitalien getreten, darf Bloom sich doch in einem Koitus mit der viel begehrten Gattin verbluten. Claudio Otelli, vielfältig als Dr. Schön erfahren, gestaltet die Partie auch in dieser neuen Version souverän und bisweilen witzig. Szenisch verschenkt ist hingegen die Partie des Athleten durch seine Doubles, wodurch das Berlin-Debüt des vielseitigen Bass-Buffos Philipp Meierhöfer eher farblos bleibt.

Della Miles intoniert die Soul-Sätze der Eleanor in reizvoller Reibung zum Opernstil ihrer Kollegen. Jacques-Greg Belobo ist ein all zu junger Erdgeist. Beachtlich die Tenöre Dmitry Golovnin als kraftvoll singender Maler und Rolf Romei als Jimmy mit natürlichem Schmelz.

Am Ende des New York-Bildes hält Serebrennikov dem Publikum eine Spiegelwand vor; an deren Lamellen rüttelt Lulu, versetzt sie optisch in Schwingung. Die Titelrolle, die hier vor ihrem Gatten zufällig schon einen Anderen erschießt, wird von Marisol Montalvo stimmlich und darstellerisch überzeugend interpretiert; deutlich kommt der Sopranistin dabei zugute, dass sie die Lulu schon wiederholt verkörpert hat; auch in Berlin obsiegt Montalvo mit ihrer in Basel mit Calixto Bieito erarbeiteten Einheit von sexuell geschärfter Körperlichkeit und Tonentfaltung.

Mit einschlägiger Jazz-Erfahrung sorgt Olga Neuwiths Komponistenkollege Johannes Kalitzke als Dirigent des Orchesters  der Komischen Oper Berlin für die Betonung der U-Momente in dieser durchaus gekonnten Mischung: im 27-köpfigen Jazzensemble tritt die Melodiestruktur zumeist deutlicher hervor als bei Berg, und repetierende Jazz-Figuren gewinnen gegen Gesetze der Dodekaphonie.

Das Publikum – darunter auch der selten in Opernaufführungen anzutreffende regierende Bürgermeister Wowereit – spendete den Leistungen aller Beteiligten und der Komponistin nach Ende der Uraufführung wohlwollenden Applaus.

Weitere Aufführungen: 6., 10. Oktober, 6., 17. November 2012, 30. Juni 2013.

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