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„Don Giovanni“ in Lyon. Foto: © Jean-Pierre Maurin
„Don Giovanni“ in Lyon. Foto: © Jean-Pierre Maurin
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Das Don Giovanni-Syndrom – David Martons Version von Mozarts „Don Giovanni“ in Lyon

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Dieses Spielzeitfinale passt gut zu Serge Dorny und der Oper in Lyon: „Don Giovanni“ in der Inszenierung von David Marton. Die Zuschauer, die dort in die Oper gehen und auch die Folgevorstellungen einer Premiere füllen, sind längst daran gewöhnt, dass sie etwas Bekanntes in einer neuen Sichtweise präsentiert bekommen. Mozarts „Don Giovanni“ trägt nicht nur das Bonmot von der „Oper der Opern“ vor sich her, sondern gehört tatsächlich zum Kernbestand der populären Mozart-Opern. Also des Genres überhaupt. In Lyon ist das eine spannende Angelegenheit.

Nicht, weil dort die Weltstars aufmarschieren. Diesem Vergnügen (oder Geschäft) kann sich Dorny widmen, wenn er mit der Spielzeit 2021/22 als Nachfolger von Nikolaus Bachler die Leitung der Bayerischen Staatsoper in München übernimmt, um dort als Saisonabschluss den Juli über die Opernfestspiele als große Leistungsschau eines großen Hauses zu zelebrieren. Im Stagione-Haus in Lyon geht das nicht. Oder nur ansatzweise mit einem kleinen Festival, das mit programmatischer Originalität alljährlich überregional auf sich aufmerksam macht. Ansonsten braucht es hier die Spürnase eines cleveren Opernmanagers für Talente und Trends, um aufzufallen.

In Lyon gereiftes Regietalent

Der 1975 in Ungarn geborene Regisseur David Marton ist so ein Talent. Mit seiner Vorliebe für Projekte im Grenzbereich zwischen Schauspiel und Oper hat er sich schon früh als eigensinniger Opernfreund erwiesen. Er hat seinen Zugang zur Königsdisziplin der Gesamtkunstwerke hintenherum, über die kleine Form, den eigensinnig theatralischen Zugang gesucht. Auf diesem Weg ist er beispielsweise bei Wagners „Rheingold“, Bellinis „Sonnambula" oder eben auch Mozarts „Don Giovanni“ gelandet. Seine Volksbühnen-Schule merkte man ihm dabei deutlich an. Man konnte diese Projekte mögen oder nicht – in Lyon jedenfalls hat er dann ausgerechnet mit „Capriccio“ von Richard Strauss verblüfft. Denn er hat dieses sperrige, um die Oper selbst kreisende Stück überraschend spannend und sinnlich in der großen Form auf die Bühne gebracht. Es folgten Glucks „Orpheé et Eurydice" und Berlioz‘ „La Damnation de Faust“.

Jetzt konnte er als letzte große Produktion dieses Jahres seinem experimentellen „Don Giovanni.Keine Pause“ von 2009 einen „richtigen“ „Don Giovanni“ nachfolgen lassen.

Don Giovanni – ein Fall für den Psychiater?

Und der hat es in sich. Vor allem, weil sein Don Giovanni nicht mehr ganz bei sich ist. Der junge Mann (der er in Gestalt des höchstpräsenten Kanadiers Philippe Sly wirklich ist) hat ein ernsthaftes psychisches Problem. Er kann zwar immer noch den Verführer spielen – das das berühmte „Là ci darem la mano" („Reich mit die Hand, mein Leben“), mit dem Don Giovanni Zerlina an ihrem Hochzeitstag anmacht, hat man kaum mit so viel knisterndem Sexappeal (und obendrein für ihn erfolgreich) auf der Bühne gesehen wie diesmal. Aber wenn er zum großen Fest einlädt, wird daraus eine Express-Wahnsinns-Arie, nach deren letztem Ton es ihn um. Er liegt auf seinem Bett, als wäre er ins Koma gefallen.

Als er mit seiner Kanzone versucht, eine Schöne am Fenster anzusingen und zu verführen, dann singt er diesmal – ohne, dass man ein Gegenüber irgendwo vermuten würde – gegen die graue Betonwand oder die große, runde Öffnung zur Welt da draußen. Christian Friedländers Bühne ist ein trister Betonbau mit Bunkeranmutung. Es gibt noch weitere Löcher – eins davon ist in der Decke. Aus der fällt während der Kanzone „Deh, vieni, alla finestra“ zuerst ein Lichtkegel, auf den einsamen, traurigen Sänger und dann gehen von dort geraffte Gardinen herunter, die ihn umhüllen und für uns gänzlich unsichtbar machen. Darauf folgt eine von mehreren Unterbrechungen der Musik. Diesmal aber nicht für das kalte Fauchen eines Windes oder die Geräusche von fahrenden Autos, sondern für eine lange, französisch gesprochene Passage aus Thomas Melles Roman „Die Welt im Rücken“. Diese Quellenangabe und der Auftritt von Masetto als Arzt (Piotr Micinski) und von Zerlina (Yuka Yanagihara) in Schwesternkittel lassen ahnen, worum es in dieser gesprochenen Passage geht. Wenn Masetto zu ihm vordringt, das heißt hinter diese Gardine tritt, dann wird er von Don Giovanni (an der Stelle, an der das jeder Don Giovanni macht) zusammengeschlagen. Nur diesmal aus anderen Gründen.

