Hauptbild
Mitmusiker Nikolaus Herdieckerhoff. Foto: Hufner
Mitmusiker Nikolaus Herdieckerhoff. Foto: Hufner
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Berliner Kinder-Bande für das Gute – „Emil und die Detektive" im Atze Musiktheater Berlin

Publikationsdatum
Body

Den vor 87 Jahren von Erich Kästner als Roman veröffentlichten Kinder-Krimi „Emil und die Detektive" bearbeitete Atze-Theaterleiter Thomas Sutter als ein heutiges Singspiel mit zeitgemäßem politischem Bezug und setzte ihn selbst wirkungsvoll in Szene.

Das nun seit bereits 30 Jahren die jungen und jüngsten Theaterbesucher fokussierende Atze Musiktheater im Wedding hat Erich Kästners Werke wiederholt dramatisiert. „Das doppelte Lottchen“, ebenfalls im Spielplan, liegt auch in einer eigenen, im Theater vertriebenen Einspielung der 21 Musiknummern auf CD vor. Die Handlung von „Emil und die Detektive“ hat Thomas Sutter dahingehend aktualisiert, dass Emil nun ein 1973 in Frankfurt/Main geborener Sprayer ist, der die Reise zu seiner an Alzheimer leidenden Großmutter in Berlin als Flucht vor der heimischen Polizei nimmt – und darum auch die polizeiliche Anzeige des Diebstahls unterlässt. 

Überzeugend ist der Einsatz der Musik in dieser Uraufführung: drei Instrumentalisten bedienen Akkordeon, Keyboard und Cello, das auch einmal seitlings wie eine Gitarre gespielt wird, sowie – als unaufdringliches Schlagwerk – Urdu, Djembe und Darbuka. Mit kleinen bis mittelgroßen Rollen sind die drei Instrumentalisten (Doro Gehr, „Schmidty“ Schmidt und Nikolaus Herdieckerhoff) in die Handlung integriert, wobei die Übergänge zwischen ihnen und den singenden Darstellern, die selbst auch einmal zu Charango oder Gitarre greifen, fließend sind.

Bei der Probenarbeit entstanden die Kompositionen von Sinem Altan, teils als Zwischenspiele, teils als Ensembles oder die Handlung vorantreibende Lieder. Bei der Aufführung unsichtbar, hat die mit dem europäischen Komponistenpreis 2015 ausgezeichnete türkische Komponistin die musikalische Leitung inne.

Stück-Autor Sutter hat den ins Ohr gehenden Titelsong selbst geschrieben. Der hat nur einen Fehler: ihn singt, ziemlich am Anfang der mit einer Pause gut 2½-stündigen Aufführung, der Verbrecher Grundeis, bevor er Emil auf der Zugfahrt von Neustadt nach Berlin-Hauptbahnhof in Hypnose versetzt und beklaut. Erst gegen Ende der Handlung vokalisieren dann auch die Kinder „Berlin ist eine Stadt. Ungeheuer“, mit neuem Text. Wiedererkennbarkeit ist gegeben, aber leider fehlt eine denkbare Zwischenstation, in der Emil die Informationen in Grundeis’ Song über Berlin aufgrund seiner eigenen Erfahrungen umformuliert und sich den Titelsong zueigen macht.

Vom intensiven Probenprozess zeugt präzise differenziertes Spiel mit quasi filmischer instrumentaler Geräuschebene, wobei insbesondere das Cello kuriose Laute, bis hin zum Bewegen des Daumens im Polizei-Stempelkissen generiert.

Sutter hat Kästners personenreiche Handlung auf insgesamt zehn junge Darsteller_innen komprimiert, die allesamt mehrere Rollen verkörpern. Ein besonderer Coup der Produktion ist (jeweils für zwei Wochen) die Integration einer Grundschulklasse in die Handlung. Diese „echten“ Kinder (in der Premiere waren dies 20 Kinder der Klasse 5A der Grundschule am Tempelhofer Feld) verfolgen den Dieb im zweiten Teil, umzingeln ihn – und singen sogar mehrstimmig.

Jochen G. Hochfeld hat ein auf den ersten Blick sehr klobiges Bühnenbild mit einer Extremschränke gebaut, das sich jedoch im Laufe des Spiels für die besondere Präsentationsform der Geschichte einlöst: die Grundplatten können zur Seite geschoben werden, und aus allen Löchern tauchen Emils neu gewonnene, hilfreiche Freunde der Berliner Kinder-Bande für das Gute auf.

Außer dem Koffer des Verbrechers und Emils drei Einhundert-Euro-Scheinen, sowie seiner am Ende die Identifizierung ermöglichenden großen Sicherheitsnadel, mit welcher er die Geldscheine in seiner Jacke befestigt hatte, verzichtet die Inszenierung weitgehend auf Requisiten.

Durch Einfrieren der Handlungsebenen erfolgen im ersten Akt rasche Szenenschnitte zwischen Neustadt – mit Emil (Iljá Pletner) und seiner Mutter (Tanja Watoro) – und Berlin – mit Emils Cousine Pony Hütchen (Olivia Meyer Montero) und ihrer Großmutter (Nina Lorck-Schlerning). Der Denker der jungen Kinder-Bande, der den Spitznamen „Professor“ trägt agiert als Stummer ausschließlich mit Zeichensprache, gleichwohl singt Mathieu Pelletier in den Ensemblesätzen fleißig mit. Der bei aller Körperfülle überaus quirlige farbige Darsteller des Gustav mit der Hupe, Aciel Martinez Pól, erzeugt sogar das Geräusch der schrillen Hupe mit seiner Stimme.

Witzig, mit choreografischer Präzision beim heimlichen Einsatz von Hypnose, verkörpert der Bassist Folke Paulsen den gesuchten Bankräuber Grundeis, dem erst am Ende, von den Kindern überführt, – um eine seit 1760 verwendete Redewendung zu zitieren – der „Arsch auf Grundeis geht“.

Neben dem gegenüber Kästners Original verstärkten Einsatz weiblicher Darsteller, besteht der Neuansatz des Bearbeiters darin, dass die Kinder ihr Vorgehen reflektieren. Sie diskutieren etwa darüber, dass Unrecht kein probates Mittel gegen Unrecht darstellt. Geteilte Meinungen bei Pädagogen wird wohl Utters Schlusswendung auslösen: der Vorschlag der Polizisten, Emil seine Anti-Nazi-Sprayer-Aktion auf den Mauern des Neustädter Rathauses selbst übermalen zu lassen, ihm dann aber einen Preis für seinen Mut als Sprayer politischer Botschaften zu verleihen.

Das Singspiel „Emil und die Detektive“ soll in dieser Saison 40 Aufführungen erleben und auch in die kommenden Spielzeiten übernommen werden. Der Besuch lohnt sich.

Nächste Aufführungen: 10., 11., 12., 14., 26., 28. Januar, 1., 2., 4., 26., 27., 28. Februar, 1. März, 2., 3., 4., 5. 9., 11., 12. April 2017.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!