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Pionier der historischen Aufführungspraxis - Nikolaus Harnoncourt ist tot. Foto: Sony Classical
Pionier der historischen Aufführungspraxis – Nikolaus Harnoncourt ist tot. Foto: Sony Classical
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Das Präzisions-Genie – Am 5. März verstarb Nikolaus Harnoncourt mit 86 Jahren

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Bereits am 15. Dezember 2015 hatte Nikolaus Harnoncourt in einem offenen Brief mitgeteilt, dass er seine musikalischen und künstlerischen Aktivitäten beenden wird. In den Jahren davor hatte er seine Energien auf die styriarte in Graz und Leitungen des von ihm gegründeten concentus musicus fokussiert. Jetzt ist Nikolaus Harnoncourt am 5. März 2016 verstorben, wie seine Frau Alice aus der Steiermark mitteilte.

Harnoncourt hatte in seinem Leben eine gigantische Repertoirespanne durcharbeitet, durchlebt und belebt. Dabei gibt es – so scheint es – unter den ernsthaften Musikenthusiasten ebenso viele, die nach anderweitigen Experienzien sich von ihm mit Pausen immer wieder in Bann schlagen ließen wie langjährige Anhänger, die ihn auf all seinen Musiktheater- und Konzert-Abenteuern von Monteverdi über Mozart bis zu Johann Strauß und Offenbach begleiteten. Musikhören war in seinen Aufführungen immer wieder Entdecken von Neuem im scheinbar Vertrauten: Selten mit Provokation, immer mit Nachdruck und nie mit Sensationsgetümmel.

Als Angehöriger des österreichischen Adels wurde Nikolaus Harnoncourt am 6. Dezember 1929 in Berlin geboren und wuchs in Graz unter wohlhabenden Lebensumständen auf. Vor den Schrecken im Zweiten Weltkrieg floh die Familie nach Grundlsee im Salzkammergut. Dort kam er in Kontakt mit Paul Grümmer, einem Mitglied des Busch-Quartetts, der nach Anfangsunterricht bei Hans Kortschak in Graz die Cello-Fertigkeiten Harnoncourts perfektionierte.

1947 begann Harnoncourt sein Studium an der Wiener Musikakademie Emanuel Brabec, schloss 1952 mit Auszeichnungen ab und wurde bereits im Herbst Cellist bei den Wiener Symphonikern unter Herbert von Karajan, wo er bis 1969 blieb. Sein 1949 mit Eduard Melkus, Alfred Altenburger und seiner späteren Frau Alice Hoffelner gegründetes Wiener Gamben-Quartett stand am Beginn zur Beschäftigung mit authentischen Spieltechniken und Interpretationen Alter Musik. 1953 folgte mit seiner Frau die Gründung des Concentus Musicus Wien, der mit Bach-Oratorien und dem ersten Monteverdi-Zyklus am Anfang der Originalklang-Bewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand.

In seinen Schriften entwickelte Harnoncourt, der von 1973 bis zu seiner Pensionierung 1993 Harnoncourt als Professor an der Hochschule Mozarteum in Salzburg Aufführungspraxis und historische Instrumentenkunde unterrichtete, eine detaillierte Grammatik der musikalischen Beredsamkeit, der er selbst sich mit gewaltiger Disziplin verschrieb.

Ein „Nerd“ der Klassik-Szene war er nicht nur durch sein Beharren auf der Funktion von „Musik als Klangrede“, sondern auch durch seine Definition von Alter Musik, die für ihn bis 1900 reichte. Wesentliche Stationen und Kontinuitäten seines reichen Künstlerlebens waren die Wiener Sinfoniker, die Oper Zürich, das Concertgebouw Orchester Amsterdam, auch die Berliner Philharmoniker und die Styriarte als künstlerische und menschliche Heimat der letzten Jahre. Die Künstler, denen er Entscheidendes vermittelte an Farben, Durchdringung und Intensität sind Legion – unter ihnen Thomas Hampson, Edita Gruberová, Elisabeth Kulman und so viele andere, begonnen bei seiner Gattin Alice, die für ihn als Mutter der gemeinsamen vier Kinder und Violinistin eine über Jahrzehnte stabilisierende Gefährtin und musikalische Interaktivistin war.

Die folgende Beispiele von Glücksmomenten sind bewusst subjektiv, es gibt noch viele andere in über 400 Aufnahmen und theoretischen Dokumenten: Mit manchen Werken verband ihn eine Lebensgemeinschaft, wie etwa mit Mozarts „Idomeneo“, dem er sich fast dreißig Jahre nach seiner Ersteinspielung mit Werner Hollweg erneut auseinandersetzte. Damals versetzte seine Auslegung der verdichtet-expressiven Orchesterrezitative die Fachwelt in helle Begeisterung, erst durch Harnoncourt wurde dieses Werk in seiner überbordenden Reichhaltigkeit ganz und gebührend rehabilitiert. Und dann gab es Überraschungen wie Webers „Freischütz“, wo er den Mut zu einer ganz lyrischen Besetzung hatte, wo dem absichtsvoll angerauten blutjungen Endrik Wottrich die Fährnisse der Wolfsschlucht und dunklen Mächte nicht durch Lautstärke und Blow-up, sondern in den filigranen Verästelungen der verdichteten Orchesterdynamik dräuen. Keinem Ännchen wurden in der zweiten Arie je wieder solche Viola-Girlanden zuteil wie Dorothea Röschmann. Etwas von diesem Idiom zog Harnoncourt dann auch in den von ihm endlich in der Originalfassung rekonstruierten „Zigeunerbaron“, der vom deftigen Letscho-Schnitzel zu einem Pörkölt à la Gundel wurde, einer Melange aus Dialog-Comique, Singspiel und haschiertem Geschichtspanorama.

Man kann es für die damalige musikalische Gegenwart und die Nachwelt als Segen betrachten, dass Nikolaus Harnoncourt Anfang der 1980er mit seinen Barock-Affirmationen stellenweise unter Beschuss geriet. Damals – im Generationenwechsel zwischen ihm, dem barocken Pionier, und dem breiten Durchbruch von I Musici, John Eliot Gardiner und anderen – sagte man ihm z. B. etwa bei Händels „Hercules“ in München starren Akademismus nach. Da hatte Harnoncourt schon seine neuen Repertoire-Fährten gelegt und setzte in Zürich alsbald mit einem Streich frei, was es mit Mozarts frühen Opern „Lucio Silla“ und „La finta giardiniera“ tatsächlich auf sich hat – als Replik auf den eher akademisch-fleißigen Mozarteum-Zyklus Leopold Hagers. Harnoncourts Reise führte ihn dann sogar konsequenterweise zu einer wunderbar präzisierten „Verkauften Braut“ (ganz gegen den internationalen Standard in deutscher Sprache) bei der Styriarte 2011 oder einige Jahre früher aberwitzig und komödiantisch zu Offenbachs „Blaubart“.

Diese Genauigkeit ohne herkömmliche Topoi einer Klangfaktur in den Kontrasten üppig/schlank oder extrovertiert/vergeistigt macht auch seine Einspielungen von Haydn-Messen und -Opern – „Armida“, „Orfeo ed Euridice“ mit Cecilia Bartoli – so wunderbar. Lust, Sinnlichkeit und Präzision wurden unter seinen Händen, Gesten, Akzenten zu einer „unerhörten Vielfalt von Musik“.

Die Musikwelt erleidet einen gigantischen Verlust an Können, Wissen, Präzision und ästhetischer Redlichkeit.

 

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