Spurensuche in der Kindheit

Vom Problem des Titelhelden ahnen wir schon etwas bevor alles beginnt. Wir können ihn gleichsam in der Gestalt des jungen Teenagers, der im Pyjama immer wieder auftaucht, erahnen. Noch vor dem ersten Ton, versucht eine erwachsene Frau ihn zu verführen. Dann taucht er an Stelle des Komturs auf. Attila Juns donnernde Stimme ist lediglich aus dem Off zu vernehmen. Am Ende reicht er ihm gleichsam rituell das Rasiermesser, mit dem er sich die Pulsadern aufschneidet, um in den Armen Leporellos zu sterben. Zwischendurch taucht er immer wieder wie ein Geist auf, und sieht zu, wenn die „Erwachsenen“ daran gehen, ihr Reden von Sex in die Tat umsetzen. Diese Imaginationen, also Don Giovannis krankhafte Verarbeitung von Wirklichkeit, sind das eine. Auf dieser Ebene wird das „Viva La Libertà" zu einer bewussten Flucht Giovannis aus der Welt in einen Wahnsinn, der ihn schützt. So wie er sich ins Exzentrische davon macht. Wie in jedem guten französischen Film, in dem sich Ehepaare zum Essen treffen und es dann bald kracht, kommen hier Giovanni und Elvira zu Ottavio und Anna zu einem Essen, bei dem er erst friedlich mit am Tisch sitzt, plötzlich ausflippt und theatralisch sein Hemd auszieht.

Ein Freund an seiner Seite

Diese Art von kranker Imagination kreuzt sich mit einer erinnernden Vergegenwärtigung der Geschichte von Leporello. Denn der setzt als Spielführer gleich zu Beginn diese Folge der surreal ablaufenden Erinnerungsszenen eigentlich erst in Gang. In einer wohnzimmerähnlichen Ecke der Bühne fängt er an Schallplatten (dreimal darf man raten, welche!) zu hören, während Don Giovanni malade und abwesend im Himmelbett mitten im Raum liegt. Hier taucht Donna Elvira (in Don Giovannis Wahrnehmung gleich vierfach und in Gestalt von Antoinette Dennefeld hochschwanger) auf. Anstelle des Verzeichnisses der verführten Frauen, zeigt ihr Leporello zur Registerarie seine Sammlung eingespielter Plattenaufnahmen. Kyle Ketelsen ist in dieser Rolle der Sympathieträger, kümmert sich um den (offensichtlich) Freund, kann ihm aber nicht mehr helfen. Für den ist diese Welt ein Ort der Überforderung, der Kälte und der Einsamkeit.

Marton überblendet diese Ebenen der Imagination oder lässt sie ineinander übergehen. Ist Leporello mit dem Register durch, dann marschieren alle möglichen Frauen aus verschiedenen Epochen zu einem Gruppenbild auf und übernehmen in der nächsten Szene aus dem Stand den Part der Hochzeitsgesellschaft.

Don Ottavios Giovanni-Problem

Schließlich bleibt der Fall Don Ottavio. Julien Behr agiert in dieser Rolle (vokal wohltuend, ohne süßliches Schmachten) von Anfang an als Ehemann von Donna Anna und hat in dieser Rolle ein eigenes, ziemlich ausgewachsenes Giovanni-Problem. Bei seiner ersten großen Arie sieht er sich selbst als Don Giovanni in sein eigenes Ehebett steigen und mit Donna Anna verschwinden. Wenn die ihm dann in ihren großen Arien die Geschichte auftischt, wie sie von einem Mann im Schlafzimmer besucht wurde, den sie für ihn gehalten hat, blättert der völlig uninteressiert weiter seine Illustrierte durch. Während Donna Anna (mit loderndernder Wucht: Eleonora Brutto) ihre letzte große Arie singt, sitzt sie im Kreise einer immer größer werdenden, sie umringenden Familie. Ottavio geht seinen Geschäften nach, altert dabei sichtbar und entfremdet sich immer mehr von Anna. Die aber lebt offensichtlich in und von der Erinnerung an die Begegnung mit Don Giovanni. Am Ende verlässt sie Ottavio nach vielen Jahren doch in Freiheit.

Das ist alles ziemlich starker Tobak und keine Erzählung von A nach B. Mit eigenwilligen Eingriffen durchsetzt und mit so vielen Einfällen gewürzt, dass es für mehrere Inszenierungen reichen würde. Aber diese szenische Machart und die musikalische Lesart ziehen in ihren Bann, wenn man nicht auf jeder einzelnen Note besteht. Stefano Montanari bewährt sich hier als ein origineller Interpret, der den Sängern im Zweifel den Vortritt lässt und trotz der Unterbrechungen des musikalischen Ablaufs den Zusammenhang wahrt.

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