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Foto: Rüdiger Böhme
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Brennpunkt-Phantasie mit Humperdinck: „Hänsel und Gretel“ in Brandenburg

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Nichts ist so schwer wie das Jahr nach dem exponierten Jubiläum eines Publikumsmagnets. Kaum ein Theater erdreistete sich, Engelbert Humperdincks unverwüstliche Märchenoper als Hommage-Beitrag zu dessen 100. Todestag zu präsentieren. Die beiden Titelfiguren übernachten – derart von den Eltern für ihre Frechheit gestraft – im Wald. Deshalb ist eine Aufführung zur Erdbeerzeit gegen alle Weihnachtsopernrituale genau richtig. In Frank Martin Widmaiers Inszenierung am Brandenburger Theater sind die Geschwister frühreife Früchtchen am unteren Ende des Turbokapitalismus. Schaurig hübsch und treffsicher.

Corona hatte Schuld an der Verschiebung der letzten Eigenproduktion des Brandenburger Theaters unter der künstlerischen Leitung Frank Martin Widmaier. Zu den bislang kaum theateraffinen Brandenburger Symphonikern (nach Stand vom 24. Mai noch immer ohne Chefdirigent und Orchesterdirektion) engagierte dieser eine Jungschar hochbegabter Solist:innen an das Bespieltheater ohne eigene Ensembles. Für die Lebkuchenkinder versicherte er sich der Mitwirkung der Evangelischen Grundschule sowie der Chorklassen des Evangelischen Domgymnasiums (Leitung: Richard Manthey).

Aber eigentlich ist Engelbert Humperdincks wagnerndes Märchenspiel, in das seine Schwester Adelheid Wette einige Freudsche Sexualkalauer wie die Anleitung zum Besenreiten dazu gedichtet hatte, ein Kammerspiel. Der Hexenbesen leuchtet am Brandenburger Theater wie eitel Gold und die Edeltastatur, auf der die Hexe Konsumträume herbei- und entzaubert. Neben Sopran, Tenor und gereiftem Countertenor kam man auf ein passgenaues Casting für den fingerleckenden Rosine Leckermaul (male). Der Musicaldarsteller Chris Murray springt von der Titelfigur „Jesus Christ Superstar“ in die Paradepartie der Knusperhaus-Diva, welche ihre Lustzonen gleichermaßen auf Kinderlein und Brandenburger Plattenbauten als zukünftiges Renditeparadies ausdehnt. Widmaiers Abschiedsgeschenk ans Brandenburger Theater gerät zur fragmentarischen Enzyklopädie heutigen Lebens mit der Tagseite von Prekariat und nächtlicher Wunschträume von der „Einen Welt“ mit gemeisterter Klimakatastrophe.

Auf sein Publikum kann er sich verlassen, obwohl der Verzicht auf Lebkuchenhaus und die Kannibal:innen-Backröhre für Hänsel und Gretel, die prototypischen Kälber aus arteigener Fleischwirtschaft, fehlen. Die sonst so wichtigen Accessoires muss man aber nicht vermissen. Dafür gehen drei stumme Tiere – Hund, Rabe, Fuchs – durchs Geschehen und machen noch da auf Märchenpantomime, wo alles Märchenhafte längst aufhört. Dafür kommt recht unspezifisches Publikum ins Theater: Junge Menschen, die für Jugendtheater zu alt sind und zu jung, um als Eltern durchzugehen. Aber auch Nanny-Bestager, die man kaum noch mit anachronistischen Koseformen Oma und Opa identifizieren kann. Das Aufbrechen klassischer Zielgruppenschichtungen ist Widmaier also gelungen.

Der ukrainische Dirigent Artem Lonhinov fordert vom Orchester, insbesondere den vital autonomen Bläsern, einen unsentimental-frischen Sound. Dieser berückende, fast sportive Abschied von Wagner-Murmeln und Volkslied-Säuseln passt zu den Stimmen. Rahel Brede als Hänsel ist mit hohem Format partienkompatibel. Kristin E Mantyla sollte mit der dramatischen Partie der Mutter noch etwas warten, macht dafür ihre Sache als von Putzjobs und pädagogischer Überforderung gegerbte Frau großartig. Elena Bechter ist in den komplizierten Glitzerregionen des Insektizide sprühenden Taumännchens ideal. Artur Garbas singt die meist unterschlagenen Tücken der Partie von Peter dem Besenbinder – hier mit Küchenmaschine statt Besen – fulminant durch. In erster Reihe agiert auch Anna Maria Schmidt. Mit unerschöpflichem Resonanz- und Farbreichtum nimmt sie die Schwierigkeitshürden der zu oft unterschätzten Gretel-Partie im Sturm. Bei diesem Ensemble hört und sieht man schon etwas vom Katastrophenkitzel, wie ihn wenige Jahre nach der „Hänsel und Gretel“-Uraufführung in Weimar 1893 fast alle Wagner-Epigonen mit bizarren Opernszenarien visionieren sollten.

Fivos Theodosakis (Bühne), Tilmann Rödiger (Video) und Erwin Bode (Kostüm) arbeiteten für die nur sechs Vorstellungen im einigen Kreativitätsgeiste. Während der Hörnerklänge zu Gottes Hand in höchster Not im Vorspiel beginnen sie mit einem Video, das von der Brandenburger Tourismusgesellschaft stammen könnte. Zumindest in den ersten 100 Sekunden. Die Kamera schwebt dahin über Wälder und Auen der frühlingsfrischen Mark und dann in die goldbraun verklärte Brandenburger Altstadt. Aber dort hält sie noch immer nicht, sondern erst vor einem Balkon in den oberen Etagen eines aschgrauen Plattenbaus. Die durchgesessene Couch und die Spanplatten-Küche erzählen so viel wie eine ganze Staffel Dokusoap. Gretel durch praktizierte Online-Schminktipps und im Zebra-Mini, Hänsel mit einem kleinen Joint und beide in fast inzestuöser Balgerei bringen viel Bewegung und Farbe ins Bild. Statt Socken-Stopfen und Besenbinden geht es um die alltäglichen Minidramen der Hausaufgaben- und Hausarbeit-Verweigerung. Jede Bewegung bringt die „Kinder“ der Wolke Sieben am Influencer- und Raver-Himmel von Instagram näher. Dazu fügen sich Robin Poells exzellente Tanz-Basiskenntnisse im Fridays-for-Future-Ringelreihen für Humperdincks Engelspantomime und Willi Händlers analytische Stückkenntnis bestens. Die sieben glorreichen Männer des Produktionsteams wissen pfeilscharf, dass so etwas in die sinnfällig vorgeführten Verheißungen eines gewaltigen Konsumrauschs U18 münden muss. Objektiv zeigt man auch die Gegenseite. Der Territorialanspruch des Hexers mit Heino-Perücke und Dieter-Bohlen-Anzug macht nicht an der Autobahn-Ausfahrt Kleinmachnow Halt, sondern schlingert zielstrebig weiter in die zu kolonisierenden Ödfelder von Brandenburg und Bad Belzig. Identitär und dezent abgestürzt zeigen sich demzufolge der Berliner Westen und die schöne Mark Brandenburg unter Humperdincks feinen Klangzaubereien. Deutschland zur Erdbeerzeit mit musikalischen Glücksfontänen, dazu „Hänsel und Gretel“ als Regionalmärchen mit Wahrheitsanspruch – das sitzt am Brandenburger Theater stimmig und gepfeffert.

  • Besuchte Vorstellung: Mo 23. Mai 2022, 18:00 (sechs Vorstellungen vom 6. bis 24. Mai) im Brandenburger Theater

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